Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

55.

Mit Tagesanbruch rief ich meinen Sohn, um mir Nachricht über Gertruden zu geben. Er sagte mir, daß Gertrud gegen zwei Uhr, von Müdigkeit besiegt und in der Besorgniß, der Schlaf möchte sie überraschen, die Thür ein wenig geöffnet und ihn gebeten hätte, einige Augenblicke bei ihr zu verweilen, und daß, da sie sich absichtlich des Gesprächs mit ihm enthalten, nachdem er in das Zimmer getreten war, sie kurz darauf in dem Lehnsessel eingeschlummert wäre. Gertrud sei dann, nach etwa einer halben Stunde, wie durch die Wirkung eines beängstigenden Traumes aus dem Schlummer erweckt, emporgefahren und hätte sich in einer Art von Geistesverwirrung dem Ausbruch einer glühenden Verzweiflung überlassen. Hier allein hätte er sich ihr genähert, um ihr Trost einzuflößen, indem er ihr bald das traurige Schicksal vorhielt, dem Rosa in dieser Welt anheimgefallen wäre, bald das Glück, dessen sie sich jetzt im Himmel erfreute. Endlich hätten sie sich weiter unterhalten bis gegen die ersten Vorboten der Morgendämmerung; dann hätte ihn Gertrud, ehe er sie verließ, an das Bett der Todten geführt, damit er noch ein letztesmal ihre Freundin sähe und sich mit ihr der stillen Heiterkeit erfreute, die über die Züge derselben ausgebreitet lag.

Sobald ich aufgestanden war, ging ich daran, den Eltern Rosa's zu schreiben, um ihnen die traurige Nachricht von dem Tode ihres Kindes anzukündigen. Indem ich ihnen diesen Tod und die Ursachen, die ihn beschleunigt hatten, als die Wirkungen eines zufälligen unglücklichen Ereignisses darstellte, nahm ich diese Gelegenheit wahr, sie darüber zu belehren, daß mich Rosa in nichts, was sie selbst betraf, je im geringsten getäuscht hätte; daß, wenn ich auch in der That ganz vor kurzem zu halben Enthüllungen gelangt wäre, die mich dahin brächten, an der Gültigkeit ihrer Ehe zu zweifeln, sie selbst doch, Dank dem Himmel! aus dieser Welt gegangen wäre, ohne daß ein einziger dieser Zweifel ihre Seele berührte; sie habe ganz im Gegentheil von selbst und ohne anzustehn die strengen Aeußerungen, die sich in den Briefen der Ihrigen fänden, sich so ausgelegt, als bezögen sie sich ausschließlich nur auf das Vergehn, worüber sie sich unaufhörlich Vorwürfe gemacht hätte, nämlich, daß sie sich ohne ihre Beistimmung und Theilnahme habe verheiraten können. Diesen Bemerkungen fügte ich dann noch Einzelnheiten über Umstände bei ihrem Sterben und über die erbauliche und christliche Ergebung in ihren letzten Lebensaugenblicken hinzu. Dann schloß ich mit Tröstungen, denen ich insbesondere eine solche Wendung gab, daß sie der armen Mutter Dienste leisten sollten. Als ich den Brief geendigt hatte, ging ich, ihn Gertrud lesen zu lassen, welche ganz und gar die Weise der Abfassung billigte, so daß ich ihn meinem Sohn übergab, um ihn in den Briefkasten zu stecken.

