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52.

Am Montag morgen brachten wir, mein Sohn und ich, vollends die Vorbereitungen zu dieser Abreise zu Stande, zumal diejenigen, welche sich auf die Kutsche bezogen, worin wir, mit Hülfe des Kutschers, ein recht bequemes und weiches Lager für Rosa herrichteten. Wir brachten darin auch Herzstärkungen und einige Süßigkeiten, die sie liebte, unter, sowie eine Flasche spanischen Weins nebst einem kleinen silbernen Becher, worauf mein Sohn die verschlungenen Namenszüge der Damen hatte graviren lassen, und den er ihnen als ein Andenken mitgeben wollte. Hierauf schickte ich auf die Kanzelei nach seinem Passe, während ich selbst eine Reihe von Besuchen bei meinen Pfarrkindern machte. Als ich aber von einem derselben gegen drei Uhr Nachmittags wegging, eilte mir eins der Miller'schen Kinder, das mich erblickt hatte, entgegen, um mir zu sagen, daß man es selbst, wie seine Brüder, nach allen Richtungen ausgeschickt hätte, um mich aufzusuchen und mir zu sagen, daß ich sogleich nach Hause kommen möchte. Ich fragte das Kind nach der Ursache der Botschaft, aber es wußte mir nichts darüber zu sagen, so daß ich meinen Schritt beschleunigte, um baldigst bei mir anzulangen, und dachte mir während dessen, daß wahrscheinlich die mit dem Abholen der Damen beauftragte Person angekommen sei, um sie nach Bremen zurückzubringen.

Aber ich war noch nicht in meine Wohnung eingetreten, als ich schon am Fuß der letzten Treppe, die dazu führt, Anzeichen von Unruhe und Störung wahrnahm. Die Thür war offen, Leute rannten hin und her; die Alte, als sie mich gewahrte, rief meinem Sohne zu: »Da kommt er!« und dieser, der mir entgegeneilte, benachrichtigte mich, daß, als er wieder in's Haus getreten wäre, Gertrud ihn gerufen hätte, damit er einen Wundarzt hole; daß er sogleich zu denen geeilt wäre, deren Wohnung er wußte, ohne jedoch auch nur Einen in seiner Behausung anzutreffen, und daß er es für passend gehalten habe, für alle Fälle die Frau Miller den Damen zu Hülfe zu schicken. Ohne weiter etwas anzuhören, trat ich sogleich in Rosa's Zimmer. Es befanden sich darin der Wundarzt und die Frau Miller, die mir einen Wink gaben, kein Geräusch zu machen, während Gertrud, deren Gesicht verstört wie ihre Augen geröthet erschienen, den Umstand, daß ich die Thür offen gelassen hatte, benutzte, um schnell hinauszugehn.

Rosa, die mich in diesem Augenblick gewahrte, rief mich mit sehr entkräfteter Stimme zu sich heran, und als ich neben ihr stand, sagte sie mir, indem sie ihren tiefen Schmerz bezwang, um mir eine Fassung des Geistes zu zeigen, die mir angenehm wäre: »Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«

Hierauf erfuhr ich die Gewißheit des Unglücks, das ich vom ersten Augenblick an vorausgesehn hatte, und indem ich diese junge Mutter betrachtete, die so schnell wieder der Frucht beraubt war, welche ihre Seele so erfreut hatte, und auf die sich ihre Hoffnungen stützten, empfand ich die Schmerzen des tiefsten Mitleids. Vorzüglich ihr engelgleiches Bestreben, sanft, gelassen und ohne Klage zu dulden, erregte in mir ein so anerkennendes und so zärtliches Gefühl für sie, daß ich, bis ins tiefste Innere gerührt, ihr nur diese Worte sagen konnte: »Rosa, mein Kind, wenn die Hand des Ewigen jemals so schwer auf mir liegen sollte, wie sie jetzt auf dir ruht, so werde ich mich des Beispiels erinnern, das du mir in dieser Stunde gibst, und mich bemühen, es nachzuahmen.« – Indessen zerfloß die gute Miller in Thränen, und selbst der Wundarzt betrachtete mit einem Staunen voll Ernstes das Antlitz Rosa's, ganz erschlafft durch das Leiden, ganz gebrochen durch Verzweiflung und doch ganz gefaßt zu entsagen.

