Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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13. Shaftesbury. Principium der Tugend.

Ernst nahen wir dem Schriftsteller, dem man Schuld giebt, daß er Scherz und Witz oder gar Spott zum Prüfstein der Wahrheit gemacht habe.

Anton Ashley Cooper, Graf von Shaftesbury, hatte das Glück, bei einer zarten Gemüths- und Leibesconstitution in seinem elften Jahre die griechische und römische Sprache als lebendige Sprachen zu lernen, mithin in ihnen mit dem Schriftsteller, den er las, lebendig mitzudenken; ein Vortheil von großem Werth. Ohne Zweifel gab diese Erziehung seiner Seele den Geschmack der Alten, der alle seine Schriften bis auf ihre süßen Fehler auszeichnet. Xenophon und Plato, Epiktet und Marc-Antonin, Horaz und Lucian waren seine wirklichen, nicht buchstäblichen Jugend- und Lebensfreunde, ihm lebende Männer, nach denen er Philosophie und Moral, Geschmack und Vortrag, überhaupt seine Art, die Dinge anzusehen und zu behandeln, formte. Dies zeigen seine Briefe an einen jungen Studirenden, in denen er aus Liebe für seine Alten sogar das englische Klerikat zu ihrer Schule machen wollte.

Ernst war ihm also seine Philosophie, nicht Scherz, eine Bildnerin der Sitten, eine Führerin durchs Leben. Wo er sie nicht also fand, vermißte er schmerzhaft seine Freundin, die bessere Lehrerin älterer Zeiten.

Da er nun früh die cultivirtesten Länder Europa's sah und in Italien mehrere Jahre hindurch seine reifere Bildung gewann, wo, was die Vorwelt Großes und Schönes in Kunstwerken hinterlassen, ihm einen mit ihren Schriften, mit ihrer Denkart harmonischen Eindruck geben mußte: so war und blieb er ein Schüler der Alten, seines Horaz und Cebes, seines Antonin's und Platon's, mit einem unauslöschlichen Widerwillen gegen die Barbarei späterer Zeiten.

Was zuerst von ihm wider seinen Willen erschien (1700), war seine Untersuchung der Tugend, wie er sie im zwanzigsten Jahre entworfen hatte: ein Jugendversuch, der das Schöne einer sittlichen Gemüthsfassung nicht etwa declamatorisch anpries, sondern es der Tugend zum Grundgesetz machte.

Wie? einem zwanzigjährigen Jünglinge, vom Geist der Alten genährt, wollt Ihr's verübeln, daß er das Schöne im Sinne der Alten (τὸ καλόν) zum Grundgesetz der Tugend, auch im Sinne der Alten, macht und diese eben ihrer unaussprechlichen Reize wegen liebt? Sieht ein Jüngling von Gefühl die Welt, auch die moralische Welt, anders als mit Gefühl, mit Augen der Liebe? anziehend oder zurückstoßend, also unter dem Bilde des Häßlichen oder Schönen? Ist einem Jünglinge von Stande eine Beziehung eindrücklicher als Wohlanstand, innere und äußere Decenz, die Grazie des Lebens, Würde und Honnetetät des Charakters?

Und wisset Ihr, was das καλόν der Alten in sich begreift? Nicht den flachen Anschein der Dinge, mit welchem wir tändeln. Ihnen ist's der höchste Begriff der Harmonie, des Anstandes, der Würde, die auch höchste Pflicht ist, mit dem süßesten Reiz verbunden. Weder die Nutzbarkeit der Handlung schließt dieser Begriff aus (eine ganz unnütze Handlung ist nie schön), noch weniger Pflicht, schwere Pflicht; vielmehr ist diese Schönheit des Menschen und im Menschen nichts als reiner Charakter. Ohne Rückblick auf Lohn oder Bequemlichkeit fordert sie diesen als Menschencharakter, als Ziel und Genuß eines würdigen Menschenlebens.

Ein honneter Mann thut nichts Häßliches, wenn es den Augen der Welt auch verborgen bliebe; er kann es nicht thun; denn es ist häßlich. Er müßte sich ja vor sich selbst schämen. Ein Edelgesinnter thut, was ihm sein Herz gebietet, sein selbst, d. i. der Gesinnung wegen, die im Gefühl der höchsten Convenienz ohn' alle Rück- und Seitenblicke sich ihrer Pflicht ganz und froh hingiebt. Nehmet der Tugend diesen Reiz, den Stachel der Liebe – wie eine hölzerne Braut steht Euer Sittengesetz da, weder geliebt, noch fähig, geliebt zu werden. Unternähme die Hölzerne gar, mit eisernem Arm Gehorsam zu fordern, so wird sie verlacht, gehaßt, verachtet.

