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Erster Teil.
Lenker

Otto Brahm

Darmkrebs

I.

Man vergißt manchmal, daß ringsum zu jeder Tagesstunde sich furchtbare Dinge begeben; daß Menschen mit tierischen Qualen ihrer Mütter zur Welt kommen; daß andre mit tierischen Qualen nach einem irdischen Aufenthalt aus der Welt gehn.

Man liest nur die Todesnachricht: Der und Der ist gestorben. Hintennach erfährt man, was es mit diesem Scheiden für eine Bewandtnis hatte. Man wußte ganz allgemein: er hat sich »einer Operation unterziehn« müssen; und »an deren Folgen« starb er.

Das bedeutet in Wirklichkeit, daß er zuletzt, als die Arbeit des Messers beendet, und der tiefe, künstliche Schlaf auch vorüber war, Qualrufe von sich gab, dieser Schweigsame, Lächelnde, Zurückhaltende, bis man ihm endlich so viel Morphium spritzte, daß er »sanft« entschlummert ist. Dergleichen steckt hinter der kurzen Meldung, daß Soundso gestorben.

II.

Die Ärzte wußten offenkundig (von einem bestimmten Zeitpunkt ab), daß nichts mehr zu retten war … Die nächsten Freunde kannten das Furchtbare der Krankheit; sie wußten: Darmkrebs; höchstens daß sie glaubten, ihren Freund noch ein halbes Jahr nach gelungenem Eingriff am Leben zu sehn. Von Zufälligkeiten hängt so vieles ab; mit dem Krebsleiden verbunden war hier Zuckerkrankheit, diese verträgt bekanntlich schwer eine Schnittverwundung – also mußte zuvor dem Körper der Zuckerbestand entzogen werden; das war eine mehrwöchige Kur, sie vollzog sich glatt mit dem besten Erfolg … Hätte nun die Narkose nur eine halbe Stunde gedauert, so war eine »Rettung« möglich. Da sie aber drei Stunden dauerte (diese Notwendigkeit ergab sich erst im Verlauf der Operation, das war nicht vorher abzuschätzen): so trat infolge der gesteigerten Zumutung an den Leib der Zucker mit reißender Gewalt abermals ins Innere –; nach fürchterlichen Einzelumständen geschah die Auflösung. Unvermutet in diesem Zeitpunkt; wenigstens für die Freunde. Und für die Ärzte.

III.

Unvermutet … auch für den Kranken? Daß er gewußt haben wird, wie es um ihn steht, als er zuletzt schrie, ist denkbar. Doch vorher. Hier zeigt sich wohl jenes merkwürdige Doppelspiel, das lebensgefährlich Erkrankte mitunter treiben. Sie tun (auch zu nahen Freunden), als seien sie völlig sorglos; als hätten sie nicht den mindesten Verdacht, es könne sich um Ernstes handeln. Kainz mit seinem Darmkrebs sprach immer von einer kleinen Geschwulst, die er sich »jetzt« wegbringen lasse, denn er plane für den folgenden Winter … Dies nicht etwa zu wiener Zeitungsreportern, sondern zu Freunden und nächsten Verwandten. Dennoch gab es Augenblicke, wo zu merken blieb: daß er gewußt hat, in wessen Hand er schon war.

IV.

Was vollzieht sich in der Seele solcher Kranken? Vielleicht wollen sie das Pathos und das Abschiednehmen und die Tränenausbrüche vermeiden  … Vielleicht wollen sie die Wahrheit sich selber nicht bekennen. Spielen die Komödie nicht vor ihren Freunden, sondern vor sich. Vielleicht wollen sie Leichtsinn vortäuschen – auch das ist eine Art Bekundung von Mut. Vielleicht auch (das wahrscheinlichste) sind sie zeitweis ehrlich hoffnungsvoll – und nur manchmal überkommt sie das Bewußtsein, wie es in Wahrheit um sie steht, aber sie machen triebartig die Komödie mit, die von allen Freunden gespielt wird. Sie haben (Ambivalenz!) ein Gefühl, das zugleich sein Gegenteil ist.

Sie glauben auch, solange die Freunde bei ihnen sind, an die Harmlosigkeit; nachts, wenn sie allein liegen und vielleicht etwas Graues vor der Seele niederschießt, nachts ist keiner da, dem sie die Augenblickseingebung mitteilen könnten … diese Eingebung ist: die Wahrheit.

Brahm, nach Kainz gestorben, hat gut gewußt, woran und wie dieser Josef sein Ende fand. Brahm wußte von der Komödie, die um den Kainz gespielt worden. Und er sollte nicht (scharfsichtig, mißtrauisch, wie er war) gewittert haben, daß ihm ähnliches bevorstand?

Er hat Sorglosigkeit an den Tag gelegt? – An den Tag gelegt.

V.

Auch Brahm ließ »jetzt« eine kleine Geschwulst wegbringen. Er hat nichts bestimmt, was etwa für den Fall seines Todes aus Dingen werden sollte, die sein Werk bedeuteten. Aber … gab es denn einen Nachfolger?

