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Zweiter Teil.
Schauspieler

Die Duse

I.

Diese Fürstin, welche die Menschen schöner und mitleidsvoller macht, die Seelen vertieft und die Augen in Träume flicht, welche die Trauer und das verblutende Weh dieses rauschenden Daseins in Gestalten zwingt und ein Vergänglichkeitslachen zu lachen weiß: sie wandelt in der Mitte dieses Buches, an seinem Eingang, an seinem Ausgang und an den übrigbleibenden Stellen.

Hier wird über die Duse gesprochen, auch wenn von Andren die Rede ist. Sie bleibt ja die Norm für jede Verinnerlichung.

Fraglos ist die außerdeutsche Schauspielkunst nach Rassen zu scheiden. Frankreich hat die größten Techniker, – Italien die Genies. Der Abstand ist genau so groß wie zwischen der Réjane und der Duse, genau. Dort der köstliche Glanz: aber hier der Ewigkeitszug. In Frankreich gibt es das Wundervollste; in Italien das Wunder. So stehn die Dinge; nicht anders.

Die Duse hat vielleicht in neueren Tagen die gedrängte Innigkeit nicht mehr wie beim Auftauchen, anno 1894. Alles entfaltet sich loser, wird allgemeiner. Ihr Anteil ist vielleicht schwächer, die Linien werden schöner. Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe: so zauberstark umwühlend wie ehemals ist es längst nicht mehr.

Und mit alledem ist sie … um doch etwas zu nennen: eine Kameliendame, eine Locandiera, wie keine vor ihr, mit ihr, nach ihr eine Locandiera, eine Kameliendame wird sein können – will sagen: ein leidender oder lachender Mensch. Denn Rollen sind ja für sie nur Vorwände. Damals schien sie kränker, vertiefter, gelähmter, konzentrierter. Zehn Jahre danach winkt ihr wieder das Leben ein bißchen und lenkt sie ab, die Versunkenheit schwindet. Sie ist gesünder, – und von diesem Jahrzehntekampf in der Gestaltung auch erschöpfter.

Aber sie kann nicht aus ihrer Haut. Sie muß bleiben, so groß, wie ein Traum sie geschaffen. Wenn sie nur diese Art des Humors hätte, der nie hinreichend gewertet worden ist. Noch ihre Anmut hat eine besondere Tiefe. Sie ist ein Genius auch des Schalkhaftesten, sie lächelt wie keine … und durch ihren Mutwillen klingt ein Vergänglichkeitston, unvergänglich. Sie scherzt und spaßt und wirft sich in einen Stuhl und stemmt die Arme in die Seiten – und über ihr schwebt doch ein Ewigkeitsschimmer; eine Erinnerung an die seltsame Beschaffenheit dieses rasch dahinfließenden bitterherrlichen Lebens. Sie hat in der Lustigkeit die verborgene Trauer; im Lächeln die Kehrseite; in der Heiterkeit den Schmerzenszug.

Was ist dieser ganze Humor andres mit seiner Unterströmung, als die großen Musiker menschliche Lustigkeit gestaltet haben? Was ist ein beethovensches Scherzo? »Das Ende vom Lied« nennt Robert Schumann ein lustig tolles Stück, worin es über Stock und Stein geht, bis zuletzt seltsame, leisere, verschollene Klänge sagen: das ist das Ende vom Lied.

 … Noch ihr Lachen birgt die Kehrseite. Weil sie so ist, kann sie ein menschliches Erlebnis werden – sie konnte es, damals, für jemand, der von ihr die ersten altruistischen Regungen in die allzu harte Gesundheit eines vierundzwanzigjährigen Herzens empfing.

Und gefeit für die Dauer eines Daseins, seh' ich sie auch heute, wie sie war.

Und wenn sie tot sein wird, werden wir sprechen: wir haben sie noch gekannt.

II.

