Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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19. Jonathan Swift. Gegenseite.

Bedauernd schildern wir diese. Swift war ein Unglücklicher, dessen scharfer und tiefer Verstand von einer Leidenschaft beherrscht ward, die ihm zuletzt die wahre Ansicht der Dinge, mithin allen Genuß des Lebens raubte. Stolz war diese Leidenschaft; zwar der edelste Stolz, der Nation mit seinem Verstande thätig zu dienen; da er dies aber auf der ihm gebührenden Stelle nicht thun konnte und schon unter Oxford und Bolingbroke auf einer Spitze des Bollwerks zwischen zwei ungleichen Seiten gegen eine Partei, die in Manchem sehr Recht hatte, wirken mußte, so gingen, als seine Staatspartei fiel, nie zwar seine Grundsätze, wohl aber seine Seelenkräfte, am Frühesten aber sein guter Humor und sein Glück unter. Die hohe Kirche, der er fast über Gebühr das Wort geredet und über Verdienst ausgeholfen hatte, fürchtete ihn; die Whigs, deren Grundsätzen er über die Linie entgegengetreten war, haßten ihn; seine Freunde, denen er fast zu treu blieb (eine edle Schwachheit!), ob er wol ihr System haßte und ihre Fehler kannte, vergaßen ihn: da nagte das Unrecht, das ihm geschehen war, ihm wie eine Schlange am Herzen. Die Großen, die ihn betrogen oder getäuscht hatten, von jener Hofdame, die sein erstes Unglück machte, bis zur metaphysischen deutschen Königin, den Hof und mit ihm alle Deutsche verachtete er; seinen Verfolger Walpole haßte er als Menschen und als Minister, so daß die jüngere Welt, die er doch in seiner einsamen Entfernung theils nicht kannte, theils nach seiner älteren Denkart nicht immer billig gnug beurtheilen konnte, ihm zuletzt wie eine Grube erschien, aus der er sich hinauswünschte. Einzelne Verhältnisse seines Lebens, z. B. seine Verbindung mit der seltenen Stella, die mit verhaltenem Schmerz vor seinen Augen welkte und hinschwand, die Thorheit der Vanhomrigh, Vanessa genannt, an der er doch auch durch eine kleine, von ihm unbewachte Eitelkeit Schuld war, Umstände der Art machten ihm auch von der zartesten Seite Erinnerungen ans Loos der Menschen unerfreulich; und so kam er dahin, wohin wir unserm Feinde nie zu kommen wünschen, daß ihm die menschliche Natur selbst fade und in Lasterhaften abscheulich ward. Er, der die Reinheit des Körpers äußerst liebte, er, ein kalter, züchtiger Mann, der Unfläthereien im Gespräch sowol als im Leben bis aufs kleinste Merkmal nicht dulden konnte, ward vom gewöhnlichen Troß der Menschen gleichsam exhumanisirt. Die Menschenform ward ihm verleidet, so daß er diese, wo sie sich mit Schminken deckte, am Wenigsten ausstehn konnte und lieber den verworfensten Theil, gleichsam den Vorwurf und die Schande der Schöpfung, zu seinem Augenmerk machte. In solchem Geist sind Gulliver's Reisen geschrieben. Young's Declamationen,Ueber die Originalcompositionen, am Ende. – H. daß Swift die menschliche Natur mit geheimer Schadenfreude heruntergesetzt habe, sind ebenso flach als unwahr. In seiner Geistes- und Herzenskrankheit sahe er die Yahoos vor sich, und da ihm kein ander Geschlecht zu Gebot stand, eine vernünftige, reine, billige Gesellschaft zu zeichnen (denn im Monde und im Saturn war er nicht gewesen): so wählte er die Gestalt des Thiers, das der Schöpfer der Menschen selbst als eine edle Gestalt dargestellt hat,Hiob 39, 19–25. – H. des Rosses. Swift's Rosse aber sind vernünftige, billige Geschöpfe, wie Menschen es sein sollten; nicht der Zweck, nicht die erhabnen Fähigkeiten und Anlagen des Menschengeschlechts, wohl aber Name und Gestalt des Menschenthiers war ihm, wie dem lebenssatten Hamlet, verleidet. »Ihr seid«, sagt Dieser, »vom Könige und der Königin geschickt, mich zu erfragen. Seit einiger Zeit habe ich, ich weiß nicht wie, alle mein Frohsein verloren, alle meine Leibesübungen aufgegeben. Und gewiß, es geht so übel mit meinem Befinden, daß dieses gute Gerüst, die Erde, mir nur ein wüstes Vorgebirge, dieser treffliche Lufthimmel (schaut auf!), dies fest überhangende Firmament, dies majestätische Dach, ausgelegt mit goldnen Sternen, – wie? – mir nur eine faule, pestilenzialische Sammlung von Erddüften scheint. Welch ein Meisterstück von Werk ist der Mensch! wie edel in seiner Vernunft! an Fähigkeiten wie unendlich! in Gestalt und Bewegung wie voll Ausdruck, wie bewundernswerth! in Handlung, wie gleich dem Engel! im Begreifen, wie gleich einem Gott! die Schönheit der Welt! das Urbild der Geschöpfe! Und doch mir? Mir? was ist sie, diese Quintessenz von Staube? Der Mann gefällt mir nicht, das Weib auch nicht.« Was Hamlet der Ophelia, sagte Swift im stummen Anblick seiner Stella täglich.

