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21.

Rosa blieb die ganze übrige Woche fortwährend krank, und ich erfuhr sogar, daß sie den Widerwillen, dessen ich erwähnte, hatte überwinden müssen, weil sie diesmal durchaus genöthigt war, das Bett zu hüten. Da ich beunruhigt darüber war, als ich sah, daß sich ihre Wiederherstellung nicht bewerkstelligen wollte, und ich übrigens immer mehr befürchtete, daß sich irgend geheime Ränke um sie und ihre Gefährtin anspinnen möchten: so ließ ich sie am Donnerstage ersuchen, mich zum Besuch anzunehmen, und begab mich, auf den Bescheid, daß sie für mich immer zugänglich sein würde, sogleich zu ihr, sobald meine Geschäfte mich frei ließen. Ich fand sie in der That zu Bette und so verändert, daß ich, ohne ihr jedoch mein ängstliches Erstaunen zu erkennen zu geben, ihr vorschlug, den Arzt kommen zu lassen. Beim ersten Worte, das ich in Betreff dessen äußerte, überflog ihr Gesicht eine lebhafte Röthe, und sie bat mich, es nicht zu thun. »Auch bin ich«, fügte sie ergriffen sogleich hinzu, »so entmuthigt und so unglücklich, daß dieses Leiden, indem es mich von meinen gewohnten Gedanken ablenkt, fast eine Wohlthat für mich ist.« Hierauf näherte sich ihr Gertrud, und als wollte sie, da sie kein Wort des Trostes zu bieten hatte, zum wenigsten den Kummer der Freundin durch die Wärme ihrer Freundschaftsbezeigungen lindern, überhäufte sie dieselbe mit zärtlichsten Liebkosungen.

Bei dieser Gelegenheit, wie in sehr vielen andern Fällen, bewunderte ich mit geheimem Mitgefühl, und dennoch nicht ohne eine Art von Schrecken, die enge und seltene Vertraulichkeit dieser beiden Freundinnen. Denn außerdem, daß ich wußte, es könne im Allgemeinen nicht vorteilhaft sein, wenn bei jungen Mädchen die gegenseitige Vertraulichkeit diejenige überwiegt, die eigentlich zwischen jeder von ihnen und ihrer Mutter stattfinden sollte: so wußte ich auch überdies schon genug von diesen armen Kindern, um zu ahnen, daß das, was sie zu dieser Vertraulichkeit stimmte, sogar die erste Ursache ihres Verderbens hatte sein müssen, indem es sie nach und nach der Aufsicht ihrer Eltern entzog und sie unmerklich die verführerischen Aufschwünge ihrer wechselseitigen Ueberspannung an die Stelle der hellsichtigen Wachsamkeit mütterlicher Liebe setzen ließ. Das, was mir nicht lange verborgen blieb, bestätigte mich in dieser Ansicht, deren Richtigkeit übrigens tausend andere Beispiele, welche die Welt alle Tage aufzeigt, darthun. – »Ich will Sie nicht belästigen, Rosa«, sagte ich zu ihr, »aber vielleicht würde es, in dem Zustande, worin ich Sie finde, eine Erquickung für Sie sein, nur die Geschichte Ihrer Verheiratung zu erzählen. Lassen Sie aber, ich bitte Sie, Gertrud sprechen, und wir wollen uns bestreben, uns so gelassen als möglich über eine Verbindung zu unterhalten, die, so tadelnswerth sie auch im Gesichtspunkt der kindlichen Ehrerbietung und Unterwerfung gewesen sein mag, doch nichtsdestoweniger gegenwärtig der einzige Hafen Ihrer Ehre und, wie ich hoffe, auch das Ufer ist, von wo aus Sie bald zu Ihren mit Ihnen ausgesöhnten und, Sie wieder zu sehen, glücklichen Familien werden auslaufen können.«

