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Stanislawski

Menscheneindruck

I.

Stanislawski ging am ersten Abend in den Pausen durch die Korridore, nicht allzuweit von seiner Loge.

Schritt durch einen Teil der Korridore; jugendlich-weißköpfig, ein ganz langer Mensch von einer fabelhaften, trockenschwermütigen Eleganz. Schwermütig ist noch zu viel: eine trocken-resignierte, selbstverständliche, nicht laute Eleganz. Irgend etwas Begreifend-Anständiges im schlichten Blick, das der Hochherzigkeit wohl näher kommt als der strammen Zuverlässigkeit. Es wirkt eine tiefe, selbstverständliche Neigung beim ersten Sehen. Man wird ihn kaum hinreißend nennen; ja, etwas Trocken-Hinreißendes hat er, wie man dies Wort vom Champagner braucht.

Ich sah ihn so am Anfangsabend. Später einmal, mit lässigeren Abstufungen, als wir zu zweien waren: von einer bescheidenen Freundlichkeit, von einer leis ethischen Grazie. Es ist nicht germanische Freundlichkeit, der Mann hat nichts »Goldiges«. Er ist nur wie vor sich hin freundlich, auf eine lautlose Art reizvoll.

II.

Ich seh ihn ein drittes Mal vor mir. Hauptmann hatte sie, die zwei Männer, die Witwe des Dichters Tschechoff, und die Lilina (sie ist mit Stanislawski verheiratet, spielt junge Gattinnen oder junge Mädchen) mit etlichen Freunden in einem Zimmer, am Potsdamer Platz, versammelt. Es war eine hell-gedämpfte Mittagsstimmung, das Märzlicht drang mir in die Augen  … ich sehe noch die Biegung des Körpers der Lilina, als sie fortgingen, … und Stanislawskis liebes Lächeln unterhalb der Wimpern, als er sich erhoben hatte und ein paar Worte sprach … er rief zuletzt mit unscheinbarer Anmut zu der Witwe Tschechoff hin, ihm weiterzuhelfen … Ich habe das Gefühl, daß man sich an diese Mittagsstimmung und dies Beisammensein sehr gern und lächelnd erinnern wird.

III.

Also die Leute hatten … ich will zuerst sagen, daß sie am Schluß mit der Darstellung des Volksfeinds scheiterten … gleichviel: sie hatten in vier russischen Stücken eine unerhörte, auf diesem Feld einzige Kunst des Zusammenspiels gezeigt; Dinge, die in ihrer Selbstverständlichkeit etwas ganz Großes bedeuten. Man soll nicht rechten; unsre Kenntnis des Möglichen ist durch ihr Zusammenspiel erweitert worden: sie brachten die Pausen des Lebens, das Verdämmernde, die Daseinsvergänglichkeit selber in dieser Slawen-Welt auf eine nie zu vergessende Art. Sie haben nicht Shakespeare gespielt; aber wenn Stanislawski, der bei Gorki den Ssatin gab, einschlief und verschollenes Hundegebell irgendwo herüberdrang: so war das Shakespeare. Ich finde keine andren Worte als nach dem ersten Hören.

Den Brahm streifen sie nicht … mit seiner seltnen Kunst für den Ausdruck hoher, jetzt lebender Einzelmenschen.

Aber sie geben doch auf einem andren Feld etwas unsagbar Menschliches. Und für den bisherigen Stand des Zusammenwirkens in einer tönenden Stimmung Neues.

1906. 1. April.

Moskauer Künstlerisches Theater

I.

Wie die von Otto Brahm gelenkte Freie Bühne das tiefste Ereignis der letzten deutschen Theatergeschichte geworden ist und ihr Wendepunkt: so hat das Moskauer »Künstlerische Theater« (welcher Pleonasmus im Namen?) den Russen eine ernste Bühne geschenkt. Von ihrer Art, Gegenwartstücke zu spielen, hat man gelesen und gehört; die sollen erst kommen. Am Einleitungsabend gab es eine Historie von Alexei Tolstoi – und siehe …

Und siehe, darin erscheint der Spielordner wie ein Reinhardt von Moskau; doch auf eine Art, daß Reinhardt in manchem Punkt von ihm lernen könnte.

Was ich sah, ist ersten Ranges. Schlechtweg ersten Ranges. Man hat keine Ahnung von dem gesprochenen russischen Wort, kaum eine Ahnung von den Einzelheiten der Handlung und weiß nach zwei Minuten: das ist ersten Ranges.

II.