»Ich will keine alten Männer mehr zu Besuchern haben, sondern junge Mädel und hübsche Frauen«, sprachen seine blaublassen Lippen scherzend; – daß es ihm nicht zum Scherzen war, zeigt der seltsame Wunsch, sich von dem einen und dem andern seiner Zeitgenossen quasi zu verabschieden. Ein alter Freund hat versichert, daß ihm der vom Tod Erlesene leichthin die Hand gab, lächelnd, daß er aber die Hand nicht losließ und seine Züge sich verzerrten. Soll er geirrt haben? Nein. Es gibt noch andre Kennzeichen, daß er (der »Sorglose«) in irgendeiner stillen Stunde dem Fremden ins Auge gesehen. Zwischendurch kommen dann wieder die lichteren Wogen, die Graues überströmen. Aus Scherz und Leichtsinn … und aus abgründig starrer Schreckenseinsicht im verborgensten Winkel setzt sich die Stimmung eines geistig hohen Menschen zusammen, der die Schwelle zum Schneidhaus übertritt.

VI.

Eines geistig hohen Menschen. Sollen Ärzte nicht in verzweifelten Fällen Leuten dieses Schlags eine Ausnahme zubilligen? Soll man einem solchen Erdengeschöpf nicht sagen dürfen: »So und so steht es. Es ist keine kleine Geschwulst – es ist der Krebs! Du hast ein ganzes Leben lang Mut gezeigt. Du wirst ihn jetzt haben. Triff deine Verfügungen  …«

Was war zu retten? Beim günstigsten Ausgang mochte hier ein höchst Vereinzelter noch ein paar Monat länger atmen – wer weiß, wie qualvoll!

Gewiß darf der Arzt nichts »ungeschehen« lassen, was einen Schimmer verspricht. Aber wie klein ist der Schimmer beim Zusammentreffen von Diabetes und Cancer – und wie war ein Kämpfer, ein tapfrer Geist, es wert: über sich die Wahrheit zu wissen.

Unterrichtet wegzuwandern; nicht überrumpelt. Die Mühe seines Arztes in hohen Ehren – aber soll man einem (in Anbetracht, daß er ein besondrer Fall ist) nicht die Wahl freistellen selbständig, unzerschnitten aus der Welt zu gehn? Er hätte dann zuletzt furchtbare Tage gefühlt – doch er hätte noch ein paar Wochen mit Bewußtsein, in tiefen Zügen (und wenn er etwa selbst reglos in einem Stuhl am Fenster saß und nach der Sonne blickte) – er hätte noch dies schwindende Sein genossen, etwas tiefer geschmeckt. Etwas länger. Unzerschnitten.

VII.

Ich wünsche mir, wenn das kaffrige Schicksal Furchtbares für mich plant, eine gute Dosis von etwas, das von vornherein zu meiner Verfügung stände; so daß ich (als ein mündiger Mensch) sie zu mir nähme, wenn der stärkste, nicht der größte, Augenblick das fordert. Eine Dosis, reichlich genug, den Menschen so schlafen zu lassen, daß er am nächsten Tag umsonst geweckt wird.

VIII.

Wie der Schlaf morgens am begehrenswertesten scheint, wenn man früh aufstehen soll und sich noch einmal umdreht: – so müßten die letzten Wochen eines Daseins, dessen äußersten Rest zu genießen man sich bewußt ist, wunderbar tief, mit zehnfach glückschmerzlicher Gewalt erfüllt sein.

Kein Arzt hat auf der weiten Erde das Recht, hervorragende Kerle darum zu betrügen.

Gewaltig, die letzten Tage vor dem freiwilligen Schluß – wenn man verloren ist. Gewaltig, sie mit Wachheit zu durchatmen, zu durchblicken, zu durchtasten. Einmal noch.

Keinem Besseren darf dies geraubt werden.

Brahm war ein Bester.

1912.

Wer war Brahm?

I.

Am Tage nach dem Tod etwas über ihn zu äußern, wird schwer, weil die Verdutztheit so tief ist. Die Neue Rundschau bittet mich, ihm den Nachruf zu schreiben … notgedrungen lehnt man es ab; es geht nicht.

Doch als man am nächsten Tag etwas ganz andres zu Papier bringen will, … ist man statt dessen bloß fähig von Brahm zu sprechen.

II.

Was man am nächsten Tag hinschreibt, ist etwa folgendes.

