Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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VIII. Zutritt der nordischen Mythologie zur neueren Dichtkunst.Irrig ward dieser Aufsatz in der Adrastea als sechste der »Theoxenien« bezeichnet. – D.


Längst wußte man, daß die Skalden, Dichter der Einwohner in Dänemark, Norwegen, Schweden und Island, in Sagen, in Saxo und andern Geschichtschreibern des Mittelalters zum Theil übersetzt, zum Theil in der Ursprache bekannt waren. Eine eigene Gattung sogenannt runischer Literatur waren wir sehr verdienten Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts, Olaus Wormius, Bartholin u. s. w. sowie, obgleich verstümmelt, dem Resenius die Herausgabe der isländischen Mythologie und Poetik, der sogenannten Edda, schuldig. Im nächstverflossenen Jahrhundert ging man, obwol unterbrochen, auf dieser Bahn weiter. Hickes in England schrieb seinen Schatz mittelländischer Sprachen; das Magnäische Institut, dessen StifterArne Magnussen (Arnas Magnäus), zu Kvennabrekka 1663 geboren. – D. allen Preis verdient, machte mehrere isländische Sagen nach und nach bekannt; es war fast entschlafen, als Peter von Suhm mit nordischem Heldeneifer das entschlafne Studium erweckte.S. Nyerup's »Chronologie der Ausgaben aller nordischen Sagen« in Gräter's »Bragur«, Bd. 2. S. 354 ff. – H. Mehr als eine Aurora borealis glänzt um den Namen dieses verdienstreichen Mannes als Herausgebers, Geschichtschreibers, Dichters, als Beförderers der nordischen, arabischen und jeder Literatur, vorzüglich aber als eines edlen Mannes und Menschenfreundes.S. Uebersicht des Lebens und der Schriften Peter Friedrich von Suhm's, geschrieben von Nyerup, übersetzt von Eckard, [Kopenhagen] 1799. – H. Eine Reihe von Sagen, unter andern auch die zweite Edda, sind auch durch seine Unterstützung philologisch würdig ans Licht getreten; seine Bahn werden Andre verfolgen. Drei Nationen, Normänner, Dänen, Schweden, deren Edle sich nicht schämen, an der Literatur ihres Vaterlandes Theil zu nehmen und damit den Geist ihrer Väter unter sich zu erwecken und festzuhalten, Gelehrte, die, wie Torfäus und Ihre, Langebeck, Suhm, Anchersen u. s. w., die sich für die Geschichte bemühten, stehn wie die Sterne des nordischen Himmels hellglänzend.

Die Beurtheilung dieser alten Schriften im Felde der Kritik und Geschichte gehört nicht hieher; vielleicht ist die Aufgabe, woher die Begriffe der ältern Edda, d. i. der Voluspa, sammt den Fabeln und der ältesten und neueren Sagen genommen seien, noch nicht aufgelöst. Eine andere Anschaulichkeit gewann die Sache, als zwei deutsche Dichter, Klopstock und Gerstenberg, die nordische Mythologie auf den deutschen Parnaß übertrugen.Klopstock in seinen »Oden«, in »Hermann's Schlacht«, »Hermann's Tod«, »Hermann und die Fürsten«; Gerstenberg in seinem »Gedicht eines Skalden« und in seiner »Minona«. Andre sind ihnen gefolgt, unter denen sich Karl von Münchhausen auszeichnet. – H. Bald entstand eine Partei, die diese Mythologie nicht nur über die griechische setzte, sondern im Angesicht jener dieser beinahe Hohn sprach. Dem Unverdrossenen, der sich in Anpreisung und Exposition dieser nordischen Blumen die seltenste Mühe gegeben, Gräter, ist noch keine Gerechtigkeit widerfahren; fast unbillig ist die Kälte, mit der man seine Sammlungen aufnahm.»Nordische Blumen«, »Bragur«, »Braga und Hermode«. – H.

Wie die Sache liege, ist ziemlich klar. So wenig die Griechen ihre Mythen für Isländer und Deutsche erfunden oder angewandt haben, so wenig wäre die Edda für sie gewesen. Bei uns, die wir in der Mitte stehn, ist die Frage: was wir aus der und jener Sagenlehre zu machen verstehn, wie wir sie zu gebrauchen vermögen. Nur in der Anwendung findet jede Sage ihren Werth; und da die nordische Mythologie unsrer Sprache näher oder gar einheimisch ist, da die Helden, von denen sie redet, Brüder unsrer Vorfahren, und die Thaten, ja das Klima derselben selbst, unserm Genius verwandt sind, so kommt es nur darauf an, wem die nordische Iduna ihren Apfel schenke.

