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58.

Zwei Tage nachher machte ich mit meinem Sohne einen kleinen Rechnungsauszug der Wirthschaftsausgaben im letzten Monat. Es fand sich, daß wir, die Kosten für das Begräbniß bei Seite gelassen, die kleinen laufenden Hülfsquellen nur um hundertundsechzig Franken ungefähr überschritten hatten, so daß wir mit ein wenig haushälterischem Wesen recht leicht im Stande sein würden, diese Einbuße noch vor Jahresschluß zu decken, besonders wenn mein Sohn, welcher sich gegenwärtig für die große Prüfung zum Diener des Evangeliums vorbereitete, einige einträgliche Unterrichtsstunden, die, wegen dieses Zuwachses an Beschäftigung, einstweilen hatten aufgeschoben werden müssen, würde wiederaufnehmen können. Demnach wickelte ich, in Folge der angestellten Abrechnung, sowohl die zehn Franken, als auch die fünfzig, welche Meister Durand auf einen möglichen Fall mir zur Verfügung gestellt hatte, um zu verhindern, daß die Damen in völligen Mangel geriethen, in besondere Papiere, und mein Sohn trug sie ihm wieder hin mit der Bemerkung von meiner Seite, daß, da diese Summe jetzt nicht mehr die Anwendung fände, für die wir sie bestimmt hätten, es nun seine Schuldigkeit sei, sie mit ebensowenig Umständen wieder anzunehmen, als ich es in Betreff der Ketten gethan hätte.

Als ich diese kleinen Geschäfte in Ordnung gebracht hatte, wollte ich einige Muße dazu benutzen, um die Briefe durchzusehen, welche das Kästchen enthielt. Ich nahm es also aus dem Schrank und stellte es auf meinen Tisch. Indem ich darauf den Schlüssel zum Kästchen in dem Schubfach, worein ich ihn gelegt hatte, suchte, kam mir unter andern Papieren jener Brief wieder in die Hände, welchen Gertrud nach dem Diktat Rosa's in der Nacht vom Montag auf den Dienstag niedergeschrieben hatte. Obgleich es mir widerstand, ja sogar verhaßt war, das Zeugniß zärtlichster Liebe lesen zu müssen, welches eine arme Hintergangene an denjenigen verschwendete, der sie planmäßig entehrt und ihr Verderben vollführt hatte, so nahm ich mir doch vor, diesen Unwillen zu bekämpfen, um die Zeilen zu lesen, und wahrlich nicht ohne die peinlichsten Eindrücke zu empfinden, brachte ich das Niedergeschriebene, wie ich es hier wiedergebe, zu Ende.

»Wenn Deine Absicht gewesen ist, meine Liebe auf die Probe zu stellen, so gebe ich Dir die Versicherung, mein Ludwig, daß diese vollkommen erfüllt worden ist. Ich habe nie aufgehört, Dich mit Anbetung zu lieben, und dieses Gefühl, welches mein ganzes Herz ausfüllt, werde ich in das Grab mitnehmen.

Ludwig, ich habe geglaubt, daß ich Dich mit einem Kinde erfreuen würde, und noch vor wenigen Tagen, als ich es unter meinem Herzen sich regen fühlte, hoffte ich mit Entzücken, der schönsten Freuden unseres Lebens theilhaftig zu werden. Aber Gott hat es mir genommen, und mit demselben Schlage nimmt er mich zu sich. Sein Wille sei gepriesen!

Ich lege Dir Gertrud an die Seele, der ich es übertrage, Dich erkennen zu lassen, was für Deine Rosa der Herr Prediger Bernier gewesen ist. Ich bitte Dich innigst, mein Andenken dadurch zu einem friedlichen zu machen, daß Du Dich mit meinen Eltern versöhnst und ihre Verzeihung sowohl für mich als auch für Dich erflehst und Dich ganz ihrer Liebe widmest.

Ich verdanke Deiner Zuneigung die größte Glückseligkeit auf Erden, und meine Hoffnung ist darauf gestellt, daß dereinst im Himmel die Liebe uns wieder verbindet. Das ist in dieser Stunde der Trost meiner letzten Lebensaugenblicke.