Hierauf begann Gertrud, neben dem Bette der Freundin sitzend und deren Hand in der ihrigen haltend, die Erzählung. Nachdem sie jedoch von ihrer beiderseitigen Kindheit, von ihrer Vereinigung, von den Schwüren gesprochen hatte, durch welche sie und Rosa von ihrer ersten Jugend an sich eine unauflösliche Freundschaft gelobt hatten, und sich nun allmälig dem Zeitpunkte näherte, wo die Liebe des Grafen und Rosa's begonnen hatte, ergriff diese unvermerkt das Wort. Und indem sie sich nach und nach belebte, gab sie mir, ohne daß ihre Schamhaftigkeit – so groß war die gesteigerte Lebhaftigkeit ihrer Mittheilung – sie ihre Bewegungen beachten und, wie gewöhnlich, die Decke bis über die Schultern heraufziehn ließ, das begeistertste Gemälde dieser Liebe und die ergreifendste Schilderung von den Gefühlen und den Tugenden des Grafen, und zuletzt von dem Glücke, das sie während vier Wochen des Zusammenseins an seiner Seite genossen hatte, das anziehendste und zugleich empfundenste Bild. Aus dieser Mittheilung, dessen Faden Gertrud bisweilen aufnahm, wenn Rosa, fast bis zur Ohnmacht erschöpft, in die Kissen zurücksank, ergab sich denn, daß der Graf, nachdem sein Heiratsantrag von den Eltern Rosa's zurückgewiesen worden war, Gertruden erklärt hatte, er werde einen so grausamen Schlag nicht überleben; daß von jetzt an die beiden Freundinnen ihn, ohne Wissen ihrer Eltern, zu trösten versucht hatten, indeß sie ihm nicht verbargen, daß Rosa selbst, in Wahrheit entschieden, sich dem Willen der Urheber ihres Lebens zu unterwerfen, im übrigen aber seine Gefühle für sie erwiedernd, den Entschluß gefaßt hatte, da sie nicht die Seinige werden durfte, wenigstens keinem Andern anzugehören; daß sich in Betreff dieses Gegenstandes in kurzem ein brieflicher Verkehr zwischen den beiden Freundinnen und dem Grafen, dessen Gesundheit, wie die ganze Stadt wußte, mehr und mehr wankend wurde, angesponnen hatte, und in diesen: Briefwechsel einige Monate später zwischen ihnen, und mit der vollsten Beistimmung Gertrudens, die Bedingungen einer geheimen Heirat verhandelt worden waren; daß am festgesetzten Tage, und nachdem Alles bei den bürgerlichen Gesetzesbehörden durch eine dem Grafen vertraute gerichtliche Person in Ordnung gebracht worden war, sie um zehn Uhr des Morgens, unter dem Vorwande, eine Landpartie zu machen, das väterliche Haus verlassen und sich nach Delmenhorst begeben hatten, um dort mit dem Grafen zusammenzutreffen und das Bündniß durch den Ortsprediger einsegnen zu lassen, der denn auch, nachdem er in ihrem Beisein die Prüfung der Echtheit aller Papiere, die sie sich von der bürgerlichen Gesetzesbehörde verschafft, vorgenommen, und als er sie bewährt gefunden, zur Vollziehung der Feier geschritten war; daß sie bald nach der feierlichen Handlung in die Kutsche des Grafen gestiegen waren, um die Reise zu unternehmen, die sie nach Genf geführt habe; daß der Graf hier die traurige Nachricht von dem Tode seines Vaters erhalten habe und genöthigt gewesen sei, sie in aller Eile zu verlassen, um nach Hamburg zu gehn, und daß ich von dieser unglücklichen Abreise an nun selbst das Weitere ihrer Geschichte wisse.

Wie man sich denken kann, machte dieser Bericht einen sehr peinlichen Eindruck auf mich. Doch da ich meine Vorwürfe von neulich nicht wiederholen wollte, so beschränkte ich mich darauf, einige Fragen über verschiedene einzelne Punkte zu thun, besonders über Umstände in der Erzählung, welche Unterschiede zwischen unseren bürgerlichen Einrichtungen hinsichtlich der Heiraten betrafen, und denen, welche in der Gegend gültig sind, wo diese Damen herstammten. Worauf ich zu ihnen sagte: »Ist das auch wirklich Alles so, meine lieben Kinder?« – Diese Frage versetzte sie in Betrübniß. – »Wenn ich darauf einen Nachdruck lege«, fügte ich hinzu, »so geschieht dies nicht deswegen, weil ich irgend ein Mißtrauen in Ihre Wahrhaftigkeit setze, und außerdem haben Sie mir genug von sich anvertraut, als daß ich Sie nicht für vollkommen aufrichtig halten sollte. Aber da ich herzlich wünsche, Ihnen mit Gottes Beistand erfolgreich helfen zu können, so ist mir im höchsten Grade daran gelegen, Ihre Lage durch und durch kennen zu lernen, und daß Sie aus Nichtbeachtung in dem Bericht, den Sie mir soeben abgestattet haben, nichts Wesentliches ausgelassen haben möchten.« – »Wir haben Alles erwähnt, guter Herr Bernier«, sagten beide in gemeinschaftlichem Eifer; »wir haben nichts vergessen, nichts übergangen, und unsere Geschichte ist Ihnen jetzt ebenso genau bekannt, als uns selbst,« – »Nun gut! es wird Ihnen zum Trost gereichen, sie mir vertraut zu haben, und es soll nicht an mir liegen, daß es Ihnen nicht auch zum Vortheil gereiche. Aber für heute will ich aufhören, Sie länger zu ermüden. Geben Sie mir die Hand; sein Sie vorsichtig; halten Sie die Vorhänge zu, weil man ja auch aus den Fenstern der Umgebung den Blick auf Ihr Zimmer hat, und sein Sie meines baldigsten Wiederbesuches versichert.« Hierauf verließ ich sie.

Gegen meine Erwartung und zum erstenmale traf ich Niemanden von den Millers in der Küche an, und wenn ich auch recht erfreut darüber war, ihren in der That noch weit mehr mich in Verlegenheit setzenden, als unbescheidenen Fragen dadurch zu entgehn: so beunruhigte mich doch ihre Abwesenheit, obgleich ich sie mir erklären konnte. Wo war jetzt eine Verhinderung, daß der junge Mann, der von seiner Dachstube aus alle Bewegungen der Familie Miller überwachen konnte, nicht einen solchen Augenblick benutzte, um sich nach der Thür zu schleichen und das Zimmer der Damen zu betreten, wenn Gertrud, aus Gefälligkeit gegen die Millers, selbst gekommen wäre, um zu öffnen und an ihrer Stelle zu antworten? Und da diese Betrachtung mir auf die Seele fiel, so stieg ich, obgleich ich schon die Treppe hinabgestiegen war, noch einmal hinauf und klingelte. Gertrud kam wirklich und öffnete mir, und ich empfahl ihr, sie solle sich wohl in Acht nehmen, es noch einmal zu thun, wer auch klingeln möchte, in Abwesenheit der Millers. Sie versprach es mit einer Art von Erschrecken, doch ohne daß sie es wagte, nach dem Grunde dieser Warnung zu fragen, und ich verließ sie, nicht ohne das Gefühl eines peinlichen Eindrucks in mir davon mitzunehmen.


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