Zuerst beträfe es die Opera et dies,Anspielung auf das Gedicht des Hesiod. – D. den Preis unsrer Gegenden, unsrer Vorfahren, ihrer Thaten und Lebensweise. Was hatten mit diesen die Musen Griechenlandes zu schaffen, die weder unser Eis, noch unsere Nordlichter, noch die Winterblume des Schnees kannten? Nach Ort und Zeit wäre manchen Gegenständen der griechische Apollo so fremde als der indische Rama, dagegen Braga und Freia, Thor, Odin, LockeLoki. – D. ihnen wohlthun. Wo die nordische Mythologie aufs Innigste local und klimatisch wird, also daß sie sich in die Ströme Walhalla's, in die Blüthen Glasur's, in die Röthe der Alfen gleichsam taucht: da schaudert uns eine fast angeborne Mitgenossenschaft dieser Bilder an; wir fühlen, daß wir hieher, in kein andres zarteres Märchenland gehören, wir frieren.

So auch bei Charakterzügen in Tugenden und Fehlern dieser Helden, am Sichtbarsten bei Benennungen und dem ganzen Charakter der poetischen Sprache. So wenig es manchen Geschichten an biederer Rohheit fehlt, so sind anderseits in andern häusliche Sittsamkeit, Zucht und Ehre, die Farbe der Scham und alten Tugend bei Männern und Frauen unsers Herzens, unsers Mundes Sprache. Wo wir bisher in diesen Sagen nur Schaum schöpften, mit Bildern und Namen spielend, so konnte es freilich nicht anders sein, als daß der Schaum zerrann, der Wortnebel zerfloß, die Trugbilder verschwebten; wäre dagegen aber kein besserer Gebrauch möglich? Vor Zweierlei müßte man dabei auf seiner Hut sein, vor Großsprecherei und Rohheit. Hat man nicht geglaubt, daß, wenn man Hermann sänge, man ihn auch für lauter Hermanns singe, daß die deutsche Nation, dem Gipfel der Weltüberwindung nahe, einer gefundnen Mythologie wegen über alle hervorrage? Die Sänger selbst gaben sich Namen der Barden, mit denen sie (Knabenspiel!) auch außer der Poesie genannt wurden, eine kindische Hochthuerei, die keinem, am Wenigsten dem deutschen Charakter geziemt. Ebenso wäre auch die Rohheit zu vermeiden, die uns vom Hammer Thor's, dem großen Kessel, den Mägderäubereien dieser Helden Manchem angelüsten möchte. Aus der »Edda« sowol als dem Heldenbuch müßte nur das hervorgehn, was uns tapfrer, mäßiger, in uns selbst stärker, dem Menschengeschlecht liebenswerther und edler macht; jene rohe Wildheit bleibe ältern Zeiten!


Von Seiten der Sprache verdient das Studium dieser Sprachschätze alle Empfehlung; uns Deutschen enthalten sie eine alte Schwestersprache. Und obgleich seit Leibniz das ganze Jahrhundert hinab es an einzelnen Gelehrten nicht gefehlt hat, die dies Studium, einen Abriß des Nationalwissens, trieben,Frisch, Schilter, Wachter, Bodmer, Gottsched, Popowitsch, Lessing, Klopstock, Oberlin und Ihre. – H. so wird das angetretene Jahrhundert auch noch zu suchen, zu finden, zu erörtern, zu wünschen, zu hoffen haben. Hoffe man nur, was wir nothwendig uns selbst geben müssen, nicht aus Island! Gespielt ist gnug mit dieser Mythologie; zum Ernste!

Möge dann auch mit dem neuen Jahrhundert dieser Literatur ein kritischer Morgen angebrochen sein; Schlözer's»Isländische Literatur und Geschichte«. Göttingen 1772. – H. und Adelung'sS. Becker's »Erholungen«, Jahr 1797. – H. Zweifel über sie sind nicht zu verachten.


Und wie bräche dieser Morgen an? Mich dünkt, die Lage der Weltgegenden will es also:

1. Da offenbar die »Edda«, d. i. das Gemengsel poetischer Fragmente und Fabeln, dem man seit Resenius folgt, von christlichen Begriffen umschlossen ist, auch wol nicht anders als also hat eingefaßt werden mögen, indem jede Zeit ihren Gesichtspunkt der ältern vorträgt, so sondre man vor Allem diese beiden Systeme von einander! Keine Dreieinigkeit, kein doppeltes Reich der Götter, kein Abend ihres Unterganges liege zum Grunde, sondern die Fabellehre, die als Kosmogonie und Naturansicht in der nordischen Sprache selbst liegt; denn sie ist ursprünglich. Wo auch in sie ebräisch-christliche Begriffe hinzugefügt sind, sondre man diese und wolle nur das Naturheidenthum dieses Völkerstammes kennen, mit der Frage: »Wo entstand solches? in Norden oder Süden? welche Welt von Begriffen drückt es aus?« Wie Schlözer die Genealogie des Forniot's, d. i. der Elemente,»Isländische Literatur und Geschichte«. – H. Andre andre Allegorien, unter ihnen artige Einkleidungen entwickelt haben, so durchgehe man harm- und streitlos diese Haushaltung nordischer Naturgötter, der Sprache einverleibt, ihr ursprünglich. So wenig wir Deutsche unsern Man und Teut, unsre Hertha u. s. w. von einem andern Volk entlehnt haben, so wenig jene Völker ihre Frigga, Freya, Lina, ihre Dwarfen und Alfen, Walküren, Dysen u. s. w. Dieser naturhistorische Theil der Fabel ist der Nation Eigenthum oder, wo er anderswoher genommen ist, ihr angeeignet. Kann man, wenn solches geschehen, auch nur muthmaßlich erweisen, um so besser.

2. Sorgfältig, aber ohne Vorurtheil untersuche man sodann, wo sich durch den Cultus oder durch Umstände der und jener Begriff, Sigthuna, Walholl, Fansal, Gladheim, das Land der Riesen u. s. w., der und jener Gegend angeeignet, wie und wann Asen und Asgard, Ida, Troza zu jener Naturfabellehre gekommen und mit ihnen die christlichen Begriffe zuletzt Alles umschlossen haben. Der Geschmack der mittlern Zeiten, die Analogie andrer Völker, die Wanderungen dieses Volks bieten hierüber Aufschlüsse dar.

3. Die hinzugekommenen, offenbar zum Scherz erfundenen lustigen Erzählungen von Odin, Thor, Locke u. s. w. erkläre man, wie man in Apollodor und Ovid dergleichen Märchen erklärt. Welche Mythologie hat nicht dergleichen? und diese sollte sie nicht haben, nachdem eine andre, sie verdammende Religion galt, und da man in langen Winterabenden scherzhafter Märchen bedurfte, in Island? So gesondert, müßte die »Edda« eine lehrreiche Vola, eine angenehme Großmutter werden.

Uebrigens ist, Alles zusammengenommen, die Darstellung der nordischen Fabellehre, da sie selbst ein Gedicht ist, so abgeschmackt nicht, vielmehr ganz zeitmäßig, eine Reise nach Weisheit und Belehrung über die damals wichtigsten Fragen, die mit dem Untergange der Götter endet. Das feinste und klangreichste Gedicht über sie»Gedicht eines Skalden«. Kopenhagen, Odensee und Leipzig 1766 (von Gerstenberg). – H. konnte sie nicht anders enden lassen, sie verhallt in den Ton:

»Er mißt den Himmel, stillt die Meere!
Gericht und Recht ist um ihn her!
Er ist der Herr, der Gott der Heere!
Er ist! Wo ist ein Gott wie er?Hiermit schließt der vierte, mit den folgenden Versen der fünfte und letzte Gesang. – D.

»In neue Gegenden entrückt,
Schaut mein begeistertes Aug' umher, erblickt
Den Abglanz höh'rer Gottheit, ihre Welt,
Und diese Himmel, ihr Gezelt!
Mein schwacher Geist, in Staub gebeugt,
Faßt ihre Wunder nicht und schweigt.«


– – und schweigt.«

Ach! auf immer schweigt auch die Stimme des unsterblichen Priesters der Adrastea. In prophetischem Geist schrieb er diese Strophen – die letzten seines Lebens – es verhallte in diesem höheren Gebet. Sein Leben zwar, aber nicht die Stimme seines Geistes verhallt unter uns. Jeder leise Anklang von ihm wachse nun, entfernt von irdischen Dissonanzen, zum reinen geistigen Concert! Wir hören die Stimme eines Verklärten, wir folgen den Worten eines Heiligen.

Ewig schau hernieder aus Deinen hehren Gefilden,
    Hoher, verklärter Geist, Sänger der Wahrheit Du!
Träufle herab den himmlischen Thau, damit es gedeihe,
    Was Du gepflanzet, gesät, was Du gewartet, gepflegt!
Himmlische Gärten entsprossen, voll Blumen, Blüthen und Bäumen,
    Reinen Genusses, wo Du, Priester der Menschheit, sprachst.

                                                      D. Wilhelm Gottfried v. Herder.


Anmerkung. Die hinterlassenen Blätter zur Adrastea folgen in den nächsten Stücken. Auch sie enthalten Funken eines Diamanten. – W. G. v. Herder.

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