Dieser Mensch wird im Gedächtnis Derer bleiben, die seine besondere Art kennengelernt, – so lange sie selber am Leben sind. Etwas Einprägsames ging von ihm aus, was die doppelbödig Schweigenden besitzen. Vor vielen Jahren, ich war Student, schrieb ich ein paar Worte über ihn, der eben von L'Arronge das Deutsche Theater bekommen sollte; ich sagte mit dem unternehmenden Sinn der Jugend, die heiter vorausblickt, allerhand Zuversichtliches, … aber ich fügte dann, das ist mir deutlich eingedenk, zögernd und ergriffen altindische Lieblingsverse hinzu, die beim Schopenhauer stehn; weil dieser Mensch und dieses Antlitz daran erinnerten: »Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen, – sei nicht im Leid darüber; es ist nichts. Und hast du einer Welt Besitz gewonnen, – sei nicht erfreut darüber; es ist nichts. Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen. Geh an der Welt vorüber; es ist nichts.« Daß man hieran denken mußte – von solcher Art war der Mann. Ich muß der Worte heut wieder gedenken, weil er an der Welt vorübergegangen ist; weil dieser Seltene mit seiner zweiflerischen und festen, stummen, großen Art nicht mehr vorhanden scheint. Ich fühle, daß man ihn kaum wegwissen kann. Wir alle, denen er in der schönsten Lebensfrist, im Frühling und im Sommer unsrer Seele, Hohes und Ernstes gab – es fällt uns schwer zu glauben, daß er nicht mehr atmet. Sein Werk war beendet, jawohl; man nimmt ehrlicherweise keinen Anstand festzustellen, daß seine Höhe seit mindestens drei Wintern überschritten war. Doch es kommt nicht in Betracht vor allem, was nie zu vergessen ist.

III.

Ein bartloses Gesicht; mit Zügen, die halb humorhaft-entsagend, halb unerschütterlich-glaubensvoll und widerstandsfähig gewirkt. Geschlossene Lippen. Der Mann machte kein Aufhebens. Alles Pathos lag ihm fern: alle Nachgiebigkeit auch. (Zwischendurch hat er laviert!!! dann beschimpften ihn meine Sätze). Ein schlichter Kämpfer, dem schon das Wort »Kämpfer« zu lyrisch geklungen hätte. Gefaßt-ernste Beseelung. Einer, der (unfeierlich gesprochen) seine Fahne noch im Kugelregen ohne Wimperzucken vorwärts trug. Die Leute haben seine Kunst nicht gewollt – aufgezwungen hat er sie ihnen; lautlos, schmucklos. Herabgestiegen ist er nicht; hinaufgehoben hat er Zehntausende. Nichts von allen Gefälligkeitskünsten, die wir heute sehn, von Reklame, von Brimborium, von Umschmeicheln und Jahrmarktslockung; er gab sich selbst; er schuf sein Werk … bis sie zu ihm kamen. Er war eine ethische Macht: nicht nur eine künstlerische.

Lächelnder Ernst zäher Unbeirrbarkeit.

IV.

Otto Brahm. Ich war die letzten vierzehn Jahre mit ihm verfeindet; wir grüßten uns nicht – aber ich habe keinen meiner Freunde mehr geliebt. Ich wußte mich ihm nah; er hat es auch gewußt. Nicht zwei Wochen vor seinem Tode hat er mir, nach dieser langen Getrenntheit, ein paar Zeilen geschickt; als er ein verlorener Mann war. Einen letzten Gruß. Und ich weiß heute nicht, wie ich ihm danken soll. Dieser Klang wird nicht verklingen. Dies Gedächtnis nicht verblassen. Dieser Umriß nicht im Wirrwarr des Lebens hinabgleiten.

Ich denke weit zurück; er war ein freier Schriftsteller, ich auf der Universität; ich sah ihn damals zum erstenmal; auf der Germanistenkneipe – der ich heut meilenfern bin … Dann kam die Zeit, wo er den Plan erwog, eine Wochenschrift, »Freie Bühne«, herauszugeben; alles das besprach man, auf der Kneipe. In seinem Kleistbuch, das schon vorlag, hatten jüngere Menschen allerhand gefunden – zumal an dem wortkargen Schluß –, was Etliches in ihnen erbeben ließ. Es war eine Form des Schweigens: Tragisches durch sich selber wirken zu lassen. Das Merkwürdigste blieb der Mann, der solche Bücher und Aufsätze verwandter Art schrieb … Dinge, die heut in ihren Eindrucksmitteln wahrscheinlich überholt sind. Der Mann mit seiner kaustischen Wesenheit, der manchmal glänzende Kalauer, wie um sich auszuruhn, in das Gespräch warf und hier dreinblickte, als habe er nichts gesagt und stehe dem Weltgetrieb höchst zweifelhaft gegenüber; durch den aber ein geschlossener Idealismus leuchtete.

V.

Er war damals ein Gast in diesem Kreise von Professoren und blutjungen Kerlen, in deren Mitte sich auch Böcklin eines Abends befand. Brahm redete viel von Gottfried Keller, der ihm nahe lag; er hatte just eine Schrift über ihn erscheinen lassen. Er sprach von Schiller, über den er ein Buch schrieb. Eines Tages lief ich ihm auf der Leipziger Straße in den Weg; wir spazierten ein Stück, und ich weiß noch, wie er verwundert und abmahnend auf mich einredete, weshalb ich an dem Plan einer Habilitation festhielte, … ich solle doch Schriftsteller werden. Das ging mir sehr durch den Kopf. Es hat auf die Wahl meines Berufes mitgewirkt.

