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33.

Als diese sich nach der Stadt zu in Gang gesetzt hatte, überließ sich Rosa von neuem der Verzweiflung, und Gertrud selbst konnte unter dem Eindruck dieser traurigen Rückkehr ihre Thränen nicht zurückhalten. – »Weinet, meine Kinder«, sagte ich zu ihnen, »weinet, da ihr endlich auf eine Rettung hättet rechnen können, die nun aufgeschoben ist; aber sobald diese ersten Ausbrüche der Traurigkeit dem Nachdenken gewichen sein werden, so wird diese Fehlrechnung selbst euch als Rettung erscheinen, und eure erkenntlichen Herzen werden sich zu Gott erheben, um ihm tausendfachen Dank dafür zu zollen.« – In dem Augenblick, als ich diese Worte beendete, hielt der Kutscher an, um Jemandem zu antworten, der ihm zurief, nachdem er schon an uns vorübergegangen war. Es war mein Sohn. Darüber beunruhigt, mich nicht wiederkommen zu sehen, hatte er den Entschluß gefaßt, mir entgegenzugehen, in der Absicht, daß, wenn er mich nicht eher angetroffen hätte, zu Coppet einen Wagen zu miethen und bis nach Lausanne zu fahren. Sobald wir ihn in die Kutsche hatten einsteigen lassen, drückte er beiden Damen gerührterweise die Hände, indem er ihnen seine lebhafte Freude darüber bezeigte, sie noch unter meinem Schutze zu finden. Und als ich ihm in kurzen Worten das, was unterdessen vorgegangen war, mitgetheilt hatte, benachrichtigte er mich seinerseits, daß gleich nach der Abreise des Barons und auf das Gerücht, welches sich verbreitet hatte, daß die Nichte der Millers beinah um ihre Forderung gekommen wäre, sich verschiedene Kaufleute mit ihren Rechnungen, ganz angefüllt von Einkäufen der Baronin, eingefunden hätten; daß es sich bei dieser Gelegenheit herausgestellt hätte, diese Baronin habe keinen Fuß in das Hotel gesetzt, in welchem der Baron allein am Sonntag Abend angekommen war; daß er endlich, da er nach der Post gegangen, um Leute dort zu befragen, in Erfahrung gebracht, daß der bewußte junge Herr in der That, nachdem er sich gestellt hatte, als wolle er den Weg nach Paris nehmen, indem er sich über Ferney fahren ließe, von dort plötzlich den Seitenweg über Versoix eingeschlagen und von hier seine Fahrt über Basel genommen hätte. – »Sobald ich Alles dies erfahren«, fügte mein Sohn hinzu, indem er sich an die Damen wandte, »machte ich mich auf, und hätte ich meinen Vater auf seiner Rückkehr ohne Sie getroffen, so würde ich mit seiner Erlaubniß und mit Hülfe einigen Geldes, das ich mir im Hotel zur Wage entliehen habe, bis an's Ende der Welt gegangen sein, um Sie aus den Händen dieses Entführers und seines schändlichen Mitschuldigen zu retten.« – Rosa, stets auf ihren Brief vertrauend, hörte wenig auf dieses Gespräch, während Gertrud, von nun an ganz ebenso sehr wie ich von den verbrecherischen Anschlägen des Barons überzeugt, meinem Sohne alle die Dankbarkeit zu erkennen gab, die sie für seine edelmüthige Aufopferung empfand.

Als etwas Seltsames bemerkte mein Sohn, bei Gelegenheit meiner Erzählung des Vorgegangenen, daß der Baron bei seiner Eile jedenfalls die Reisekoffer der Damen werde mitgenommen haben. Diese Bemerkung, die so viel andere Gedanken, mit denen ich beschäftigt war, mich hatten übersehen lassen, hatte die Folge, noch meine Unruhe zu vermehren, weil nun, da die Damen sich in dem vollkommensten Mangel an Allem befanden, es leicht sich ereignen konnte, daß die Millers nicht mehr auf die einfache Wahrscheinlichkeit der Hülfe, welche jene später von ihren Familien zu erwarten hatten, sie wieder bei sich einnehmen würden. Derselbe Grund würde ohne Zweifel auch verhindern, daß ich sie in irgend einem andern Hause unterbrächte. Und andrerseits war es auch durchaus unmöglich, daß ich daran denken konnte, sie bei mir aufzunehmen, theils wegen der Beschränktheit meiner Hülfsmittel, theils wegen der Kleinheit meiner Wohnung, die nur aus drei engen Gemächern bestand, welche auf einen Hof hinausgingen, endlich wegen des Unpassenden, zwei junge weibliche Personen in eine Wirthschaft ohne Frau einzuführen, wo sie sich in steter, unvermeidlicher Gesellschaft mit einem Jüngling von fünfundzwanzig Jahren befänden. Bei dieser Gelegenheit fühlte ich schwer den Nachtheil, arm zu sein. Ich habe zwar als Prediger über ziemlich beträchtliche Summen zu Gunsten der Bedürftigen meines Sprengels zu verfügen; aber mir würde es als eine strafbare Verletzung meiner Dienstpflicht vorkommen, wenn ich diese Gottespfennige zu Gunsten zweier fremden Damen verwenden wollte, da sie offenbar kein Recht darauf haben können, wenn man auf die Absicht der mildthätigen Personen sieht, die mir jene zur Verwahrung anvertraut hatten.

