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44.

Ich fühlte mich von der Art und Weise dieses Briefes verletzt, wie von der Beleidigung, die er in der That der so lebhaften und so großmüthig Rosa gewidmeten Freundschaft Gertrudens anthat; aber ich war nur um so mehr geneigt, zu glauben, daß, weil man die Verzeihung, die man Gertrud angedeihen lassen wollte, von der Bedingung eines so grausamen Bruches abhängig machte, das Schicksal ihrer Freundin nothwendig von nun an mit jener »unvertilgbaren Schande« behaftet sein müsse, auf welche man eine versteckte Anspielung machte. Ich wollte die Beängstigung der armen Gertrud nicht noch vermehren, indem ich sie auf diese betrübende Hindeutung aufmerksam machte; aber als sie sich auf meine Meinung als Entscheidung berief, sagte ich ihr in der Absicht, die empörte Heftigkeit ihrer Gefühle zu mäßigen: »Gertrud, ehe ich Sie anhöre, und ehe ich vielleicht Ihre Ansicht billige, nehmen Sie das, was Ihnen soeben entschlüpft ist, zurück. Die Befehle eines Vaters, liebes Kind, muß man stets achten; sein Fluch ist stets ein furchtbares Unglück, und es ist gottlos, ihm so, wie Sie es eben gethan, zu trotzen!« – Hierauf brach sie in heißes Schluchzen aus und rief: »Aber daß er es wagt, mir zu sagen, lieber Herr Bernier, daß er es wagt, mir die Unwürdigkeit zu befehlen, ich solle mit meiner Rosa brechen! ... ohne Zweifel auch mit Ihnen brechen, der Sie uns Vater und Mutter gewesen sind! – und Ihnen sagt man gar nichts!« – Indem sie diese Worte ausstieß, umschlang Gertrud mit ihren Armen meinen Hals, und indem sie an mich ihre dankbaren Liebkosungen verschwendete, schien es, als wollte sie jene Lücke, die sie in dem Briefe ihres Vaters betrübte, mit allen persönlichen Liebesbezeigungen ausfüllen.

Als sie ruhiger geworden war, sagte ich zu ihr: »Nein, Sie dürfen Rosa nicht aufgeben, noch mit ihr brechen. Aber eine neue schwere Mühe wartet Ihrer, und Sie würden deren Erfolg vereiteln, wenn Sie diesen unehrerbietigen Aufwallungen den Zügel schießen ließen. Sie müssen nämlich für Ihre Freundin begütigend sprechen; Sie müssen sie durch Sie, mit Ihnen retten; Sie müssen unzertrennlich von ihr bleiben wollen, nicht um den Preis der Widersetzlichkeit und zum Trotz des Fluches, sondern grade durch gesetzmäßiges Beharren, durch zärtliche Bemühung, durch geduldige Sanftmuth und kindliche Unterwürfigkeit, indem Sie die Zeit zur Gehülfin nehmen, welche die Strenge mildert und die Umstände aufhellt. Nun, mein Kind, gehen Sie und legen Sie sich nieder, denn heut Abend würden Sie doch wenig im Stande sein, überlegt an Ihren Vater zu schreiben. Aber morgen finden Sie, um ihm zu antworten, dringende Beweggründe, die Sie ihm mit Bescheidenheit vortragen müssen, und anstatt ihm durch stolze Weigerung zu trotzen, flehen Sie seine nun besser unterrichtete Güte an, daß er nicht verlangen möge, was unter den jetzigen Umständen, nicht, wie er glaubt, ein bloßer Bruch mit Ihrer Freundin sein, sondern bei dieser sicherlich eine Verzweiflung hervorrufen würde, die ihr Zustand, den er nicht kennt, zu einer solchen steigerte, daß sie unfähig wäre, sie länger zu ertragen.« – Gertrud gab mir die Versicherung, daß sie meinen Rath pünktlich befolgen würde, und wir trennten uns.

Nachdem ich es gehörig erwogen hatte, hielt ich es für ungeeignet, nochmals an Rosa's Eltern zu schreiben, weil mein letzter Brief drei dringende Beweggründe enthielt, von denen zum wenigsten zwei, welche trotz der Sendung der dreihundert Franken dieselben blieben, nämlich Rosa's Schwangerschaft und die von dem Polizeikommissär gestellte Frist, alles waren, was ich Dringendstes Eltern, die nicht gradezu ihrem Kinde den Untergang geschworen hatten, zu verstehen geben konnte. Ueberdies mußte, grade in Folge jener von dem Kommissär unnachläßlich gestellten Frist, Rosa sich schon einige Tage auf der Reise befinden, wenn ich eine Antwort auf den letzten Brief erhalten würde, so daß ein späterer auch noch von dieser Seite überflüssig wurde.