So verweilte ich einige Augenblicke dort, und während der Wundarzt seine Vorschriften der Frau Miller ertheilte, die sich erboten hatte, bei Rosa zu wachen, machte mir diese ein Zeichen, mich über sie zu neigen, und sagte mir dann ganz leis ins Ohr: »Gehn Sie, wenn es Ihnen gefällt, guter Herr Bernier, und trösten Sie Gertrud.« – Hierauf drückte sie mit ihren brennenden Lippen einen Kuß auf meine Hand, die sie ergriffen hatte, um sie zu streicheln, und ich verließ sie.

Indem ich aus dem Zimmer herausging, begegnete ich meinem Sohne, der meine Rückkehr benutzt hatte, um zu dem Polizeikommissär zu gehen und ihn von dem unerwarteten Unfall, der Rosa betroffen hatte, zu unterrichten, sowie auch die Kutsche eiligst abzubestellen. Da ich ihn gebeten hatte, mich mit Gertrud allein zu lassen, so harrte er auf der Schwelle, bereit, je nach den Umständen da oder dort beizustehen, oder der Alten im häuslichen Dienste Hülfe zu leisten.

Ich fand Gertrud in so gewaltiger Verzweiflung, daß ich, anstatt sie, so begierig ich auch darnach war, zu fragen, was diesen unvermutheten Unfall bei Rosa hervorgerufen hätte, mich dabei gedulden mußte, sie aufzurichten, sie zu trösten und ihr endlich als Beispiel die Ergebung ihrer Freundin vorzuhalten. Aber alles, was ich ihr zu sagen vermochte, verfehlte seine Wirkung bei ihr, und sie wies ganz unverhüllt meine Ermahnungen als solche, die nichts über ihren beispiellosen Schmerz vermöchten, von sich. – »Es ist gar nicht das Kind, das ich beweine, Herr Bernier«, rief sie endlich aus, »es ist meine Rosa!« – und darauf mit verstörter Miene, nachdem sie sich erhoben hatte: »Eilen Sie ... eilen Sie ... doch nein! es ist besser, daß sie stirbt!« – und sie fiel wieder auf den Stuhl zurück. Wie unzusammenhängend auch diese Worte waren, so öffneten sie mir doch die Augen, und von diesem Augenblick an sah ich wirklich Rosa gleichsam im voraus unserer Liebe nächstens entrissen.

