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Magdeleine G.

I.

In kleinem Kreis erschien, wandelnd, schreitend, taumelnd, erzitternd, zu Boden gekrampft, lächelnd, jauchzend und ersterbend, Magdeleine G., Schlaftänzerin; erläutert durch einen bayrischen Nervenarzt.

Ich sah Unerhörtes an Darstellungskunst. Mag diese Kunst im Schlaf geübt werden … oder nicht.

In den kleinen Anatoldramen von Arthur Schnitzler antwortet ein süßes Mädl, Cora, von ihrem Liebsten künstlich in Traum versenkt, daß sie ihn liebe. Wie sie das hinterdrein erfährt, spricht sie lächelnd: »Aber schau, – das hätt' ich dir ja auch im Wachen sagen können« …

Stimmt. Die gestaltende Macht dieser Magdeleine ist so hinreißend, daß man ihr zurufen möchte: »Aber schau'n Sie, – warum steifen Sie sich darauf, solche Leistungen im Schlafe vollführt zu haben; sie wären, auch im Wachen vollführt, groß genug.«

II.

Im Wachen … Gibt es einen Künstler, der ganz im Wachen schafft? Ich glaube nicht.

Sind wir denn wach, wenn wir schreiben? Scheiden wir nicht elf Zwölftel der Welt aus und träumen Dinge herauf, die nur auf den einen, einen, einen Punkt Bezug haben? Senken wir nicht die inneren Augen auf einen, einen Fleck und lähmen alle sonstigen Beziehungen? Und glaubt ihr, wenn ihr einen Schauspieler seht, einen von den ganz durchseelten, daß er andres tut als schlafen? Glaubt ihr die Duse sei fähig, ohne Schlaf (lies: ohne Autosuggestion) die letzte Wirkung, die an den Sitz der Seele selber greift, hervorzurufen? Glaubt es nicht …

Hier ist nun eine Künstlerin, der vielleicht die autosuggestive Fähigkeit um einige Grade stärker innewohnt; ecco.

III.

Ganz im Untersten beschäftigen mich bloß noch zwei Fragen: ist Magdeleine G. eine stark hysterische Darstellerin … oder ist sie eine starke Darstellerin der Hysterie?

Wahrscheinlich beides. Ich bin kein Fachmann; doch ich habe die Beobachtung an Wahnsinnigen gemacht, daß sie gewisse Züge ihres (tatsächlichen) Wahnsinns hervorheben, unterstreichen – als ob sie die erkannt hätten. Deshalb bleiben sie doch wahnsinnig.

Es gibt Wahnsinnige, die sich wahnsinniger stellen, als sie sind; deshalb bleiben sie doch wahnsinnig! Ähnlich mag es mit der Hysterie der Magdeleine sein. Sie ist eine starke Darstellerin der Hysterie, … aber sie muß zugleich eine stark hysterische Darstellerin sein.

IV.

 … Was sie mit alledem gibt, ist überwältigend. Dieses Tscherkessengesicht mit den Backenknochen, dieser Körper, dieses wunderbare Gerüst mit starken, neuen Linien, die bald in zuckendem Crescendo nach allen Richtungen zu sprießen, zu wachsen scheinen, bald sich ekstatisch zusammenziehn; diese Augen, unsagbar erfüllt; dies Drängen, dies Greifen, dies Zusammensinken: – es gibt, in einem wüst großartigen Exemplar der menschlichen Rasse fleischgeworden, ungefähr das Tollste, was die Kreatur zu geben hat.

Die Hemmungen sind gefallen (sie scheinen es vielmehr). Das Innerste wie nach außen gewendet.

Die Ganzbefreite, in Schmerz und Lust und Wut, in Elend und Seligkeit, steht vor meinen Augen unverlöschlich.

1905. 8. Februar.


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