Brahm hatte niemals etwas Anreizendes … er glich eher einer verfemten Gestalt, denn allerhand Erfahrungen aus seiner Schriftstellerlaufbahn gingen gerüchtweis um und ließen ihn halb und halb in wunderlichem Licht erscheinen. Dazu als Leiter der »Freien Bühne« verbellt und mit Kugeln förmlich, gespickt. Mancher härteste Haß lehnte sich gegen ihn auf – dieser Brahm war nicht gut dran. Aber man fühlte bei allem, wie er weiter ging … wurstig lächelte, die Lippen geschlossen hielt. Ich entsinne mich noch eines Abends; der Student und der Kneipengast schritten mit einem kleinen Schwarm nach dem Schluß durch die Straßen; Brahm sagte: »Morgen ist eine Premiere im Lessingtheater« (Blumenthal war der Direktor davon), »ich muß hin.« Er schrieb damals noch Kritiken. »Kommen Sie auch?« – »Ja!« – Ich ging am nächsten Abend in den zweiten Rang; der Verfasser des Stückes war ein gewisser Sudermann; es hieß »Die Ehre«. Im Zwischenakt und am Schluß sprach ich mit Brahm; er machte wundervolle Bemerkungen – und ich schäumte meine schwere Abneigung wider das Stück heraus. Man hätte damals nie denken können, daß er Sudermann später spielen würde.

Er hat es getan, um sich eine klimpernde Grundlage für die weitere Förderung Ibsens zu schaffen – das gestand er ein … Mit Otto Brahm zusammen sah man zum erstenmal Gerhart Hauptmann, dem Brahm dankte man die Bekanntschaft, es war nach der ersten Aufführung von »Hanneles Himmelfahrt«. Mit Brahm stand man vor dem drohenden Zusammenbruch des von Kainz und der Sorma verlassenen Theaters, – das er ohne sie zur höchsten Höhe gebracht hat. Mit Brahm zusammen erstieg aus Nebelgründen und Sonnenfernen und Lebenstriften ein Glück tappender, ahnender, leichtsinniger, durchseelter Jugend. Dann kam der Krach. Ein Auseinandergehn – und ein ewiges Zusammenbleiben.

Heut liegt er im Sarg. Ich kann es nicht glauben. Aber ich möchte noch einmal seine Hand packen.

VI.

Ich setze hier ein paar andre Steine seines Mals zusammen. (Wenn Etliches davon später wiederholt wird, – es tut nichts.)

1902. Ein Ausbruch:

Brahms Herrschaft geht zu Ende …

Otto Brahm, geboren zu Hamburg, emporgestiegen anno Freie Bühne, heimgegangen an Mutarmut. Er suchte, auf den holden Anger der Kunst gestellt, nicht vorwärts in möglichst leuchtende Fernen zu dringen; sondern möglichst viel Gras abzufressen. Das erschütterte sein Ansehen. Das durchlöcherte sein Bild.

VII.

Brahm, der eigentliche Schöpfer einer europäischen Bühne, macht, wenn finanziell alles mißlingt, dicke Zugeständnisse; doch in der Hauptsache ließ er stets die Leute zu sich kommen. Er war kein Liebling.

Ein Reformator: nicht ein Erfüllerchen.

Ich kann anders nicht zurückdenken als meinem Sommergesetz der Halbierung-Verdoppelung untertan. Etwas Stärkstes bleibt in mir, was sehr tiefe Kunst bedeutet: Ibsenvorstellungen bei Brahm. Was tiefe Kunst bedeutet – und zugleich doch in mein Atmen langt. Am Ende dieser ganzen Herrlichkeit lebt es noch. Inmitten des Zaubers bedrängt es mich. In Taumelstimmungen schwingt es mit. Das ist die schwarze Gloria. Das ist die stille Hand, die in große Gänge, in schlummerndes Versinken, in jede ehrlich letzte Zwiesprach hineinspenstert und in alle krudelwilde Magie. Dies ist das Eis, das nach jedem Klettern oben wartet. Keine Bühnenkunst mehr: sondern eine Lebensangelegenheit … Im Sommer, wo ich mit Engländern auf fernen Schiffen im Atlantischen Ozean kreuze, wo ich über die braune Asche des größten Feuerbergs dieser Erdenwelt hinaufsteige nach Luftvorsprüngen, tief unter mir Bananenwälder, die brüllendheiße großmütige Flut, ja nach Vorsprüngen des Vogelflugs, mit grün triefender Lava, deren Grat um einen Halbmond bald selig-schauerlich verringert, bald um einen erhöht ist; über mir der Tod, das Eis dieser Kanareninsel, unter der Sonne, der Sonne, die man im Deutschen Reich nicht kennt … dort spricht eine Theatervorstellung. Nein: ein ganzer Ibsenstrauß. Es ist nicht mehr Bühnenkunst: Lebensangelegenheit. Wie eine Warnung … Packt ein, alle miteinander. Der Winter hat gewußt, was es bedeutet; der Sommer hat bestätigt, was es bleibt. Nichts Künstliches: sondern wie Seefahren, Mittag und Nachtschauer ein Daseinsteil, durch keinen Flitter getrennt von der vergehenden Helle. Seelenstimmen.