Das ist bei allem Glanz für die Sinne von einer Selbstverständlichkeit, Einfachheit, von einer in sich gefestigten Ruhe, die Reinhardts vortrefflicher Art noch nicht faßbar geworden sind. Während ich bei Reinhardts neueren Leistungen immerfort daran denken muß, wie straff gemacht diese Regie ist, wie disziplinierend sie ist – an den bewegtesten Stellen bei Reinhardt äußert etwas in mir: »Vierzig Proben. Vierzig? Dreiundvierzig! Fünfundvierzig Proben – fünfundvierzig!«, er fordert an den starken Stellen zum Taxieren heraus – währenddessen wird bei den Moskauern (vielleicht von etlichen Gebärden des Herrn Luschski abzusehn, welcher den Stolz des alten Feldherrn in zwei, drei Momenten zu offensichtlich in der Haltung betonte), wird bei den Moskauern etwas geleistet, das die Herstellung verschwinden läßt. Das ist der Unterschied.

III.

So unbekümmert ist es, so ausgeglichen, eine so in sich geruhige Meisterkunst, so selbstverständlich, so ungrell, so schweigend gefestigt. Es gibt darin nichts Frischlackiertes und nichts Schreiendes. Es ist … ich will eben nicht sagen: etwas Glänzendes – nein: etwas Unglänzend-Glänzendes. Dabei hat man das Gefühl, daß die Einleitungsvorstellung noch die stärkste nicht war.

IV.

Eine Frage bleibt am Schluß: ist diese Ruhe, diese Selbstverständlichkeit, dies Leise schließlich nur in ihren eigenen, den russischen Stücken möglich, – wo russische Charaktere dargestellt werden, wo die Steppe hindurchblickt; wo ein fast apathisches Spiel, etwas Dumpfes in der Rasse liegt; im dargestellten Leiden ein gewisser Stumpfsinn; wo ein durchgehender gleichgiltiger Leidenszug volksüblich bleibt; wo es keinen Schrei gibt, das Pathos selber tonlos ist, die Dinge gedämpft und schläfrig hinschweben, als vollzögen sie sich in der Ferne; als gingen diese verkleideten Frauen immer noch wie unbewußt nachgeahmte Muttergottesbilder herum, mit orthodoxen Augen, unsrem Seelenreich fremd; und wo die Männer zugleich knechtisch und brüderlich-menschlich den Boden berühren und ihr Los einstecken; Glück und Elend ist gedämpft, fern, man fühlt den Osten …

Ist die Ruhe der Moskowiter nur in solchen Stücken so zwingend, oder könnten sie auch Europawerke spielen? Die Frage wird später beantwortet.

V.

Das Stück hieß »Zar Feodor Joannowitsch«. Wenn es in Rußland oft gespielt worden ist, hat es vielleicht eine Wirkung auf die Leute der Revolution von 1905 geübt.

So ähnlich, nur im elektrischen Zeitalter, denkt man sich wirklich das Zarchen von heute. Das Textbuch sagt: »Den dreißigjährigen Zaren Feodor schildert uns Tolstoi als einen Menschen von trefflichen seelischen Eigenschaften, dabei jedoch von geringer Geistesschärfe und gänzlichem Willensmangel.« Es gibt keinen Hörer, dem das nicht aufgefallen ist … Ich dachte beiläufig: Es liegt an der stumpfen Verworfenheit der ehemals herrschenden Klasse, wenn heut in Rußland die Revolution so schlecht organisiert ist. Mangelhafter Drill! Wie der Herr, so der Knecht. Den Herrn trifft die Schuld. In Preußen, als welches ein Musterstaat ist, haben wir die in der Welt unerreicht straffe Gliederung der deutschen Sozialdemokratie. Eine Revolution, hier ins Werk gesetzt (gegebenenfalls, gegebenenfalls) würde besser klappen. Weil die herrschende Macht pädagogische Gaben besitzt und verbreitet! Das unter der Hand.

VI.

