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Mounet-Sully

I.

»Polyeucte, martyr«, von Corneille.

Ich erwartete keine Wirkungen oder komische Wirkungen. Ich erfuhr hinreißende.

Ein antiker Privatmann wird Christ. Die Götzenbilder, die er jüngst noch ehrte, zertrümmert Polyeukt und wirft sie in den Staub. Ein edler Raptus trägt ihn empor. Polyeukt geht aus der Welt als Märtyrer.

Man sitzt in einem Theaterchen, das schmal, nicht sehr hoch und von stillem innerem Glanz ist; von einem Glanz versunkener Tage. Jeglicher Vorgang abgestimmt. Auch der Beifall durch einen Führer und eine schmächtige Schar verwaltet.

II.

Repräsentatives im Schmerz bildet den Grundzug des Mounet-Sully. Er spielt den Polyeukt; vor allem den Ödipus.

Mit einem Heilandskopf tritt er als armenischer Blutzeuge auf. Ekstatisches und Großmütiges durchleuchtet sein Gesicht.

Und er hebt die Arme zum Himmel. Und er wird zum Standbild. Und schreitet zum Tod. Und sein Gang frohlockt. Und beide Arme ragen in die Wolken.

III.

Verse, voll edler und feiner Antithesen. Wie milde Sturzbäche strömen sie. Alle Dinge scheinen gefühlt durch das Temperament gütiger, taktvoller Edelleute. Nach dem Stall rochen sie nicht.

Es liegt eine packende Macht in der Innerlichkeit des Polyeukt. Man muß das Werk in Frankreich sehn. Ist nur das Konversationsstück der Tragik und des Edelmuts. Und doch: gibt es nicht zu denken, wie wenig Gewalttätigkeit vor zwei und einem halben Jahrhundert; wieviel Vergeistigung, Sänftigung, Rücksicht aus diesen Dramen spricht? Sie enthalten schon die Zivilisierung der eingeborenen Bestialität.

Sie künden heimlich die Überlegenheit der bürgerlichen Gewalt über die militärische; mögen die Worte das Gegenteil sagen. Sie sind Vorläufer des großen Zeitalters der Menschlichkeit, das vom vereinigten Irrsinn Nietzsches und seiner Anhänger verleugnet wird, das aber trotzdem groß war.

IV.

Ich bin hingerissen von Polyeukts Gang zum Tod, – er ruft:

Qu'on me mène à la mort, je n'ai plus rien à dire.
Allons, gardes, c'est fait.

Der Hörer schauert zusammen, etwas Heißes dringt in die Augen. Dies ist das Erstaunlichste. Der Klassiker erschüttert. Unnaturalistisch, ideenlos, dazu noch religiös: und der moderne Mensch fühlt – zwar nicht, daß er »der große Corneille« zu nennen ist. Aber doch, warum er so genannt worden.

Dank Mounet-Sully.

V.

Der ist ein erschütternder Gymnastiker. Nicht lange bleibt er fremd; er nimmt einen mit sich. Schrecklich durchhallt sein Wehegeschrei (und doch repräsentativ) in Theben die Luft.

Blutbesudelt, mit zwei grauenhaft rotblutigen, frischen, rohen Wunden, wo sonst die Augen des Menschen sind, wankt er am Schluß über Höhen und Tiefen; der ausgestreckte Arm wird jetzt zum Taster.

Eine Menschheitsleistung. In gehaltenem Stil und repräsentativ: doch eine Menschheitsleistung.

1899.


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