VIII.

Vor diesem Borkman zogen andre Schicksalsglieder vorbei, bis zu den erwachenden Toten und erwacht Sterbenden. Es ließe sich mit den Worten des Theaterschmußes beifügen, wie die herrliche Schauspielerin E. Lehmann hinriß; und vom Reicher, wann er schwach (auch wann unverstanden groß) war: aber von dem Ganzen könnte man so nicht sprechen, wenn es nicht so dargestellt würde. Wenn alles nicht eine gewisse Seelenluft umhüllte. Da, meine Lieben, Parkett sechs Mark fünfzig kostet, steht es fest, wo man seine Kirchensteuern bezahlt. (In Bayreuth nicht.)

Eyolf! Die Marschmelodie der Verlorenen und Beharrenden. Ein sozusagen bürgerliches Ewigkeitswerk. Nicht so gespielt wie Borkman: doch man hat, und nur in diesem Hause, das Gefühl von etwas über das Theater Hinausgreifendem.

IX.

 … Ich stand vor etwas, das mich im Tiefsten bewegt hat. Das war es vor aller Kritik. Nachher kam einem der Gedanke, auch vor einer Kunstleistung zu stehn.

Für diese Kunst gibt es kein andres Wort als: Vollendung. So an ernster Innerlichkeit wie an sinnfälliger Schlagkraft. Es war ein Vertiefen, Zusammendrängen, Herausheben, Rhythmisieren … der Eindruck von etwas Technischem schwand vor solcher Beseeltheit.

Dies Haus ist kein Theater: sondern ein Menschenhaus.

X.

 … Er, dieser Einzelne, dieser Mann, ist nämlich die Freie Bühne.

Er feiert ihr Gedenken.

Als der deutsche Schöpfer eines europäischen Schauspiels. Als der tiefste Bahnbrecher seit hundert Jahren. Als welcher das Neue dem Publikum wie etwas Feindliches aufgezwungen hat. Als welcher Ballungen des Bedeutenden gab und ein Riesenwerk im Kugelregen. Das einzig Ernste, Kühne, Zähe, Große seit Geschlechtern und Geschlechtern.

XI.

 … Das Beispiellose dieser Arbeit. Alles ist vergänglich. Auch dies wird hingehn. »Andre Zeiten, andre Vögel; andre Vögel, andre Lieder.« Doch sicher ist eins, darüber hinaus: eine große Epoche wird hier gekrönt.

Für das geredete Bühnenwort die stärkste seit hundert Jahren.

Es nützt alles nichts, es muß wieder gesagt werden; wennschon der Mann, der auf den alten Brettern dies Werk schuf, in keiner Gunst steht – und nach niemandem gegirrt hat.

XII.

 … Blieb man dem Theater nur eine Zeitlang fern, so erblickt man wieder alles neu. Es wird in diesem Hause kaum geklatscht, kaum gezischt – doch alle wissen, was vorgeht. Noch Äußerlichkeiten bemerkt man. Die Schauspieler bleiben unsichtbar, wenn die Gardine sank. Aber Augen, Seelen, Geister wirken fort in dem Raum …

Dieser Ibsen-Zyklus ist schon etwas Absonderliches. Eine Ballung des Bedeutenden … Es geschieht, man staunt halb darüber, unter stärkstem Anteil einer großen, seelisch wundersam-erzogenen Hörerschaft.

XIII.

 … Nichts abgelassen, nichts abgerundet zu schlagender »Wirksamkeit«. Es ging hier etwas vor: wie sich das Leben zuträgt. Lebendes, schreitend, ruhig, fahl, unaufhaltsam.

Das Wort »heroisch« klänge nach Pathos.

Die Gerüstlinien des Werks treten hervor – staunenswert. Noch die Einzelheiten der seltsamen Stahlnähte: staunenswert. Auf der Bühne herrscht beseelter Geist eines Erdendichters; basta. Was erkennbar wird, ist eine Perspektive des Daseins: unverkürzt, unbeeilt, unverziert. Ein Starker wird enthüllt, ohne Rücksicht auf ihn selber. Man schont ihn nicht: man stellt ihn dar. In dieser Echtheit fehlt sein Zeitliches nicht. Alles an diesem eisgrau gewaltigen Kerl tritt gewaltig hervor; nichts vernebelt in Stimmungsreizen. Seine breite Macht erscheint riesig, – wie auch das Anfechtbare, worin er »Kind seiner Zeit« ist, heraustritt.