Aber während man diese Worte schreibt, treten wieder die Szenen des moskowitischen Volks vor das Auge, wie es in so einer Theatervorstellung dastand. Unverlöschlich. Nachher weiß ich und mach mir klar: die Behandlung dieser (dünn gesäten) Massen war meisterhaft. Wie die einzelnen vorgestoßen wurden! Wie vorn einer stand, das Gesicht voll von Staunen, halber Vertiertheit und furchterweckender Komik. War es nicht derselbe, der am Schluß links vorn an der Kathedrale geglotzt hat, in Lumpen gehüllt, und mir ans Herz griff, wie ein Johannes der Täufer in der Wüste … Und dies Herumgehn der politischen Männer; diese Verteilung durch den überwölbten Raum; diese Ungezwungenheit; keinen Moment lang eine »Aufstellung«! Und dies Umwenden mancher zögernd Getriebenen, nachdem sie gesprochen hatten; dies zaghafte Zurücktreten; … und dieser Boris Godunow – der Schauspieler heißt Wischniewski – ohne eine Spur von Mache, hartgeschweißt von der Natur; und diese Gartenszene in der Nacht: alles Meisterstücke, Meisterstücke; vor allem aber dieser Zar, Herr Moskwin … ohne Karikierung ein sanfter Heinrich, grüngrau im Gesicht, mehr passiv als feig; schwach und aufbrausend, schnell schwitzend, er will sei' Ruh' ham; er steckt das Köpfchen hinter den Hals seiner Frau; ein Anämiker, wahrhaftig der seelische Ahnherr des Heutigen; der aber einmal rast, immer graubleich, schwächlich, schwitzend – etwas Wundervolles, Wahres, Nichtgespieltes.

VII.

Und so ein hundertjähriger Kurgiakow – der Schauspieler heißt Herr Artem … aber ich kann die Einzelheiten nicht herzählen; fast alle, die ich sah, eingeschlossen die Zaritza – die Darstellerin heißt Ssawitzkaja – sie waren frei von Theater-Würde; und fast nicht mehr Schauspieler.

Ich weiß, daß es ein Drama ist, von einem bestimmten Verfasser, und daß ich vieles abzuziehn habe, vieles als unwirklich verdächtigen muß … Dennoch scheint mir, als sah ich einen Ausschnitt Geschichte.

Und ich möchte diese Leute nur gern, um sie kennen zu lernen, Stücke von William Shakespeare spielen sehen, Stücke von Ibsen und Stücke von Gerhart Hauptmann.

1906. 25. Februar.

Stanislawskis Kern

I.

Die Russen spielen die negative Seite des Lebens, die Italiener die positive.

Darin liegt die Besonderheit dieses unvergeßlichen, von einer fahlen Sonne beleuchteten, kostbaren moskauer Gastgeschenks.

Mit Brahms Ineinanderspiel kann man die Truppe nicht gut vergleichen: weil die Russen in den Tschechowstücken zu schmale geistige Werte, verglichen mit dem Inhalt etwa von Ibsens »Wildente«; zu schmale seelische Tiefen, verglichen etwa mit dem »Michael Kramer«, vorführen. Ich sehe, daß Brahms große Leistungen durch die Russen nicht nur nicht erschüttert werden, sondern rein unberührt bleiben. Diese, die Brahmschen Leistungen, waren in etlichen Ibsenwerken … wie der Extrakt einer ernsten, seelisch-tiefen Europakunst. Die Russen haben keine Gelegenheit, Ähnliches zu erweisen, solange sie nur diese fünf Stücke spielen. An Tschechow nicht – (aber ich will noch sagen, was uns dennoch an seinen Szenen wertvoll ist).

Tschechows Wirklichkeitshandlungen sind Ausschnitte mit Zufälligkeiten: während Ibsens Wirklichkeitshandlungen Ausschnitte mit dem Ewigkeitszug sind … Die Russen werden den »Volksfeind« spielen, auch daraus wird man allzuviel nicht ersehen: weil es ein Ibsenstück zweiten Ranges ist, ein halbjournalistisches. Kurz: es fehlt ihnen, um sie mit Brahm vergleichen zu können, ein ebenbürtiges Stoffgebiet.

II.

Auch Stanislawski ist, da er nur in diesen paar Stücken auftritt  … Nein! Stanislawski ist, obschon er nur in diesen paar Stücken auftritt, doch außerhalb dieser Stücke zu ahnen und zu erfassen. Er spielt hier, was man realistisch nennt: – doch ich seh' ihn auch als Phantasten in Rollen, die er nicht spielt.

Er sitzt in einer Schaukel (in dem Stück vom »Onkel Wanja«). Unbekümmert, vertieft, die Seele zerstreut. Es steht nicht im Buch, wie er auf der Schaukel sitzt; wie er herumgeht: hoffnungslos im Blick, nervös, trocken; es steht nicht im Buch, wie er auf einer Bank sitzt, eine Zigarette raucht, wie er mit der Hand automatisch, regelmäßig etwas in einen Kübel Erde setzt, wie spielend, schweigend-resigniert, sinnend – und ein bißchen hoffnungslos-ruhig  … Und seine feine Anmut, wenn er (im Stück von den »Drei Schwestern«) als jugendlicher Oberstleutnant mit weißem Haar lächelnd, ein ganz fernes bißchen Schönlingstum eingemischt, in der Provinzöde plaudert … Eine Lautlosigkeit des Spiels. Geschmeidig. Fast lässig-überlegen. Und doch liegt in seinen Augen ein Widerschein des Winters. Nicht Schwermut, das wäre zuviel, aber ein Verzichten, erzeugt von diesem Lande.