Die Magie und Gloria eines wundersamen Menschen leuchtet eine Frist in unergründlichem Feuer; wer in dieser Zeit seinen Zauber erfährt, wird die Erinnerung in alle Zeiten retten. Ja, man erlebt an ihr heut Augenblicke, wo die Leitung stockt. Wenn früher alles aus einer Empfindung drang, ordnet sie nun manche Einzelheiten. Wird ihr auch Ibsen Grundlage zur Entfaltung eignen Gelüstes? Natürlich kann sie niemals eine nordische Hedda sein. Sie gibt hier ein feingliedriges, temperamentreiches Kätzchen, das Überkätzchen aus dem reifen Süden; sie gibt hier die feinere Anmut erlöschender Kulturen. Die Hedda ist aber eine große, kalte, nordische Katze; ein wenig bewegliches, blinzelndes, hartes Raubtier. Der ganze Typ in seiner verstockten Kühle bleibt dem südlichen Himmel fremd. Hedda hin, Hedda her: die Duse hat zwei Augenblicke, in denen sie auf eigne Kosten unsterblich ist. Als Lövborg eintritt, zum erstenmale, reicht sie ihm die Hand, – mit einer großen, nie zu vergessenden Gebärde: wie die Walküre dem Drachentöter. Nicht anders. Die ganze Person leuchtet in Menschheitsstolz, in ernster, jauchzender Größe. Dann schreitet sie durchs Zimmer, und ihr Gang ist Musik, sie wird gehoben und getragen; bis dahin hatte sie sich geschleppt. Ein Augenblick, wie ein Genius ihn schaffen kann. Und zum Schluß … zum Schluß versagt sie Lövborg die Hand. Als sie ihm den Revolver gereicht hat, den Tod in Schönheit zu sterben, wächst sie zu einer Sagengestalt; er streckt seine Hand zum Abschied entgegen, sie aber zieht ihre zurück, aufrecht, mit einer kühn entschlossenen Bewegung, und sieht ihn leuchtend an, den Gehaßten, den Geliebten, zum letztenmal – wie die Walküre den Drachentöter; nicht anders.

Es gibt keine Brücke von Italien nach Norwegen: doch es gibt eine zwischen der Duse und Henrik Ibsen. Richtiger erfassen werden andre die Hedda; größer spielen wird sie keine.

III.

Eines denkwürdigen Donnerstags gab sie die Silvia Settala in der Gioconda. Vorher hatte es geregnet, und böse Sterne strahlten. Doch an diesem Abend, Leser, schwebten Cherubim niederwärts und umkränzten das todblasse Bild der einzigen Frau mit unsagbaren Lichtern. Die Gioconda selbst wurde von einer reizlos dicken Künstlerin gespielt. Was tat es? Wer denkt an dieses Stück? Die alte, süße Magie sank herab, sie leuchtete noch einmal in überirdischer Gewalt. Sie liebkoste die Sirenetta, mit den Lippen, der Hände beraubt, sich sehnsüchtig anschmiegend. Die Kleine fragt – sie vermißt etwas. Da spricht die Duse mit einer stillen, verschollenen Stimme, worin der Kummer der letzten Kreatur liegt: »Ich habe keine Hände« – und das Merkwürdige geschieht: ihr Antlitz verfärbt sich, die Augen füllen sich langsam mit schweren, bitteren, herabfließenden Tränen.

IV.

Alle, die im Theater sitzen, werden verbunden durch ein Gefühl. Die Zwistigkeiten erblassen, die Unterschiede schmelzen, das Menschliche bricht vor. Die Duse spielt … etwan eine ruchlose Gattin, Césarine, »la femme de Claude«. Wieder ein Dumas, – aber es kommt ja so wenig auf das Stück an. Sie erscheint als ein Truggeschöpf voll unsauberer List, mit schlechten Neigungen, voll Verbrecherinstinkts, ganz naive Kanaille, ganz berechnete Dirne. Nur in einer Szene sucht sie ihren Mann wiederzugewinnen; sie liebt ihn; es ist ihr ernst. Die Duse entfaltet hier  … alles. Man sitzt staunend und erbebend, das Wunder vollzieht sich; man fühlt an Stellen, wo sie nur einen gassenjungenhaften Reiz verkörpert, wie einem die Tränen in die Augen schießen. Es ist das letzte Frohlocken, daß solche Seelengliederung leiblichen Ausdruck finden kann. Daß ein Mensch in der Fülle des Bösen, aber doch ein Mensch, sich so wundersam entschleiert; daß die unterste und innerste Regung der wandelnden Kreatur schimmernd von einer Zauberin bloßgelegt wird. Ja, man möchte rufen: werfet keinen Stein auf diese Césarine, werfet keinen Stein auf keinen Bösen, – denn sie ist ein herrlicher Organismus, ein Wunderwerk in ihrer Schlechtigkeit, gepriesen sei die selige Macht, die Bestien dieser Art geschaffen; gepriesen sei die einsame Gloria des vielgestaltigen, unermeßlichen Sündertums; gepriesen sei die Dämonie Himmels und der Erden, die solche Kreaturen zeugt, – werfet keinen Stein auf keinen Bösen.

*

So sind die Wirkungen ihrer späten Zeit. Die späte und die frühe strömen ineinander.

In Jahrhunderten einmal erscheint ein Mensch ihrer Gattung.

Ohne Nachbarschaft leuchtet sie und verglüht.

1903.


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