Gesteigert wird nichts, bloß ganze Statur. Ein Charakterbild, lebensgroß und ruhig und schauerlich. Allerheutigstes Format ohne weiche Nebenwirkung. Ein Wuchtwerk in lebensgroßer Fahlheit. Gegen den Schluß fließt alles zäh dahin, wie der Schmerz von Eltern und Kindern bei Bestattungen nicht den Augenblick des hellsten Schmerzes mehr bedeutet. Man erlebt ein Bild von der dämmrigen Fühllosigkeit des Schicksals-Tiers, mit der impassibilité, die Flaubert von starker Darstellung verlangt. Peractum est.

XIV.

 … etwas Neues (und Altes) aus diesem Haus, das uns die tiefsten Wirkungen gegeben hat und die einzigen, die nichts mehr vom Theater in der Erinnerung behalten. Es ging etwas vor: ich hinterlasse nicht Schauspieler, sondern Menschen, denen es passiert ist. Grübelndes, Fragendes, Entsetzlich-Alltägliches über und in einer mechanisch forterbenden Materienwelt. Eine stumme große seelische Leibhaftigkeit: das ist es.

XV.

 … Dies alles, diese Zumutungen des Brahm-Theaters, tief mit Wesensentfaltungen innerster Art verknüpft, gibt es nicht in andren Ländern, nicht in andren Häusern: bloß hier. Das hat dieser Schöpfer einer europäischen Bühne wachsen lassen und der heutigen Welt eingefügt.

XVI.

 … Es ist das einzige Theater, das man nach der Rückkehr sehen kann. Introite, nam hic homines sunt.

XVII.

 … Was ich erlebte war kein Theater mehr. Es war etwas an innerlicher Darstellungskraft ganz Seltenes. Größte Schauspielkunst. Hier liegt es, was uns bewegt; was uns angeht. Diese kaum beschreiblichen Wirkungen kommen nicht wieder. So bald nicht.

Es wäre recht einfach, von den Namhaften, von Nummern zu sprechen  … Nein; das Erstaunliche lag darin: wie namenlose Leute, mittlere Leute, schlechte Leute gebändigt wurden, eingeordnet wurden … und hochgebracht wurden. Es ist die Luft, an der sie genesen. Das kommt nicht wieder.

Es gibt in diesem Theater nur ein Ganzes; ein einziges dunkel Lebendes; eine gewaltige Hoffnung, ein gewaltiges Leid: ein Beethovenwerk.

XVIII.

 … Also diese Leute (Stanislawski's) hatten … ich will zuerst sagen, daß sie am Schluß mit der Darstellung des Volksfeindes scheiterten … gleichviel: sie hatten in vier russischen Stücken eine unerhörte, auf diesem Feld einzige Kunst des Zusammenspiels gezeigt; Dinge, die in ihrer Selbstverständlichkeit etwas ganz Großes bedeuten … Man soll nicht rechten; unsre Kenntnis des Möglichen ist durch ihr Zusammenspiel erweitert worden: sie brachten die Pausen des Lebens, das Verdämmernde, die Daseinsvergänglichkeit selber in dieser Slawenwelt auf eine nie zu vergessende Art. Sie haben nicht Shakespeare gespielt, … aber wenn Stanislawski, der bei Gorki den Ssatin gab, einschlief und verschollenes Hundegebell irgendwo herüberdrang: so war das Shakespeare. Ich finde keine andren Worte als nach dem ersten Hören.

Den Brahm streifen sie nicht … mit seiner seltenen Kunst für den Ausdruck hoher, jetzt lebender Einzelmenschen.

XIX.

Das Folgende schließlich war dem wiedergekehrten G. E. Lessing in den Mund gelegt:

»Diese Menschen, die ich in Herrn Brahm seinem Hause traf, stellen für mich keine Schauspielergruppe vor, sondern eine Schar von Betroffenen. Sie sind ein Schwarm Leute, denen es passiert ist. Wirkungen von so einer Gewalt hat nur die Wirklichkeit zu geben. Wie nennen Sie diesen Aufführungskranz? Ballungen des Bedeutenden, sagten Sie? Ich will Ihnen beistimmen. Es scheint etwas ganz Großes zu sein. Ich bin ein alter Kunstbetrachter, meine Kunstbetrachtung liegt heute so hinter mir wie meine Streitigkeiten, und wenn man sich gleich auf das Gefühl nicht verlassen soll: so kömmt mir doch ein sicheres Bewußtsein, daß ein Höhepunkt der darstellenden Kunst hier auf zuvor niemals dagewesene Art erreicht ist. Die Gerüstlinien der Werke treten heraus; doch erstaunlicher, daß trotzdem, in tiefen Auftritten, mit Leben und Sterben, alles dem Wuchern und Blühen wirklichen, nicht kunstvollen Vorsichgehens gleichkömmt. Auch wird, nach meiner Beobachtung, nichts abgerundet, nichts verkleinert. Der Prinzipal bringt die Gerüstlinien: doch er geht nicht allein auf das Handliche, das Epigramm. Er will nicht zuspitzen, sondern behält das Unbequeme des Formates der großen wirklichen Dinge. Es ist mir, glauben Sie, wohl aufgefallen, wie stark die Forderungen sind, welche die Besucher nicht allein an den Direktor: sondern welche vielmehr dieser an die Besucherschaft richtet. Seine Forderungen müssen einen Schwarm von Menschen emporgewertet haben, gesteigert haben, Sie sehn, ich bediene mich gern schon Ihrer Ausdrücke. Und zwar fordert Herr Brahm, dünkt mich, alles zu dem einen Zweck, daß die Entwicklung der Charaktere (oder wie Sie wohl sagen, der inneren Menschen) in Lebensgröße könne vor sich gehen. In dieser Sicherheit allein mögen die Schauspieler (von einem Kopfe gelenkt, der bei beherrschendem, kämpfendem, weisendem Verstande der ernstesten Affekte muß fähig sein können) … mögen die Schauspieler den Mut finden, wie das Körperliche auf den Bildern der holländischen Maler, so ihre Seelen holländisch unbekümmert, ohne Nachsicht zu entfalten« …