Bei einbrechender Nacht kamen wir vor dem Thore der Stadt an, von wo wir die Kutsche zurückschickten. Mein Sohn war vorausgegangen, um die Millers von der Rückkehr der Damen in Kenntniß zu setzen und sie zu bitten, daß sie sie wieder unter denselben Bedingungen, wie vorher, bei sich aufnähmen; aber er kam bald wieder mit der Nachricht zurück, daß die Millers nichts mehr von dergleichen hören wollten. Diese Nachricht bestürzte mich, während die beiden jungen Damen, die eine durch Schwäche, die andere durch Ermüdung erschöpft, meine Arme verlassen hatten, um sich, eine jede auf einem Prellsteine einer einsamen Straße, worin wir uns jetzt gerade befanden, auszuruhn; ich schritt auf und ab, ohne recht zu wissen, was ich beginnen sollte. – »Aber wir wollen doch sehen«, fing ich bald wieder an; »laßt uns zusammen zu den Millers gehen; es ist doch möglich, daß ich sie zur Nachgiebigkeit bewege; zum wenigsten werden sie wohl den Damen für diese Nacht Gastfreundschaft erzeigen, und morgen werde ich mehr Muße haben zu dem Versuche, sie wo anders unterzubringen.« – Wir setzten uns also wieder in Gang und erreichten endlich die Gefängnißstraße, deren verhaßtes Andenken in dem Maße, als wir uns ihr näherten, meinen beiden unglücklichen Gefährtinnen Thränen auspreßte. Von da zu den Millers hinaufgestiegen, erneuerte ich den Vorschlag, den ihnen mein Sohn schon gemacht hatte. – »Das führt zu nichts, Herr Prediger«, antworteten mir alle beide. – »Aber ich bürge euch dafür, daß ihr bezahlt werden sollt, ich biete euch sogar vierzehn Tage Vorausbezahlung an.« – »Das ist mir ziemlich gleich«, erwiederte Miller. »Auch sind wohl die Damen aller Welt schuldig, und es ist uns nicht viel daran gelegen, die Gerichtsdiener im Hause zu haben.« – Ich begriff, daß dies eine Anspielung darauf sein sollte, daß die kleinen Einkäufe, welche die Damen gemacht, durch den Baron nicht bezahlt worden wären, so daß sie sich von nun an dem ärgerlichen Ruf ausgesetzt sahen, zu dem die betrügerischen Schuldenmachereien der Baronin Veranlassung gaben.

»Nun gut, Miller«, fing ich wieder an; »erweiset mir wenigstens die Liebe, nur für diese Nacht den beiden Damen ein Lager zu geben, denn die eine, wie Ihr seht, ist blaß, leidend und unfähig, noch einen Schritt weiter zu gehn, da man ihr in Versoix zur Ader gelassen hat. Morgen werde ich bei guter Zeit mich umsehen, sie wo anders unterzubringen.« – »Nein, Herr Prediger; lieber wollen wir ihr Nachtlager im Gasthause bezahlen. Es gibt Leute, die man bei sich aufnimmt, und solche, die man nicht aufnimmt.« – Bei diesen Worten rief Rosa, die bei Seite gesessen hatte, aufspringend mit Unwillen aus: »Was wollen Sie damit sagen, erbärmlicher Mensch? Gehören Sie also auch zu der Zahl der Verächtlichen, die sich eine Freude daraus machen, uns mit Schmutz zu bewerfen?« ... Ich wollte dazwischen treten, aber Rosa bat mich mit dem Drängen des verachtendsten Abscheu's: »Fort, fort, Herr Bernier! Und wenn Niemand uns aufnehmen will, so lassen Sie uns lieber auf der Straße schlafen, als auch nur eine einzige Nacht noch in dieser abscheulichen Höhle zubringen!« – »Ihr seid sehr wenig menschenfreundlich«, sagte ich hierauf zu Miller, »und wenn es sich einst ereignen sollte, daß ihr in Unglück geriethet, wie das ja uns Allen begegnen kann, so möge euch der Himmel davor bewahren, auf so verhärtete Herzen zu stoßen, als es heute die eurigen sind!« ... Hierauf folgte ich Rosa, die mich nach der Thür hinzog, und wir befanden uns alsbald wieder auf der Straße.