Unterdessen hatte sich das Gerücht von Rosa's Tod mit großer Schnelligkeit in der Nachbarschaft verbreitet und auf das boshafte Geschwätz der Klatscherei folgten plötzlich Theilnahme, Mitleiden und Neugierde voll anständigen Wohlwollens. So hatte ich denn bald vom Morgen dieses Tages ab Besuch auf Besuch von meinen angesehensten Pfarrkindern zu empfangen und mit Verlegenheit, sogar von Seiten derjenigen, die sie noch unlängst getadelt hatten, das übermäßige Lob meiner gegen die arme Rosa bewiesenen Christenliebe anzuhören. Da ich dieser unbedachten Wechselfälle enthusiastischen Mitgefühls gewohnt bin, so war ich nur darauf bedacht, mich vor dem Herrn bei so vielen leichtgeäußerten Lobeserhebungen und unverdienten Ruhmesbeweisen zu demüthigen. Aber ich hatte auch die Freude, den Besuch von einigen Schlichtgesinnten meiner Heerde zu erhalten, von solchen, welche, ebenso frei von hartnäckigen Vorurtheilen wie von schlimmer Beurtheilungsweise, ihren Hirten ohne weiteres als einen Arbeiter im Weinberge ansehen, und ihm mit Einfalt Vertrauen in seine Bemühungen und gute Hoffnung für seine Absichten zu bezeigen wissen. Der Oheim jenes jungen Mädchens, welches mir mit Schluchzen gefolgt war, als ich von der Marie wegging, kam auch. Ich erfuhr von ihm, daß seine Nichte, nachdem sie in redlicher Weise mit den Lasterhaften gebrochen hatte, sich wieder etwas in gutem Rufe herzustellen begann, und daß er darauf rechne, noch ehe ein oder zwei Monate vergangen wären, sie seinen andern Arbeiterinnen beigesellen zu dürfen, ohne daß diese daran ein Aergerniß nehmen könnten. Ich drückte ihm meine Freude über diesen Umstand aus und forderte ihn auf, dies Kind alle Wochen einmal zu mir zu schicken, damit ich ihr in der Durchführung ihrer guten Vorsätze behülflich sein könnte. Endlich sah ich auch am Nachmittage die gute Dame von Versoix ankommen, und indem ich mich ihrer, der armen Rosa so freiwillig und so großmüthig erwiesenen Menschenfreundlichkeit erinnerte, fühlte ich einen großen Trost, meinen Thränen mit den ihrigen gemeinschaftlich freien Lauf zu lassen. Sie wollte auch Gertrud sehen, welche ich von der Anwesenheit dieser Dame benachrichtigen ließ; und als ich sie bei derselben eingeführt hatte, lud diese sie ein, zu dem Sarg heranzutreten, den sie halb öffnete, damit sie noch einen Kuß auf das Antlitz ihrer Freundin drücken könne.

An diesem selben Tage kamen durch einen jener zusammentreffenden Umstände, die so gewöhnlich sind in den Wechselfällen dieser Welt, die Reisekoffer der Damen an. Sie waren auf meine Adresse von Zürich aus abgesandt worden. Ich ließ sie sogleich auf Gertrudens Zimmer bringen in der Voraussetzung, daß es besser wäre, den unvorbereiteten Eindruck, den sie bei dieser Wiedererstattung empfinden würde, zu wagen, während er sich jetzt noch mit andern, weit schmerzlicheren vermischte, als ihn auf Zeiten zu verschieben, wo er die schwer errungene Ruhe einer weniger beklagenswerthen Lage unterbräche. Sobald Gertrud in ihrem Besitze war, öffnete sie den einen, um daraus das Bildniß der Mutter Rosa's hervorzusuchen, und kaum hatte sie es gefunden, als sie mich bat, diese Koffer, deren Anblick sie mit Schauder erfüllte, wegbringen zu lassen und über alle darin enthaltenen Sachen zu Gunsten der Armen meines Sprengels zu verfügen, weil sie davon, so lange sie lebe, weder etwas tragen noch wiedersehen wolle. Sie ging darauf zum Sarg und legte das Bildniß Rosa auf das Herz, indem sie mir gestand, daß es ihr ein angenehmes Gefühl erweckte, sich unter dieser blos symbolischen Handlung die Wiederannäherung vorzustellen, nach der ihre Freundin so sehr verlangt hatte. – »Ich vereinige sie im Grabe«, fügte sie hinzu, indeß ihr Thränen über die Wangen rollten, »und keinen Tag werde ich verleben, ohne Gott zu bitten, daß er sie später im Himmel vereinige.« –