III.

Bassermann, aus kälteren Zonen, obschon aus meteorologisch wärmeren, hat nicht diesen Grundstock von Verzichten; nicht diese gleichgiltig ruhige Schwermut mit den langen trocknen Blicken nach innen. Reicher hat nicht diese Einfachheit. Und dem einfachen (eruptiveren) Rittner fehlt so erlesene Seelenanmut und bei aller gedrängten Kraft das Geistige dieses schlanken, tanzfähigen Edelmenschen – der mit seiner Lässigkeit, seiner leichten Macht des Sichdehnens und Schnellens etwas Entzückendes ist, ohne das sogenannte ruhige Mannstum zu entbehren; (es ist bloß nichts Fleischerhaftes dabei). Gewiß: auch Herr Stanislawski übt im wesentlichen die Kunst des Verkneifens der Gefühle, nicht ihres Ausströmens. Kehrseitige Tugenden; das Gegenteil ist und bleibt die Venezianerin E. Duse; ihr gab ein Gott, zu sagen, wie sie leidet; ihrem ganzen Volke gab es ein Gott; und die Russen spielen die negative Seite des Lebens.

IV.

Wie er steht und geht, mit den Pfropfenzieherhosen als Landarzt, ein Sonderling, mit gleichgiltig-sympathischem Gesicht, ein Vegetarier, der den Wald liebt, über ihn spintisiert – mit einem feinen, schmalen, leicht zernervten, durchschwingten Gesicht, das manchmal von der Seite hier an einen ermüdeten, gleichgiltigen Georg Brandes erinnert. Wie er einfach, fast stumpf und selbstverständlich spricht … nicht mit einem Atom erinnert er ans Theater. Man liebt ihn.

Er macht ja nicht bloß, was nötig ist: auch er benutzt die Rolle als Unterlage. Tschechow sagt, jemand scheine getrunken zu haben: Stanislawski hat ein paar Handbewegungen und macht dazu »prrr, purr«, – daß keiner widerstehn kann. Prachtvoll ein Auftritt mit dem pockennarbigen Teljegin, der hinter ihm sitzt mit der Gitarre, … unvergeßlich wie die ganze Darstellung.

Sie gehört zum Stärksten, das ich, als Zusammenspiel, auf irgendeiner Bühne je gesehn.

Manchmal, wenn die andren russischen Schauspieler nach vorn kommen, heller beleuchtet sind, sagt man sich: nun ja, die einzelnen sind Darsteller, bescheidene Einzelwerte … aber das Ganze gefaßt, glaubt man, wie der diable boiteux in abgedeckte Häuser zu blicken, in abgedeckte Wohnungen. Es ist die Wahrheit – die Wahrheit.

V.

Ich sah niemals die Eintönigkeit eines fahlen Lebens gewissermaßen so spannend dargestellt. Nie hat mich die Darstellung der Öde so gepackt.

Diese Moskauer sind vor allem groß in ihren, musikalisch ausgedrückt, Fermaten. Groß in der Art, wie sie die Stille des Daseins tönen lassen. Groß durch die Ferne in ihrem Spiel; die Ferne, das schmucklose Verrauschen, das in ihrem Zusammenwirken durch alle Dinge und hinter den Dingen entlangzieht; sie sind die Künstler des verwehten, lautlos entrinnenden Lebens; sie gestalten die große Kunst der Lebensinhaltlosigkeit; zugleich ihrer tragikomischen, verstummenden Humore.

VI.

Sie sind die Künstler … nicht des Lebens, denn das ist funkelnd und himmlisch, mit einem Oben und einem Unten, mit unendlichen Musiken, mit Küssen und Kratzen, mit leuchtenden Schiffsabenden, mit Zusammensturz, Wiederaufrappeln, Indiehöhefliegen, mit Nichtalternwollen und Packen und Schlürfen, mit Wunderfarben und Beulen, mit Juliwinden und Bemeisterungen des Semikolons, mit lachenden Abschieden und lachenden Anfängen … Sie sind die Künstler dieses Lebens nicht; sondern der andren Seite: des passiven Lebens. Sie sind die Künstler des Hinnehmens, des Einsteckens, des Sichabfindens, des Verschluckens, des (im tragischen Sinn) Weiterwurstelns. Sie sind, was ihr Land ist, was ihre Dichter sind. Ein Wintervolk.