Deine Rosa.«

Nachdem ich dies gelesen hatte, eröffnete ich das Kästchen, doch nur um es ebenso schnell wieder zu verschließen und es wieder an seinen Platz zu stellen. Denn, in der That, es erregte jeder Brief des Grafen, bei dem Nachklange, der Gefühle, die ich soeben empfunden hatte, in mir einen unbezwinglichen Abscheu, und ich mußte die Gründe einer sehr besonnenen Klugheit geltend machen, um nur nicht diese verworfenen Zeugen einer heuchlerischen Verruchtheit auf dem Küchenherde zu vernichten. Mein Sohn, der in diesem Augenblicke wieder hereintrat, fragte mich um die Ursache der Aufregung, die sich auf meinem Gesicht ausprägte. Ich theilte sie ihm mit, und nun gab sich an ihm eine Störung seines ganzen Wesens kund. »Später«, sagte ich ihm bei dieser Gelegenheit, »sollst du diese Briefe durchlesen, und dies wird für dich, mein guter Junge, eine traurige, aber nützliche Veranlassung sein, die Welt von einer ihrer hassenswerthesten Seiten kennen zu lernen, nämlich von Seite der auf Grundsätze gebrachten Verderbtheit und Ausschweifung, der kalten, grausamen, unbarmherzigen Sittenlosigkeit, die alle Aeußerlichkeiten des Fein- und Zartgefühls, sowie der Tugend annimmt, um nur zur Sättigung ihrer niedrigen Gelüste zu gelangen! Für einen angehenden Diener des Herrn aber«, fügte ich hinzu, »ziemt es sich nicht, dergleichen übrigens ausnahmsweise Ungeheuer unserer Natur zu früh kennen zu lernen, weil er aus Mangel an genügsamer Reife und Erfahrung deren Anzahl für größer halten würde, als sie wirklich ist, und weil frühzeitiges Mißtrauen ihn der Gefahr aussetzen würde, sein Urtheil zu verfälschen, so daß es zugleich seine Liebe zu Gott und dem Nächsten verringerte.«

Diese Warnungen schienen auf meinen Sohn keinen sehr großen Eindruck zu machen, nicht sowohl in Folge jenes Eigendünkels, der gewöhnlich bei jungen Leuten natürlich stattfindet, sondern weil er zum erstenmal im vollen Umfange das Geschick der armen Rosa durchschaute, die er so geliebt und der er so von ganzem Herzen gedient hatte, ohne sich viel Rechenschaft von etwas anderem zu geben, als von ihrem Zerwürfniß mit den Eltern und von den Ränken, denen sie von Seiten des jungen Herrn ausgesetzt gewesen war, und nun plötzlich und mit Einem Schlage Abscheu, Haß, Mitleiden und Schmerz empfand. Sobald er ein wenig die Heftigkeit seiner Gefühle bewältigt hatte, richtete er in Betreff Gertrudens Fragen an mich. – »Gertrud«, sagte ich zu ihm, »ist von der unverlöschlichen Schmach, welche die arme Rosa betroffen hat, unberührt geblieben, aber auch auf sie ist etwas von dieser Entehrung übergegangen, und die Beklagenswerthe wird lange Zeit nicht, vielleicht niemals, das wieder erlangen, was sie an makellosem Ruf und vortheilhafter Stellung, an öffentlicher Achtung und väterlichem Vertrauen eingebüßt hat.« – Hierauf beklagte mein Sohn, sich dem Sturm seiner Gefühle überlassend, mit Thränen in den Augen, das Schicksal eines so reinen, so guten und so gebildeten Wesens; und während gleichzeitig die Glut der lebhaftesten Röthe sein Gesicht überflog, sagte er schüchtern: »Würden Sie, mein Vater, es nicht als ein Glück für Sie, für mich und für Gertrud schätzen, wenn ich es von der Einstimmung der Letzteren und dem freien Willen ihrer Eltern erlangte, daß sie mir ihre Hand reichte?«

