Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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6. Fragen.

Fragment.


1. Giebt's einen drückenden Mangel, ein entschiednes Uebel unsers Geschlechts, das nicht durch die gemeinschaftliche Beihilfe der menschlichen und bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben oder bis zum Unbedeutenden erleichtert werden könnte? Gegen die Uebel der Natur, wissen wir, müssen uns Verstand und Voraussicht durch Anstalten und Klugheit waffnen; nun ist aber der gemeinschaftliche Verstand der rechte, es möge ihn Einer oder Mehrere leiten; gemeinschaftliche Anstalten sind allein durchdringend wirksam, und um so wirksamer, je inniger sie die Menge umfassen und das Wohl des Ganzen fördern. Nenne man ein Uebel, das auf diesem Wege nicht vertilgt oder äußerst vermindert oder vertheilt werden könne!

2. Was diese Minderung unmöglich macht oder aufhält, ist's etwas Anderes als der Egoismus? die Entsagung des allgemeinen Rechts, der allgemeinen Vernunft, Billigkeit und Wahrheit? Mit welchen Namen man auch dies Haften an Absonderung, an eigenmächtigen Vortheilen und Vorurtheilen nennen möge, ist's etwas Anderes als ein Absondern von der gemeinsamen Vernunft, Billigkeit und Wahrheit? eine freiwillige Deportation ins Land der Schatten, da man mit verblichenen Namen und Anmaßungen wie mit Gespenstern lebt, sich selber täglich verehrend speist und den Geruch eigner Verwesung trinkt? Unbekümmert, ja hart der Menge, die durch uns und um unsertwillen leidet – ein schaudervolles Gefängniß, das den Unglücklichmachenden viel mehr quält als die Verunglückten.

3. Und giebt es, ihm zu entkommen, ein Mittel als Maß, Maß der Gerechtigkeit und Wahrheit? Zu diesem aber zu gelangen, bedarf's etwa blos jener müssigen Kritik, die, von sich selbst ausgehend, Alles nur schätzt und schätzt, gewöhnlich sich überschätzt und damit Alles verwirrt, nichts vollführt? Recht und Wahrheit, wodurch äußern sie sich als durch sich selbst, durch Thätigkeit, durch Wahrheit? Da gewinnt Jeder seinen Platz, da wird durch gemeinsame Thätigkeit wie von selbst ein Reich der Billigkeit und Liebe. Denn diese, die voran fliegt, ein himmlischer Genius, kennt keine Schranken, weil sie sich nicht kennt, weil sie sich selbst dem Wohl des Ganzen aufopfert.



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