Gegen Abend brachte man mir die Nachricht, daß die Marie am Verscheiden wäre, und daß, wenn ich ihr noch meinen geistlichen Dienst in ihren letzten Augenblicken erweisen wolle, ich nicht zögern dürfe, mich zu ihr zu begeben. Auf diese Berufung machte ich mich sogleich auf den Weg. Sobald ich in ihr Gemach getreten war, entfernten sich diesmal die Frauenzimmer ohne meinen Befehl, und ich befand mich mit der Sterbenden ganz allein. – »Wohlan, mein Kind«, sagte ich zu ihr, »hat der Anfall des Uebels und die Nähe des Todes endlich deine Seele überwältigt und dein Herz gezwungen, Rechenschaft von ihren Wegen zu geben?« Auf diese Frage antwortete sie nur mit undeutlichen Tönen der Angst und mit Geberden, die von Geistesverwirrung zeugten. Dann ergriff sie, da ich aufrecht neben ihrem Kopfkissen stand, meinen Arm und krampfte sich mit Schrecken daran fest. Ich wollte sie dadurch zu beruhigen versuchen, daß ich für sie betete; aber gleich bei den ersten Worten unterbrach sie mich mit dem Ausruf: »Ist es denn wahr, daß Rosa todt ist?« – »Ja«, antwortete ich ihr. – Hierauf erhob sie ein furchtbares Geschrei, welches die Frauenzimmer aus dem Nebengemache wieder herbeizog, und ich wohnte in Gemeinschaft mit diesen dem jammervollsten Schauspiele bei, das man auf Erden antreffen kann, dem nämlich eines sich auflehnenden, sündenvollen Geschöpfes, das sich ohne Vorbereitung und ohne Hoffnung gegen den König der Schrecken wehrt.

Indessen wurden die Verzweiflungslaute immer schwächer und verloren sich bald in ein heiseres Röcheln. Und da ich erkannte, daß sie nahe am Verscheiden war, so sagte ich zu ihr: »Mein Kind, wende die letzten Minuten, die dir noch vergönnt sind, dazu an, um im Namen unseres Erlösers Jesu Christi dir Vergebung zu erflehen.« – Doch ohne auf diese Mahnung zu antworten, murmelte sie nur: »Judith, Judith!« – und eines der Frauenzimmer stürzte zu ihr hin: »Uebergib ihm ...« Hier erstarb die Stimme der Marie auf ihren Lippen, und sie verlor fast im selben Augenblicke das Bewußtsein. – »Was ist es«, fragte ich das Frauenzimmer, »was du mir zustellen sollst?« – Dieses führte mich hierauf in ein Nebengemach, wo es mir die Koffer des jungen Herrn zeigte, die dieser bei Gelegenheit seines letzten schnellen Aufbruchs hier schleunigst in Verwahrung gegeben hatte. Dann holte es aus einem Schrank ein Kästchen hervor und händigte mir dies mit den Worten ein: »Das ist hier, wovon mir Marie gestern Abend sagte, daß ich es Ihnen in dem Falle zustellen sollte, wenn es ausgemacht sei, daß die junge Dame gestorben wäre.« – Ich nahm dies Kästchen an mich und trug es mit mir nach Hause. Dort erwarteten mich Besuche; unter andern auch die einiger meiner Pfarrkinder, welche sich nach der bestimmten Zeit der Beerdigung erkundigen wollten, weil die Bewohner des Viertels, wie sie sagten, die Absicht hätten, die junge Dame zu geleiten, sowohl, um deren Gedächtniß zu ehren, als auch aus Achtung gegen mich selbst. Ich dankte ihnen für ihr Vorhaben und erwiederte ihnen, daß der Zug von meiner Wohnung aus um Punkt zwölf Uhr sich in Bewegung setzen würde.

Als ich mich endlich allein befand, öffnete ich das Kästchen. Es enthielt mehrere Pakete voll Briefe. Kaum hatte ich einige davon mit flüchtigem Blick durchlaufen, als das ganze Geheimniß von Rosa's Schicksal enthüllt vor mir lag. Ich schauderte vor Entsetzen und sagte Gott aus tiefstem Herzen Dank, daß er sie zu sich genommen hatte. Dann verschloß ich das Kästchen wieder und stellte es an einen sichern Ort, die Eröffnung dieser Briefe auf gelegenere Zeiten verschiebend, um darin die Spur und gleichsam von Tage zu Tage den Faden der Kunstgriffe und der Ruchlosigkeit zu verfolgen, welche, nachdem sie Rosa umgarnt und verderbt hatten, nahe daran waren, auch Gertrud zu umschlingen und sie endlich gewaltsam in den Abgrund zu ziehen.


 << zurück weiter >>