Ein Wintervolk. Diese Leute sind keine Hesperier, sondern Skythen. Ich sehe den Schwarm, hundert Millionen, sonnendürftig, braun, grau. Eine Gemütlichkeit mit Entsagung und Stumpfsinn, ein Phlegma mit dem Leidenszug, ein Dreiviertelsleben, eine trauliche Verlassenheit; – ein Wintervolk.

VII.

Den Eindruck von alledem bringen sie. Das Gebell von Hunden, wie aus der Ferne. Es sagt: die Zeit geht hin … Man fühlt das Einsame, Niedere dieses dumpf, schnöde, fahl verfließenden Lebens … Eine Gesellschaft sitzt bei Tisch im Hintergrund eines größeren Raumes … man hört Tellerklappern, das Geräusch der Messer, die Stimmen, lachende, tiefere, alltägliche … und man fühlt: dies Leben in Verlassenheit dahinziehend, in geselliger Verlassenheit, es ist die Verlassenheit von hundert Millionen, man spürt die Schattenseite des Erdballs, man gewahrt Menschen, die in aller Heiterkeit von der Schwermut ihrer Geographie bedrückt sind; im trauten Beisammensein ist ein Zug des Verzichtens, Sichfügens … man sagt: Brüderchen, Mütterchen, Väterchen, alle küssen sich, trinken Tee, mancher trinkt Schnaps, – (und ich denke an Andre, mit Südseelen, an Menschen, wie es viele noch in mittleren Ländern sind, ich denke selbst an die Antwort, die der Brite Byron einem holsteinischen Gutsbesitzer gab: Wenn Sie behaupten, daß es bei Ihnen so schön ist, warum zogen dann die Cimbern und Teutonen über die Alpen …? Das steigt auf, und ich höre: Mütterchen; Väterchen; Tee; Schellengeläut).

Ein fahler Schwarm auf der Winterseite der Welt – und seine trüben Einzelnen.

VIII.

Negative Seite des Lebens – die Italiener spielen die positive.

Noch im Leiden ist die Venezianerin Duse ein Feuer, ein schwarzes Feuer.

Jemand in dem Schauspiel vom »Onkel Wanja« sagt: »In Ländern mit milderem Klima braucht der Mensch nicht so viel Kraft auf den Kampf mit der Natur zu verwenden, und darum ist er dort sanfter, liebenswürdiger, schöner, impulsiver; seine Stimme ist wohlklingender, seine Bewegungen sind anmutvoller …« (Das weiß ich längst.)

IX.

Und bei alledem enthüllen diese Russenszenen manches vom Drama der Zukunft: als welches für erlesene (darum geduldige) Zuschauer nicht klappende Theaterstücke bringen wird: sondern Entwicklungen, oft in Zuständlichkeiten, – eher Lebensperspektiven als Lebenskompressionen, öfter Nachdenklichkeiten als Zusammenstürze, öfter Einblicke als ohnmächtige Prinzessinnen. (Zivilisierung der Bühne.)

Es ist anscheinend der Weg für die Besseren; Hauptmann geht ihn  … nicht so sehr in den »Einsamen Menschen«, von denen diese ganze Tschechow-Richtung zu sieben Zehnteln lebt, wie in seinen späteren nachdenklichen Klanglosigkeiten. (Von den »Webern« wiederum lebt M. Gorki; das unter der Hand.)

X.

An diesen Theaterszenen der Zukunft können leicht halbe Dilettanten mitwirken. Ja, das kann sogar für den Eindruck der Echtheit von Vorteil sein. Hier ist etwa Herr Wischniewski, eine von den Rittner-Naturen, vielleicht federnder ohne seine Festigkeit. Er hat manchmal einen Zug ins Adelsvolle; ich bedaure, daß er als Onkel Wanja so sehr flennt, indem die slawische Natur durchschimmert. (Er könnte flennen: aber so wie ein Italiener.) … Herr Artem gibt alte Leute, ist ein Stück russischer Pagay. Aber zweimal so wenig Schauspieler als Pagay. Ich habe nicht mehr die Empfindung, daß der Mann spielt, … während ich bei dem (feineren und wandlungsfähigeren) Pagay sage: er spielt ausgezeichnet  …

Das ist der Trick der Russen, wie es Antoines Trick war: sie nehmen für eine bestimmte Rolle einen halben Dilettanten, dessen Art sehr zu der Art der Rolle stimmt …

Der ganze Wert liegt in der Einordnung, im Gemeinsamen. Im »Nachtasyl« wird diese Gemeinsamkeit so stark, die Einzelnen werden so hineingedrängt in den Schwarm, der Schwarm wird so sehr alles – daß bei der Erinnerung an Reinhardts brausende, prachtvolle Gorki-Darstellung … daß bei der Erinnerung mein Auge da bloß etliche hervortretende Solospieler wahrnimmt. Bei Reinhardt sah man Glänzendes: doch hierneben war es eine Burgtheateraufführung … Diese Russen sind nur Zusammenspiel. Es widerfuhr mir im Theater noch nicht, daß ich durch ein Zusammenspiel fast zu Tränen ergriffen wurde. Hier geschah es.