»Ja, seine Leute bringen,« bemerkt' ich, »nicht Ausschnitte mit Dramenfront, sondern zum erstenmal in der Geschichte des Theaters ganze Menschen. Die Aufführung dieses Gesamtwerks, mit der ein ungeheures, gegliedertes Symbol, ein furchtbares und wundersames Weltbild mit schweren entschwebenden Schicksalen unsrer Genossen, unsrer Mitlächelnden, unsrer Mitverurteilten stabiliert wird: die Größe dieses Unternehmens hat ihresgleichen im gesprochenen Drama nicht gehabt. Es ist ein Abschnitt. Nicht der Eingang zu einer neuen Kunst des Theaters. Sondern ihre Blüte …« (sagt' ich). »Und während die Luft mich dieses dunkelwarmen Abends umfängt, während ich fühle, daß mein Herz noch seinen Schlag tut: währenddessen weiß ich von diesen Menschendarstellungen (in einem Ichbezirk, wo Nachdenklichkeit der Kunst und Nachdenklichkeit des Atmens zusammenfließen) – daß eine große Epoche hier gekrönt wird.«

XX.

Es bleibt für heute die Feststellung, daß er am 28. November 1912 gestorben ist.

Das Falscheste wäre zu glauben: daß Brahm der Schöpfer einer »Richtung« war. Er war: der Grundleger für ernste Möglichkeiten.

(Zwischen ihm und seinen Vorgängern ist die Kluft riesengroß; zwischen ihm und seinen Nachfolgern winzig.)

Er war: der Ahnherr einer Bühne für heutige Menschen.

1912. 6. Dezember.

Totenrede

Gehalten im Lessingtheater am 22. Dezember 1912 zur Totenfeier für Brahm. Hier stehn die Eingangs- und die Schlußworte.

I.

In Henrik Ibsens Vaterland besteht die Sitte: daß nach dem Heimgang eines großen Menschen Solche, die ihn geliebt, zu dem Toten treten; Mann für Mann; Einer nach dem Andren; und daß Jeder, mit seiner Stimme, Zeugnis ablegt für ihn; einmal noch; bevor die Welt weitergeht, der Ewigkeit zu. So trat ich mit den Norwegern, im Nordland, zum Leichnam Ibsens.

So will ich zu Otto Brahm treten.

Nicht um zu trauern: sondern um festzustellen.

Um Zeugnis abzulegen zum letztenmal (nein: nicht zum letzenmal!) für die Beschaffenheit des Mannes, welcher gewesen ist: der Ahnherr einer Bühne für heutige Menschen; der Paulus Henrik Ibsens; der Helfer Hauptmanns; in seiner Kunst der deutscheste der Deutschen.

II.

Das Pathos war diesem Hamburger fremd – doch in seinem Daseinswirken ruht ein tiefes Pathos. Er hatte die Gebärde des Lächelnden – doch er war ein Reformator.

Nicht trauern: feststellen.

Otto Brahm bedeutet den stärksten Einschnitt in der neuen Bühnengeschichte. Kennzeichnend ist und denkwürdig: der Abgrund zwischen seinen Vorgängern und ihm. Gotthold Ephraim Lessing (der andre hamburgische Dramaturg) schrieb vor einem Jahrhundert, sehnsuchtsvoll und auslugend: »Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst.«

Otto Brahm war der schmuckloseste Erfüller eines Jahrhundertwunsches.

Des Wunsches: nach einem hohen, entbarbarisierten, allein auf Innerlichkeit gestellten Schauspiel.

Er war der deutsche Schöpfer einer europäischen Bühne.

III.

Brahm kommt in Deutschland, zeitlich, nach den Meiningern und nach L'Arronge – (deren Nachfolger heut am Ruder sind; mit etwas mehr Glanz; aber doch im wesentlichsten als ihre Nachfolger).

Nach den Meiningern und L'Arronge, nach einer veredelten Theaterkunst der Extensität … schuf dieser Brahm (mit wunderbarer Folgestärke) die höchste Kunst der Intensität.