Uebrigens waren die Bekümmernisse und Gemüthserschütterungen, die ich am Tage vorher erlitten, und eine Erkältung, die ich mir auf jener einsamen Promenade, von der ich sprach, zugezogen hatte, die Ursache eines Uebelbefindens, welches, nachdem es mich während der Nacht befallen, sich um die Morgendämmerung mit solcher Heftigkeit steigerte, daß ich einen Arzt holen lassen mußte, anstatt in gewohnter Weise aufzustehen und mich zum Schreiben hinzusetzen. Die große Angst, die ich darüber empfand, mich an's Bett gefesselt zu sehen in dem so nahe bevorstehenden Zeitpunkt, wo ich mich mit der Abreise Rosa's unter so schwierigen Umständen und ungewissen Plänen würde befassen müssen, trug ohne Zweifel dazu bei, mein Uebelbefinden zu erschweren; denn von Stunde zu Stunde wurde es schlechter mit mir, und ich wurde seit dem Abende dieses Tages aus verschiedenen Umständen inne, daß man sehr beschäftigt um mich war und der Arzt mein Leiden ernstlich nahm. Hierauf ergab ich mich, indem ich mir Zwang anthat, in das Kranksein, und da ich für jetzt nicht weiter handeln konnte, so wandte ich meine Schlaflosigkeit dazu an, bald Gott um Schutz für die beiden armen Wesen anzuflehen, womit er einstweilen meine Familie vergrößert hatte, bald die Rechnung des von mir Gethanen durchzugehen, um stets gegürtet und bereit zu sein, vor ihm zu erscheinen. Diese Ruhe that mir jedoch wohl, und einige Anzeichen, welche der Arzt für beunruhigend erklärt hatte, verschwanden in kurzem.

Von dem ersten Augenblick meiner Unpäßlichkeit an war Gertrud an mein Lager geeilt, und an meinem Kopfkissen verweilend, obgleich ich sie gebeten hatte, nichts dergleichen zu thun, verließ sie es nur, um ihren Platz meinem Sohn abzutreten, wenn er seine Tagesobliegenheiten beendet hatte. Bisweilen blieben sie auch alle beide, wenn ich weniger von dem Fieber beunruhigt war; und ohne daß ich besondern Theil daran nahm, fand ich dennoch viel Annehmlichkeit an ihrer Unterhaltung, die mich stets durch die guten Gedanken anzog, die jedes dabei zu Tage brachte. Mein Sohn ist gradsinnig, gottesfürchtig, unterrichtet, aber noch sehr wenig bewandert in der Welterfahrung, während sonst seine natürlichen Eigenschaften mehr von festem Sinn und großmüthiger Anlage als von Feinheit des Geistes und frühreifem Scharfblick zeugen. Gertrud hingegen zeigt bei denselben Charaktereigenschaften zwar weniger festen Sinn, aber weit mehr natürlichen Takt, der nicht an den Dingen, den Menschen und den so verwickelten Bezügen des Lebens haftet. Auch bewunderte ich, indem ich sie so anhörte, daß diese Jungfrau, die kaum neunzehn Jahre zählte, doch meinem ausgebildeten Sohne von fünfundzwanzig Jahren über Vieles Vorstellungen machte. Und dies bestätigte in mir die Richtigkeit jener zwiefachen Ansicht, einerseits, daß das Weib früh und mehr durch das Herz, ja vermittelst seiner Schwäche, seiner Schamhaftigkeit, kurz vermöge seiner natürlichen Beschaffenheit sieht, wahrend der Mann weniger und später durch den Verstand, durch die Erfahrung oder die erhaltene Belehrung erkennen lernt; und daß andrerseits für das Weib, wie für den Mann, weder die Schule der Bücher, noch die Schule der Welt die Schule der Prüfung aufwiegt, um die Seele des Geschöpfs zu unterrichten, zu bereichern und zu verschönen.

Ich selbst erkannte während dieser Stunden der Sammlung mit Dankbarkeit an, daß die Beschwerden dieser letzten Wochen, während deren ich so viel Kummer und Sorge rücksichtlich der beiden jungen Damen ausstand, welche mich die Vorsehung auf meinem Wege hatte finden lassen, außer der Belehrung über Vieles und der Erweckung aus jener mehr oder weniger freiwilligen Geistesträgheit, in welche wir nur zu oft verfallen, wenn die Erfüllung der täglichen Pflichten eine leichte ist: mir auch dazu gedient hatten, jenes Päckchen guter Werke ein wenig größer zu machen, welches, nach der heiligen Schrift sowohl, wie nach der Vernunft, das einzige Gepäck ist, das wir in die andere Welt mit hinüber nehmen. Ferner fand ich, wenn ich über das Leben, dies nothwendigerweise bittere und zweifelhafte Gut, nachdachte, daß jene Wochen nicht unter die unglücklichen meines Daseins zu rechnen waren, und daß, wenn ich in ihnen freilich die Geißel der Angst und die Qual des Schmerzes empfunden hatte, ich doch auch, außerdem daß die Aufregung, die Thätigkeit und die Schritte, die ich gethan, sie hatten kurz erscheinen lassen, viele reine Vergnügen und viele wohlthuende Genugthuungen in ihnen genossen hatte. Deshalb, wenn ich ganz allein war und halbwegs Sieger über das körperliche Leiden vermittelst der Herrschaft des Gedankens, sagte ich mir im Stillen die Worte des Psalmisten vor: »Im Elend warst du mir immer ein hoher Thurm, eine Veste; du warst mir im Unglück stets ein Gott voll Güte!«


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