XI.

Dabei verwischen die Moskauer (das ist das Bewundernswerte) nicht die Einzelheiten: sondern sie sind (während der Schwarm alles ist) abgeschatteter als die in der deutschen Aufführung. Dieser Luka bei den Russen ist von einer Schlichtheit … Reinhardts einprägsam-schöner, weißhaariger Greis wirkt hierneben wie ein bemalter und gereimter Heiliger. Ich habe nie begriffen, wie sich dieser Luka, nämlich Reinhardts, im Augenblicke des Zusammenstoßes drückt: das widersprach dem beleuchteten Wesen dieses Patriarchen. Jetzt seh ich einen, durch keinen Glanz vom Schwarm geschieden. Ich sehe, daß er einer von ihnen ist; bloß ein Stückchen Heiliger; nicht etwan ein Legendenhaupt, nicht ein Herabgestiegener, nicht ein ethischer Harun al Raschid  … sondern ein Nachtasylist mit bestimmten Neigungen und unscheinbarer Seele. Kurz: eine gestuftere Massengestalt, kein Paradiesvogel.

Der drückt sich … Der drückt sich, ohne daß eine Frage der Verblüffung entsteht. Er gehört zur Familie.

XII.

Oder Herr Waßmann; er ließ den Adligen dumm und verhältnismäßig kräftig sein. Bei den Russen ist dieser Mann ein Nervenbündel, ein Stück Morphinist, ein zerschlissener, ein total zerschlissener, durchschimmernder, zerfressener Widerschein eines Menschen, – ein Gewesener. Und dabei blickt sein vormaliger Stand wie selbstverständlich durch ohne Auftragung.

Ach, und dieser Ssatin; die leichte Schwungkraft dieses Ssatin; und wie er trank; und wie er schlief … Und wie die Hunde bellen, irgendwo draußen fern, und wie die Zeit tönt – und wie man durch halbentfernte Geräusche die niedere Verlassenheit, das Verschollene dieser Tiefenexistenz ahnt, erlebt. Von alledem kann man ohne die innerste Rührung und Bewunderung nicht sprechen. Es gehört zum Teuersten, was ich in einem Schauspielhaus erlebt.

XIII.

Die Kellerhaftigkeit dieser Existenzen war durch den Gegensatz des Aufenthalts in der freien Luft eines elenden Hofes wunderbar gesteigert; ihr Elend durch ihre Erholungen. Unvergeßlich!

Und man kommt, wenn man sich das alles vergegenwärtigt, in eine so dankbare Stimmung, daß ich auch die Frau Knipper-Tschechow noch erwähnen will, die manchmal talentvoll die Duse kopiert, eine tapfere Art hat, den Nacken eines Mannes zu umschlingen, um den Mund ein Kräuseln von besonderem Liebreiz enthüllt – und manchmal die Gemeinsamkeit zu stören droht …

Und alles verschwindet in einem Gesamteindruck.

Etwas höchst Seltsames und Wertvolles bleibt zurück. Sie spielen die negative Seite des Daseins mit einer durch Schlichtheit, durch eine wunderartige Beherrschung packenden Meisterschaft.

Jetzt bleibt noch ihr Volksfeind.

1906. 18. März.

Der russische »Volksfeind«

I.

Von vornherein stand es fest, daß der »Volksfeind« kaum ein Befähigungsnachweis für Ibsendarstellung sei. Heute steht es mir fest, daß die Russen kaum den Befähigungsnachweis für den »Volksfeind« erbracht haben.

Auf die beim ersten Auftreten gestellte Frage: ob die selbstverständliche Maëstria des Spiels nur für die eigenen, die russischen Dramen, oder auch für europäische gelte, – darauf ist (vorsichtig) zu antworten: für dieses europäische Drama gilt sie nicht.