Was ist's, was die Seele regt, als Liebe? und was erweckt Liebe? Im Himmel und auf Erden nichts Anders als das καλόν im Sinne der Griechen; das Vortreffliche, das uns als unsre Bestimmung innig anspricht und ruft und fordert; das pulcrum, honestum, decens, decorum; unser Ein und All, die Summe des Schönen. Sie ruft mich, nur mich zum Werk, das kein Andrer statt meiner thun kann; denn es ist meiner Natur harmonisch. Die Gottheit selbst ruft mir, daß ich es thue; sie ist in mir und wird mich stärken. Wer den inwohnenden Reiz der ächten Honnetetät einer Menschenseele, einer dauernd schönen Gemüthsfassung, die sich auf Alles erstreckt, durch Alles verbreitet, wer diesen Rückklang der Weltharmonie im Herzen des Menschen gefühlt hat, er fühlte zugleich, daß es außer ihm kein Sittengesetz gebe. Denn nur durch Übereinstimmung der Theile wird eine Form, aus andringender Übereinstimmung dieser ansprechenden Form zu mir wird Gesetz. Kein Vernunftgesetz, kein Natur- und Kunstwerk ist ohne eine unsern Organen zusprechende Convenienz und Organisation seiner Theile zu uns auch nur denkbar. Wie könnte es also die lebendigste, feinste, schönste aller Organisationen, die Moralität im Gemüth des Menschen, wie könnte sie formlos sein oder formlos von ihm erkannt, geliebt, geübt werden?

So verwahrloste die Natur uns nicht; die Tugend ist nicht nur schön, sondern einzig nur das Schöne, das mit uns Harmonische, das Schönste.

»Aber das Gewissen? Ist Shaftesbury nicht vom gelehrten Bischof Butler überwiesen, daß er den wesentlichsten Theil des Grundsatzes der griechischen Philosophen, der Natur zu folgen, übergangen habe, nämlich: die unumschränkte Gewalt der Aufmerksamkeit auf unsre Handlungen, d. i. des Gewissens?« Nicht Butler allein, zehn andre britische und deutsche Moralisten haben Shaftesbury der Unzulänglichkeit seines Moralprincips überwiesen, in dem Sinne nämlich, wie sie, nicht er die Worte Schönheit, Reiz und Tugend nahmen. Im ächten Verstande, welcher Grundsatz predigt nicht etwa nur, sondern constituirt eine zartere Gewissenhaftigkeit als, ins Leben gebracht, dieser Grundsatz? Kräftig existirt kein Gewissen in mir, bis ich das Schändliche des Lasters, sowie das Liebenswürdige der Pflicht und Tugend, diese in ihrem Reiz, jenes mit Abscheu fühle. Beim imperatorischen Geschwätz von sittlicher Vernunft ohne strenge Anwendung auf Euch kann Euer Gewissen schlafen, und schläft so lange, bis Ihr Gefühl für Recht und Unrecht, Haß gegen das Niederträchtige und gegen jede Niederträchtigkeit, dagegen zum Edlen und Guten Zug, Hang, Liebe fühlt. Ohne dies Gefühl demonstrirt Ihr: »Niemand solle lügen«, und Ihr lügt; »Niemand solle unsittlich sein«, und Ihr handelt niederträchtig. Ihr demonstrirt fort, und jeder Honnete verachtet Euch, weil er sieht, daß Euch das Gefühl des Edeln und Niederträchtigen sogar fehlt. Lebte dieses in Euch auf, und in jedem einzelnen Fall auf, so würde Euch Gewissen (conscientia). Es spricht dem Aufmerkenden zu Tag und Nacht, weckend, belehrend, warnend, strafend, da es eben conscientia, die Stimme seines Gesammtgefühls, seiner ganzen Existenz und Convenienz zum moralischen Weltall nicht anders als sein kann. Wer das moralische Gefühl als ein von aller Vernunft und Anerkennung Verschiedenes, als einen sechsten Sinn oder als einen mit uns erwachsenen Leichdorn betrachtet, der hat leicht zu widerlegen; denn er redet wie ein Kind im Traum, er mißversteht und mißdeutet.

Mithin sind, so verschieden sie vorgetragen wurden, alle sogenannten ersten Grundsätze der Sittlichkeit eins und dasselbe. So wenig es mehrere Vernünfte im Menschengeschlecht geben kann, so wenig sind mehrere höchste Principien der Sittlichkeit auch nur denkbar. Plato und Aristoteles, Demokrit und Zeno, unter den Neuern Clarke und Wollaston, Smith, Ferguson, Leibniz und Spinoza sagen im Grunde ein und dasselbe; Jeder sagt es nach seiner Ansicht der Dinge und inneren Lebensweise, Dieser dunkler, Jener klarer, bestimmter, unbestimmter, enger, weiter. Wähle man sich eine Formel und bringe die Andern zu sich herüber; nur wende man auch die Formel an; denn das bloße Setzen der Henne thut's nicht.