Diese plötzliche Eröffnung brachte meine Geister so in Verwirrung und widersprach so sehr dem, was ich von Seiten meines Sohnes in Betreff derartiger Ansprüche für möglich hielt, daß ich die kurz entscheidende Antwort ausstieß: »Andreas, du verkennst durchaus deine Stellung, die meinige und die Gertrudens; du mußt dich auf der Stelle solcher Gedanken entschlagen.« – »Ich bin dazu bereit«, erwiederte er; »aber grade wegen dieser wachsenden Zuneigung, die ich für Gertrud empfinde, habe ich Ihnen nicht länger einen Wunsch verhehlen dürfen, der Ihre Mißbilligung erfahren könnte. Dennoch bedenken Sie, mein Vater, daß ich vielleicht noch vor Jahresfrist im Stande bin, der Unterhaltung einer bescheidenen Hauswirthschaft genügen zu können; bedenken Sie, daß Gertrud, abgesehen davon, daß sie auf die Vortheile, die ihr ihre frühere Lage sicherte, nicht mehr Anspruch machen kann, unsere einfache Lebensweise liebt und sich in unserem Umgange gefällt; bedenken Sie endlich, daß gewiß keine Person durch ihren Charakter, durch ihre Empfindungsweise, durch ihre Frömmigkeit und durch die Tugenden, die sie mitten unter so harten Prüfungen bewährt hat, so würdig wäre, daß ein junger Mann, der in der Ehe alle die Bedingungen einer heiligen Verpflichtung und einer wahrhaft christlichen Vereinigung sucht, darnach strebe, sie zur Gattin zu erlangen, und ihr das ganze Leben hindurch seine Sorgfalt und seine Liebe widme!« – »Andreas«, sagte ich zu ihm, »noch einmal, es ist das Vorrecht der Eltern, über sie zu bestimmen, und sie werden ihr sicher ein anderes Loos wünschen, als die Frau eines demüthigen Predigers in einer fremden Stadt zu werden.« – »Das ist wohl möglich«, versetzte mein Sohn, »und Gott verhüte, daß es mir in den Sinn kommen sollte, ihre Pläne zu kreuzen. Aber ich bitte Sie zu bedenken, Vater, daß die Eltern Gertrudens selbst, von denen es hinfort nicht mehr abhängt, ihr ein solches Loos zu sichern, wie sie wünschen, nach einigem Erstaunen, welches ihnen mein Ansuchen verursacht, dieses vielleicht weniger ehrgeizig finden möchten, als es anfänglich erscheint, und darin ein Mittel erkennen werden, ihre Tochter bescheiden, das ist wahr, aber doch auch ehrenhaft unterzubringen, und zwar in einer Stadt, wo sie weniger den Stachelreden ungerechter Vorwürfe und unverdienter Mißachtung ausgesetzt ist. Und sollte es denn überdies nicht unsere Pflicht sein, daß wir, die wir jetzt allein Gertrud besser kennen, als die Welt es vermag, besser als ihre Verwandten, ja besser als ihre Eltern selbst, ihren Ruf durch diese Verbindung herstellen und ihr eine Zuflucht gewähren in ihrem Schicksal, welches ihr sonst schmerzliche Verwundungen oder auch lange und grausame Prüfungen bereit halten möchte?« – Diese Betrachtungen, deren Richtigkeit ich in gewisser Hinsicht nicht mißkennen konnte, und die in anderer Hinsicht wohl Ursach boten, mir zu gefallen, vermochten doch nicht, meinen Widerstand zu erschüttern, so daß ich, indem ich meinen Sohn darüber belehrte, welche ausnehmende Umsicht die Offenkundigmachung solcher Gefühle, wie er eben gegen mich bekannt hätte, sowohl aus der Ferne wie in der Nähe erforderte, mit ihm alle Beweggründe, alle Mittel und alle wahrscheinlichen Endergebnisse des Planes, in Bezug auf welchen er mir soeben diese plötzliche Eröffnung gethan hatte, durchzusprechen mich willig zeigte. Und hierauf erklärte ich ihm, daß ich nichtsdestoweniger verlangte, er solle in dieser Angelegenheit, deren Behandlung ich durchaus mir allein vorbehielte, wenn sie wider Erwarten in der übrigens nothwendig fernen Zukunft noch einen Verfolg hätte, keinerlei Art von Schritt, von Aeußerung thun, ja nicht einmal irgend eine Andeutung ohne mein Wissen von sich geben. Ueber dieses alles, mit Ausnahme dessen, was den letzten Punkt einer nothwendig fernen Zukunft betraf, stimmte mein Sohn vollkommen und ehrerbietig mit mir überein. – »Wenn Sie jedoch, mein Vater«, warf er dagegen ein, »von einer fernen Zukunft sprechen, so ist dies hart, ich will nicht sagen, in Bezug auf die Heirat, wobei freilich strenge Haltung nöthig ist, wohl aber in Betreff der Schritte, um sowohl von den Eltern Gertrudens als von ihr selbst eine Einwilligung, ein Versprechen zu erlangen, und ich befürchte, daß Sie dann sowohl das Schicksal Gertrudens, welches ich mich bestreben würde, zu einem schönen und beneidenswerthen zu machen, als auch Ihr eigenes zugleich, mein Vater, so wie das meinige, vergeblich auf das Spiel setzen! Denn wenn ich heiß darnach verlange, der Gatte einer Person von solchen Vorzügen zu werden: könnten Sie da nicht sich selbst freuen, in Wirklichkeit der Vater derselben zu werden, da sie Ihnen schon so oft dargethan hat, daß sie dem Herzen nach Ihre Tochter ist?« – »Andreas«, sagte ich hierauf zu ihm, indem ich mir einige Thränen abtrocknete, deren Quelle mir verdächtig schien, »du bestehst da auf etwas, was bei allen unsern Beweggründen zum Handeln ganz außer Acht gelassen werden muß, und ich tadle dich deswegen, daß du, der du sehr wohl meine schwache Seite rücksichtlich Gertrudens kennst, diese benutzest, um mich dahin zu verleiten, wo ich schon Mühe gehabt habe, nicht zu straucheln. Ich beziehe mich also auf das, was ich dir soeben gesagt habe, und wünsche, daß wir diesem Gespräch ein Ende setzen.« – Hiermit stand ich auf und ergriff meinen Hut und meinen Stock, um einige meiner Pfarrkinder zu besuchen. Aber so sehr war ich von Gedanken eingenommen, die mich überallhin begleiteten, daß ich am Abend in meine Wohnung sehr unbefriedigt von meinem Umgange zurückkam, und überdies unfähig war, mir von den Schritten, die ich hätte thun, oder den Gesprächen, die ich hätte halten können, Rechenschaft zu geben.


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