Aber nein … es gab in ihrer Aufführung Punkte, die Bewunderung erzwangen, nicht bloß die Massenszenen im Versammlungsakt (trotz den bösen Nationalkostümen, die wie frisch geschneidert aus der Maskengarderobe kamen und manchen gifteten), – Bewunderung erzwang auch das technische Treiben in der Druckerei … und doch: es war ein etwas beladenes, ein etwas verkanntes Volksfeinddrama. Die Truppe, so unvergleichlich in russischen Szenen, war hier wie ein Schwan auf dem Lande. Ich möchte ganz gern diese Darstellung des »Volksfeinds« vergessen.

II.

Es würde vielleicht gelingen. Aber den Stanislawski kann ich nicht vergessen … Und doch war er Ibsens Dr. Stockmann nicht.

Passives Leben! Was er nicht besaß, war das Helle des Temperaments; der Überschuß; das Wikingertum; die Draufgängerfreude; der Stich nach dem nordischen Gascogner – mit einem Worte: das Helle.

Dieser Stockmann litt mehr, als er tat. Wintervolk! Stanislawski war jemand, der etwas furchtbar Aufregendes durchlebt und zuletzt als ein Gefaßter daraus hervorgeht, schwer geschüttelt, – doch er hatte nicht die … nein, die »Fröhlichkeit des Unterliegens, welche den Sieg bedeutet« wäre zuviel, die soll er auch beim Ibsen kaum haben –, doch es gibt ein gewisses unterirdisches Frohlocken im Kampf, das ein Leuchten über den Ausgang breitet, – fast ein Glück über die Niederlage: das besaß er nicht. Er war kein Wikinger.

III.

Er war vielleicht jemand, der sich durchringt. Noch eher war er jemand, der dorthin gestoßen wird. Er hatte nicht ganz das Tätige; mehr ein Geprüfter als ein Draufgänger. In dem Ringen war kein Jauchzen. Ich sah den Sohn eines Wintervolks, ich sah den Stockmann von der Schattenseite der Welt. Vielleicht … vielleicht stand er (innerlich) gar nicht dem kompakten Liberalismus gegenüber, sondern fanatischen Analphabeten in ihrer Furchtbarkeit, den hundert Millionen, – und das machte die Gestalt trübe, schwärzlich, um ein Haar märtyrerhaft.

IV.

Märtyrerhaft … Es gab einen Augenblick (ich werde daran denken, solang' ich ins Theater gehe): als die arglose Schreiberin auf den Stuhl trat und gegen Stockmann durch Händeklatschen demonstrierte … und Stockmann sie ansah, wobei aus seinen tiefen, wahrnehmenden Augen das Wort entfloh: O sancta simplicitas! Es gab ein Bild von fünf Sekunden; das gehört zum Letzten, es bleibt fürs Leben.

(Auch wenn es nicht von Ibsen war.)

Ich empfand wieder, wie bei der Duse: es gibt keine Brücke von Rußland nach Norwegen, doch es gibt eine zwischen diesem Künstler und Henrik Ibsen. Nur ist die Duse eine Jahrhundertgestalt … und Stanislawski bloß ein genialer Schauspieler.

In summa: was er gab, war wundervoll; es war bloß nicht wundervoll, daß er das gab.

V.

Stockmann schimpft seinen Bruder, den Stadtvogt, einmal Plebejer und tritt für den Aristokratismus ein. Gut! Aber dieser Stockmann war … beinahe zierlich. Er hatte nie, bevor er in die kleine Stadt kam, unter Halbtieren im wüst steinernen Norden einsam gehaust, – sondern in einer komfortableren Sphäre.

Stanislawski blieb Weltstädter im engen norwegischen Nest. Er stammte von keinem pommerschen Seeräuber … und wenn er den Schirm faßt, um das Gesindel, zwei Feinde, hinauszujagen, ist es zuerst ein überlegen spielender Diplomatengestus.

Nein, nein, nein.

Wie sein Bruder, Herr Luschski, nicht Stadtvogt eines Küstenörtchens, sondern Ministerpräsident war.

VI.

Das Schmerzliche ist: jetzt geht ihr weg, und ich weiß nicht genau, wer ihr gewesen seid.

Doch: ich weiß, daß ihr etwas Köstliches gewesen seid. Den Umfang eures Wertes vermag ich nicht zu erforschen. Ihr zieht vorüber; wir bewahren eure Spur; ihr habt vier russische Stücke gespielt, und ich zergrüble mir den Kopf, von wem das fünfte gewesen ist.

Im Gedächtnis bleibt die wundervolle Persönlichkeit eines Arztes zum Greifen wahr, zum Verehren reizvoll, – und ich forsche, wer ihn gedichtet haben mag.

Und wo die Grenze … nicht zweier Rassen, bloß zweier Geblütsentwicklungen liegt.