Kein Streit ist nutzloser, als der über das erste Principium der Moralität geführt wird. Gehe der Eine von außen hinein, der Andre von innen hinaus, Der vom Erkennen, Der vom Empfinden; nur sei das Empfinden nicht ohne Erkennen, das Erkennen nicht ohne Empfinden. Wer sein Principium deswegen für alleingiltig hält, weil er es setzt, den lasse man setzen und sein Ipse fecit komisch-eitel umtanzen.

Ohne ehrliches Gefühl der Wahrheit und des Rechts, mithin auch ihres Lohns und ihrer Strafe, ist keine Moralität denkbar. Weder Gesetze noch der Katechismus können uns dies Gefühl geben, wohl aber in uns erwecken und es fördern. Die Anerkennung des Gesetzes als unsrer Natur, die Befolgung des Katechismus mit Lust und Liebe, sie macht freudige Jünger der Moral aus stolzen Dictatoren und fröhnenden Knechten.

Das Menschengeschlecht moralisch zu erziehen, flößt ihm Liebe zu seiner Pflicht ein, als zu einer heilsamen, göttlichen, sich selbst belohnenden Naturordnung. Nicht Gesetzgeber, schafft Kinder der Natur aus ihren thierischen Sclaven!

Je reiner die Liebe zu seiner Pflicht wird, desto mehr wird sie innerer Wohlanstand, Liebe zur Tugend als einer Braut, des höchsten Kampfpreises menschlicher Mühe und Bestrebung.Ἀρετά, πολύμοχϑε γένει βροτείῳ,
ϑήραμα κάλλιστον βίῳ,
σὰς πέρι, παρϑένε, μορφᾶς
καὶ ϑανεῖν ζηλωτὸς ἐν Ἑλλάδι πότμος
καὶ πόνους τλῆναι μαλερούς, ἀκάμαντας.
                                      Aristoteles. – H.

Dieser Wohlanstand schafft Wohlstand, nicht aber wird er von diesem, zumal eigennützig, geschaffen und fabricirt. Der schönste Wohlanstand vergißt sich, giebt sich hin, lebt in Andern und für Andre mit siebenfach süßerer Freude.

Warum blickt die messende Nemesis in den Busen?Vgl. Herder's Werke, VII. S. 311 f. – D. Da ist ihr Maßstab, das Gefühl des Anstandes gegen sich, des Mitleidens und der Mitfreude mit Andern. Auch das Erlaubte sollen wir nie zu weit treiben, auch bei dem Löblichsten darf uns keine stolze Selbstgefälligkeit überschleichen. Selbst im Lobe, im Bewundern Andrer sollen wir Maß halten; unsre Uebermacht über sie sollen wir zügeln; Nemesis ist da! sie ist in uns.

Führen diese Lehren, deren Anwendung die feinste Schule des Lebens ist, nicht auf das Anständige, das Würdigste, das καλόν der Alten? Der Jüngling, dem diese Adrastea früh erscheint, um ihn für jedem Uebermuth zu bewahren, um ihm das Maß jeder Tugend im schönsten Wohlanstande anzueignen, der Gottgeliebte wird in Allem, was von seiner Wahl abhängt, zu seiner Bestrebung nur das ihm Angehörende, zugleich aber auch das Schwerste, das Allgemeinnützliche wählen. Jeder Liebhaber der Alten sollte sich dieses Systems, des ältesten, edelsten, wirksamsten, annehmen.


                    Das Gewissen.

Richter im Herzen, auf Vernunft gegründet,
Dem nie ein Vortheil seine Lippen bindet,
Den Gaukeleien mit geschmückten Lügen
                Nimmer betrügen.

Schnelles Gewissen, daß wir Dich empfinden,
Ist nicht Gewohnheit; Sünden bleiben Sünden.
Dich, wahres Urtheil, läßt auch im Verbrechen
                Gott in uns sprechen.

Sichere Kenntniß muß Dich unterstützen,
Wenn Du den Menschen willst zur Ruhe nützen;
Die Eile schadet, Zweifel macht verwirret,
                Leidenschaft irret;

Aber wem unverblendet Du einwohnest
Und seine Thaten durch Dein Lob belohnest,
Dem wird den Frieden selbst der Welt Empören
                Nimmermehr stören.

                                                      Zernitz.



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