Als Gertrud ein wenig beruhigt war, sagte sie zu mir: »Ich habe Rosa versprochen, Ihnen die Ursache von dem, was geschehen ist, zu verhehlen, und ich sollte dies, um Ihren Schmerz nicht zu vermehren, halten; aber ich fühle, daß man es als Mangel an Vertrauen zu Ihnen ansehen könnte, wenn ich mein Versprechen hielte. Sie werden sich also gegen sie den Schein geben, als wüßten Sie das nicht, was ich Ihnen jetzt sagen werde.« – Hierauf erzählte mir Gertrud, daß, während sie sich ruhig in ihrem Zimmer unterhalten hätten, der Briefträger an der Thür geklingelt und der Alten einen Brief übergeben hätte, indem er dabei sagte: »Er ist aus Deutschland«; daß Rosa, als sie dies Wort hörte, herbeigeeilt wäre, den Brief an sich genommen und ihn geküßt und geöffnet hätte; daß dann, je weiter sie las, sich Blässe und Schreck auf ihrem Gesicht dargestellt hätten, bis sie, auf der Seite zu Ende gelangt, einen Schrei ausgestoßen, den Brief weit weg geschleudert und alle Zeichen des heftigsten Schmerzes von sich gegeben hätte. In demselben Augenblicke wäre ein großes Leiden in ihr vorgegangen, und sie, Gertrud, hätte nur eben noch Zeit gehabt, sie in ihren Armen aufzufangen, sie auf ihr Bett zu bringen und meinen Sohn zu rufen, der sich allein in dem Hause befand, damit er schleunigst einen Wundarzt herbeischaffte. Einige Zeit nachher wäre die Frau Miller angekommen, die ihr Rosa hätte entkleiden helfen, und als sie diese eben in die gehörige Lage gebracht hätten, wäre der Wundarzt erschienen, um von ihnen zu erfahren, daß Rosa der Freude beraubt wäre, Mutter zu sein. – Nachdem Gertrud diesen Bericht beendet hatte, legte sie mir das Schreiben selbst vor, das diese Krisis veranlaßt hatte. Wie ich es sogleich an der Handschrift erkannte, war dieser Brief von der Mutter Rosa's und in folgenden Ausdrücken abgefaßt:

»Ganz im Geheimen vor Deinem Vater, meine Rosa, und gegen seinen ausdrücklichen Willen, schreibe ich Dir diese Zeilen. Aber wie groß auch Dein Vergehn sei, so läßt Dein Schicksal Dich doch zu hart es büßen, als daß meine Gedanken sich von Dir abwenden könnten und mein Herz Dich in hülflosem Zustande lassen sollte.

Wenn Dein Vater auf Dich, mein Kind, weniger erzürnt, und die Zeit über diese Schmach dahin gegangen sein wird, nicht um sie ganz auszulöschen, aber doch wenigstens, um sie zu mildern, so werde ich versuchen seine Verzeihung für Dich zu erlangen, und in der Hoffnung, daß es mir einst damit gelingt, mußt Du von jetzt an eine Linderung Deines Unglücks suchen. Ach, Rosa! arme Gemißbrauchte, wie hast Du so zu verkennen vermocht, daß Reinheit und Unschuld sogar schlechte Wächter der Keuschheit sind, und daß jedes junge Mädchen, das sie nicht einzig unter die Obhut der Urheber ihres Lebens stellt, sogleich verloren ist!

Wir haben einen zweiten Brief von Herrn Bernier erhalten, der uns ankündigt, daß du Mutter bist! Dies ist für uns Alle eine schreckliche Erneuerung des Herzeleids und der Schmach gewesen. Auch bleibt Dein Vater düster und fest, und ich wage sogar nicht, ihn in diesem Augenblicke zu bitten, daß er von seiner Strenge so weit nachlasse, um zu erlauben, daß ich mich, wenn der Zeitpunkt Deiner Entbindung da ist, auf einige Zeit zu Dir begebe.

Einstweilen findest Du hier die Papiere beigefügt, die Dir dazu dienen sollen, daß der Befehl der Abreise zurückgenommen werde, den Du von der Polizeibehörde erhalten hast. Du verdankst dies dem guten Herrn Bernier; beschwöre ihn in meinem Namen, Dich noch in seinem Hause behalten zu wollen, nachdem Gertrud, die man abzuholen im Begriff ist, Dich wird verlassen haben, und adressire die Briefe, die Du mir insgeheim zukommen lassen willst, an Gottlieb Köhler in Bremen, der davon in Kenntniß gesetzt ist. Empfange, meine Rosa, die Umarmungen Deiner trostlosen Mutter