Indessen war mein Sohn, der die beharrliche Weigerung der Millers voraussah, darauf ausgegangen, ein anderes Unterkommen für die Nacht auszukundschaften, so daß wir uns nicht zu entfernen wagten, in der Furcht, seine Rückkunft zu verfehlen. Nachdem wir also einige Zeit vor dem Hause gewartet hatten, setzten sich meine beiden Gefährtinnen auf die Stufen der Außentreppe, und ich selbst begab mich bis zur Ecke der nächsten Straße auf Entdeckung, als Gensd'armen, welche ihre erste Nachtrunde machten, weil sie zwei geschmückte Frauenspersonen zu dieser Stunde an diesem abgelegenen Orte sahen, an sie herankamen und sie fragten, wer sie wären und was sie da machten? Dann, als der Schrecken jene zu antworten verhinderte, sagten sie zu ihnen: »Sie werden uns folgen.« Auf den Angstschrei, den jene darauf ausstießen, kamen zwei oder drei Personen mit Lichtern dazu. Da aber keine von diesen geneigt schien, die Damen anzuerkennen, noch Bürgschaft für deren Verhältnisse und sittliche Haltung geben wollte, so waren die Gensd'armen schon im Begriff, sie mit sich fortzuführen, als ich herbeieilte. Unter jenen Personen befand sich die Frau Miller. – »Diese Frau«, sagte ich, indem ich sie den Gensd'armen bezeichnete, »kann bezeugen, daß diese Damen meine Freundinnen sind, und wenn Sie sie allein auf dieser Freitreppe angetroffen haben, so ist es, weil ich mich damit beschäftigte, ein Nachtquartier für sie zu suchen, in Ermangelung dessen, welches jene die Unmenschlichkeit gehabt hat, ihnen zu verweigern. Sie haben sich also geirrt, setzen Sie daher, ohne sich um uns zu kümmern, ganz ruhig ihre Runde fort.« – In diesem Augenblicke kam mein Sohn herbei, der schon von fern rief: »Ich habe ein Nachtlager für die Damen gefunden.« – Als die Gensd'armen diese Worte hörten, welche meine Aussage bestätigten, gingen sie ihres Weges, und wir wandten uns nach der Gegend, wohin mein Sohn uns führte. Nach einigen Biegungen traten wir, seiner Weisung folgend, bei Leuten ein, mit denen er soeben verhandelt hatte. Es war ein Herr und eine Dame, umgeben von ihren drei Kindern, und die mir beim ersten Anblick selbst so achtungswerth erschienen, als ihre Wohnung zugleich bequem und reinlich war. Sie hatten ein Zimmer zu vermiethen. Als sie aber zwei geputzte, sehr junge Damen ankommen sahen, ohne Eltern, ohne Sachen und ihnen obendrein von einem jungen, unbekannten Mann als Kostgängerinnen empfohlen, schienen sie mit dem Abschluß zu zögern; ja, nachdem ihnen das Dienstmädchen, die mit uns eingetreten war, einen Wink gegeben, erklärten sie, andrer Meinung geworden zu sein, da sie der Erwartung gewesen wären, ihr Zimmer an bejahrte Damen zu vermiethen, weil es nicht zu ihrem Familienleben passe, sich zu Gunsten so junger Personen in ihrer Wohnung zu beschränken. – »Nun wohlan! meine Kinder«, rief ich jetzt aus, »da es so steht, so laßt uns mit diesem selben Schritte zu mir gehen. Wo zwei gemächlich leben, da werden wohl vier bestehn können, und wenn es die Nothwendigkeit gebietet, so wird es wohl auch zugleich schicklich sein.« – Hierauf nahmen wir Abschied von jener Familie und erreichten gemeinschaftlich meine Wohnung.


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