1906. 22. März.

Stanislawski-Gedenken

I.

Wer seid ihr gewesen? fragte man, als die Moskauer nach der ibsenfremden Darstellung des »Volksfeinds« wegreisten … Ich sehe sie jetzt in der Ferne (es ist zwar nur Dresden) … Wie man von jemandem während des Gespräches einen Eindruck bekommt – und wieder einen am nächsten Tage, wenn man dazwischen geschlafen hat … Beide Eindrücke sind wahr. Der letzte noch wahrer. (Denn die meisten Dinge, mit denen wir zu tun haben, werten wir dann, wenn sie in der Vergangenheit liegen. In der Liebe selber ist es so.)

II.

Wer waren sie also? … Nach dem ersten Sehn fand ich: Wie die von Otto Brahm gelenkte »Freie Bühne« das tiefste Ereignis der letzten deutschen Theatergeschichte geworden ist und ihr Wendepunkt: so hat offenkundig dieses moskauer Theater den Russen eine ernste Bühne geschenkt. Der Eindruck besteht … Der zweite Eindruck war der: daß Brahms große Leistungen durch die Russen rein unberührt blieben; der zweite Eindruck besteht wiederum.

Was den Brahm über Antoine erhebt (der zwar bessere Akzente zu setzen vermag, wie das auch Reinhardt und Vallentin besser können), was den Brahm erhebt, ist, daß Antoine kein Ibsenspieler ist, während Brahm (das geht nicht anders auszudrücken) den Extrakt einer ernsten, seelisch-tiefen Europakunst so konsequent als Erster gab. Hier bleibt also der Einschnitt.

Und das ist um so ruhiger auszusprechen, seit für das, was dem Brahm fehlt, im Reinhardt-Kreis ein köstliches Supplement entstanden ist. Jetzt, wo es da ist, scheint (ich betonte das beim »Käthchen von Heilbronn«) der Zeitpunkt gekommen, den grundsätzlich herbeigeführten Abfluß vom Brahm wieder zu Brahm zurückzuführen. Alle glücklichen Wettbewerbszüge der Sonntagsnatur M. Reinhardt gegen den Einsamen und Stachligen, auch die größere Jugend, die er voraus hat: die dürfen nicht vertuschen, wo das Reizvolle, und wo das Wesentliche liegt.

III.

Vor dem Wesentlichen sind die Russen ein bißchen im Rückstand geblieben. Soweit man vorläufig urteilen kann. Vorläufig müssen wir etwa so gruppieren: die Moskauer sind »Stimmung«; der Reinhardt-Kreis ist »das Malerische«; Brahm ist »die Seele«.

Damit setzt man im geringsten nicht den in ihrem Feld einzigen Wert der Russen herab; sie gaben Dinge, die man vorher nicht gekannt hat … und ein Lebenlang nicht vergessen wird. Ich sprach von ihren Fermaten; von ihren Geräuschen; von der Verschollenheit; von den fern bellenden Hunden; von ihrer Kunst, die Lebensinhaltlosigkeit wundersam zu gestalten; von ihrer Macht, die Vergänglichkeit tönen zu lassen …

Aber auch dabei bleibt es: ihnen fehlt, um sie mit dem Brahm vergleichen zu können, ein ebenbürtiges Stoffgebiet in den fünf Stücken, die sie hier gaben. Und das ist der wichtigste Punkt.

Diese fünf Stücke waren also nur ein Ausschnitt. Mir ist, als hätten wir einen Teil, nur einen Teil ihrer Drehbühne gesehen. (Die Moskauer Drehbühne besitzt zwei Stockwerke, die zugleich eingerichtet werden können, das hat sie vor Berlin voraus.)

Die Russen wollen in zwei Jahren wiederkommen … und vielleicht hier den »Julius Cäsar« geben. Stanislawski macht den Brutus.

IV.

Ich würde das Vergnügen eines Stanislawskischen Schlußbesuchs nicht erwähnen, wenn es nicht in einem halbdunklen Zimmer mir einen alten Glauben wieder klargemacht hätte: die Menschlichkeit eines Künstlers, seine Züge, sein Stimmklang, sein Ethos, seine Augen bestimmen noch mehr den Eindruck seiner Größe, seines Glanzes, seines Lockenden, als es seine (sachliche) Fähigkeit, Gestalten eines Dichters wiederzugeben, tut.

Alte Wahrheit: nicht im Ausfüllen liegt das Geheimnis, … sondern im Erfüllen. Stanislawski ist auch entzückend; ein erlesener Mensch.

1906. 1. April.


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