Karoline S.«

Dieser Brief, der zu gleicher Zeit so unbegreiflich zärtlich und grausam war, machte mich selbst auf's äußerste bestürzt, und indem ich jene seltsamen Ausdrücke: »Schmach« und »Tochter, die verloren ist«, mit der Thatsache verglich, worüber mir Marie die bestimmte Versicherung gegeben hatte, nämlich, daß der Graf niemals wieder erscheinen würde, sah ich darin freilich für die arme Rosa eine solche Schmach, daß sich unwillkürlich in mir der Wunsch bildete, Gott möchte sie von dieser Welt wegnehmen, noch ehe sie Zeit gewänne, jene als solche zu erkennen, wenn es nicht schon ein dem meinigen ganz ähnlicher Vorausblick war, der ihr den plötzlichen Aufschrei entriß und in ihrem Innern in heftiger Weise die Frucht einer rechtmäßigen Liebe ablöste. Und so that ich denn, meine schrecklichen Zweifel in mir zurückhaltend, an Gertrud neue Fragen. Hierauf vertraute diese mir, daß dieser Brief sie selbst weit tiefer verwundet hätte, als Rosa; denn sie hätte, sagte sie, darin die von nun an deutlichen Zeichen einer Schmach ersehen, deren Erkenntniß für unsere Freundin der sichere Todesstreich sein würde, auch dann selbst, wenn sie ihn nicht durch den Verlust ihres Kindes empfangen hätte; daß, Rosa anbelangend, diese, abgesehen von einer oder zwei Anspielungen auf Thatsachen, die wir ihr verborgen, und worüber sie ihr eine annehmliche Erklärung gegeben, zwar grausam gelitten hätte, in Folge der übermäßigen Hartherzigkeiten in diesem Briefe, aber ohne sie dennoch irgend einem andern Beweggrunde zuzuschreiben, als der stolzen Strenge ihres Vaters gegen eine wider seinen Willen vollzogene Verbindung, und daß das, was ihr den Schrei der Verzweiflung entrissen hätte, eigentlich die Stelle wäre, worin gesagt wird: »nachdem Gertrud, die man abzuholen im Begriff ist, Dich verlassen haben wird.« – Obgleich mir diese Erklärung kund that, daß Gertrud eben so tief in das noch verschleierte Geheimniß des Schicksals ihrer Freundin eingedrungen war wie ich, so gab sie mir dennoch einigen Trost insofern, als ich, wenn es der Wille Gottes wäre, Rosa in kurzem von der Welt zu nehmen, ziemliche Hoffnung hatte, mit Hülfe Gertrudens, was auch sonst bis dahin vorfallen möge, ihrem schon gebrochenen Herzen die Qualen der Erniedrigung und den Trennungskampf von dem Bewußtsein der Reinheit, des Vertrauens und der Liebe, die sich durch eine plötzliche Enthüllung schnell in tödtlichen Schmerz und unheilbare Brandmale verwandeln würden, zu ersparen.

Nach diesem Zwiegespräch ging Gertrud wieder zu ihrer Freundin, und ich setzte meinen Sohn, der nun zu mir herein kam, von allem, was ich soeben gehört hatte, in Kenntniß. Der arme Junge bedurfte dieser Mittheilung gar nicht, da er schon voll Betrübniß war; denn in der Apotheke, wohin er eiligst gelaufen war, um das Recept des Wundarztes hinzubringen, hatte der junge Mensch, welcher die Arzenei bereitete, geäußert, daß die junge Dame wohl sehr gefährlich krank sein müßte, weil man sich zur Anwendung solcher Ingredienzen, als die Zusammensetzung dieser Arzenei erforderte, genöthigt sehe; und als er auf dem Heimwege dem Wundarzte begegnet war, hatte dieser ihm nicht verborgen, daß der Zustand Rosa's von der bedenklichsten Art wäre, und wenn man die Erschöpfung ihrer Kräfte und die Heftigkeit des Unfalles in Betracht ziehe, so hege er wenig Hoffnung sie zu retten. Dies Alles bestätigte mich in der Ueberzeugung, daß Rosa von Stund an für diese Welt verloren wäre, und ich bereitete mich auf die traurige Pflicht vor, ihr bald die Augen zu schließen.


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