Als Erster und nie Erreichter. Dies gab es nicht in andren Ländern; nicht in andren Häusern: bloß hier.

Antoine hat in Frankreich Ähnliches versucht; in geringerem Grad.

Antoine gab ein recht gemischtes Theater des sogenannten Realismus: der Brahm aber schuf ein Seelentheater.

Antoine spielte fast jeden, der damals eine Brutalität in vier Akte gebracht, ohne wer zu sein: der Brahm aber stieg in den Norden; holte sich von da den Tiefmächtigen; mitten heraus; für sein Lebenswerk.

Er hätte die Wahl gehabt zwischen Ibsen, Björnson, Strindberg.

Er nimmt … nicht den Björnson; der die Hand eines prächtigen Bauern, den Blick eines Schauspielers (und eine edel erfreusame, herrliche Trivialität hat).

Er nimmt … nicht den Strindberg; (denn Ibsen ist ein Dichter von Menschenschicksalen; Strindberg nur ein Dichter von Monomanien. Ibsen ist eine Macht im Sittlichen: Strindberg nur eine Macht im Hassen. Ibsen ist ein Schöpfer von Menschen: Strindberg nur von Einzelzügen. Ibsen gibt das Fleisch und das Skelett: Strindberg gibt meistens nur ein Skelett; und ein Ausnahmeskelett.)

Brahm nimmt nicht den Björnson, nicht den Strindberg; sondern blickt auf den Stärksten: dessen Helferkraft liegt in einer erschütternd tiefen Vorstellung aller innigsten Daseinsinteressen.

Den Gewaltigsten der Zeit holt Brahm – wie er aus Deutschland den uns Liebsten holt.

(Dann erst kommt der große Russe Stanislawski und lernt von Brahm, er bekennt es offen – wie Tschechoff von Hauptmann lernt.)

IV.

Dieser Otto Brahm, der ein Eckstein ist, hat seine europäische Bedeutung niemals einkassiert: er hat sie nur gehabt.

Als unsre Bühnenkunst am höchsten stand, wäre sie, um in Paris oder London beklatscht zu werden, viel zu selbständig, viel zu tief gewesen. (Für die Vereinigten Staaten war sie von vornherein hoffnungslos.)

Manche von Ihnen haben diese größte Zeit der Bühne mit erlebt – und Sie wissen, daß Brahm niemals das Hosianna der Massen gehört hat; sondern erst spät eine fast widerwillige, wenn auch ganz tiefsitzende Verehrung empfing: von den Besten.

Er war eine ethische Macht: nicht nur eine künstlerische.

Er war niemals der Schöpfer einer Mode: sondern ein Zwingherr zur Vertiefung.

*

V.

Die Schlußworte der Rede haben gelautet (nach der Wertung seines Schaffens im einzelnen):

So steht er da; ein stiller Bahnbrecher; um ihn schwebt etwas von helldunklen Farben … und dunkelhellen Klängen: von den Schutzpatronen Rembrandt und Beethoven. Und wir danken ihm heute für das, was er der bestehenden Welt eingefügt hat.

Das alles sind Dinge, welche die Lebenden nicht vergessen … und Späterkommende durch den Zeitendämmer ahnen werden. Daß ein Höhepunkt der darstellenden Kunst hier erreicht ist.

Der Mann, der ihn erreichte, hat sich … wohl nicht nur als der Statthalter Ibsens gefühlt: sondern (bei aller Schlichtheit; wenigstens unbewußt) als Statthalter von Mächten, die einem sagen: »Sei stark. Erfülle deine Sendung. Wanke nicht.«

Nur daß er es nie in diese Worte gekleidet hätte.

VI.

Er weiß nicht, daß wir hier versammelt sind. Wir aber wissen: daß der Mensch, der vor ein paar Wochen sprach, lächelte, einherging, – daß er ein Stück Geschichte war. (»Geschichte« heißt ja nicht nur die Geschichte einer zurückgebliebenen Diplomatie, körperlicher Masseneingriffe: sondern auch die Geschichte menschlichen Aufstiegs durch die Kunst).

VII.

Verloren haben wir einen seltnen Menschen: gewonnen haben wir einen großen Begriff.

Der Begriff Otto Brahm wird überall dort leben, wo das Theater dieser Erde seelenhaft, ernst, stark ist.

Nicht mehr die Vorstellung einer Person: sondern die Vorstellung eines Wertes, des Wertes unverbrüchlicher Echtheit, ruht in den zwei teuren Worten (die jetzt weniger sind als sie waren, aber jetzt mehr sind, als sie waren):

Otto Brahm.

VIII.

Sein Name lebt. In lichten Lettern.
Ihn überwährt der hohe Ruf
Des Ahnherrn, der auf deutschen Brettern
Den Seelen ihre Heimstatt schuf.

Auf ewige Seiten, die nicht lügen,
Schrieb seine Hand in hehrer Schrift
In tiefen, menschenernsten Zügen
Was uns betrifft.
Was uns betrifft.


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