Was den Dechant am Meisten niederdrückte, waren die obern Stände. Sie hielt er für unverbesserlich; und an sie hatte er sich so sehr gehangen!Sie und die Geistlichen vergalten ihm seine Parteilichkeit für sie übel. Für Charles Boyle hatte er gegen Bentley ungerecht gestritten, und Lord Orrery schrieb über ihn die Väterlichen Briefe. Eine Lordsvergeltung! – H. auf sie so sehr getraut! Nur aus dem mittleren Stande, meinte er, könne was Gutes entspringen; der unterste sei unterdrückt. Gerade dem Untersten des untern Standes suchte er also aufzuhelfen und knirschte gleichsam, indem er wohlthat. Gehabe Dich wohl, ernster Geist, in Deiner jetzigen höheren Wohnung, wo Dir mit der ganzen Nebelinsel die schmutzige Hof- und Staatswirthschaft Deiner Feinde verschwunden ist! Uns giebt Dein Leben und der Ausgang desselben die strenge Lehre: »Der Menschheit überhebe sich Niemand! Extra humanitatem homini nulla est salus!«

Wie jener Kaufmannsrepublik, der Karthager, Schriften sammt und sonders untergegangen sind, so, fürchte ich, gehn auch die punischen Schriften Swift's (er war ein großer Liebhaber der Puns, der Silben- und Wortspiele) mit unter. Wer wird sich einst die Mühe geben, ein Gewirr niedriger Parteien, rangsüchtiger Edlen, weiblicher und weibischer Hofcabalen zu enträthseln? Und da Swift's großer Geist größtenteils darein versenkt ist, wie wenige Stücke können den in Schlamm gesenkten Geist erlösen! Der größte Bewundrer seiner Talente beklagt die Materie sowol als die gothische Form, an welche sie gewandt sind; er findet sie in jenem Mode-Unrath, den die selbstständigen Insulaner britischen Geschmack nennen, und der fast keine reine Formen zuläßt, verloren.Diesen dem Anschein nach harten Ausdruck wird der Verfolg dieser Blätter erläutern. – H.


Beilage.
Strafende Genien.

Nicht von Attilas, Dschingiskhans und Tamerlans, die sich Geißeln Gottes nannten, ist hier die Rede, sondern von jenen scharfblickenden Geistern, die von der Vorsehung gesandt scheinen, Fehler der Menschen zu bemerken und zu verbessern. Sie sind zu jeder Zeit dem Menschengeschlecht unentbehrlich: denn wann kann sich dieses ganz ohne Fehler zu sein rühmen?

Meistens kündigen sich jene gebornen Censoren durch feste, strenge Gesichtszüge an, die man Solonische oder Catonische zu nennen pflegt. Schon ihre Gestalt sagt, daß sie zum Tändeln nicht da sind, noch mit sich tändeln zu lassen; sie befiehlt und straft. Unbestechbar stehen sie da, ohne zu weichen und zu wanken.

Gelangen diese Gestalten an ihren Platz, so thut Einer, woran hundert Weichlinge verzagten. Sie reinigen das Land, wie der scharfe Sturm die Luft reinigt; sie schaffen Sicherheit und Friede. Gesetzgeber oder Gesetzpfleger der Art brachten Zeiten zuwege, da man bei offnen Thüren sicher ruhen und das Seine an die Landstraße legen konnte, in Gewißheit, es wiederzufinden.Wie von der Zeit des Königs Alfred in England erzählt wird. – D. Auch in den geschäftigen Ständen trifft man Charaktere dieser Gattung von beiden Geschlechtern an; manche Zünfte, die strenge Regelmäßigkeit fordern, bilden zu solchen Charakteren, bauende Zünfte z. B. und Baukünstler, Verwalter der Gesetze, Befehlshaber, Richter. Wird ihre Strenge von Billigkeit geleitet, durch Güte gemildert, so sind sie auch im Stillen erhabne Menschen, Pfeiler der Gesellschaft.

Will aber Jemanden dieser Art das Schicksal übel, er gelangt nicht dahin, wohin er sich bestimmt fühlt, indem Alltagsgesichter oder heuchelnde Vielthuer sich ihm vordrängen; mißrathen ihm seine ersten und letzten Versuche, so daß er sich in seinen Erwartungen bei den Besten betrogen und sein Herz, sein Zutrauen, seine Anerbietungen vergeudet findet; neckt ihn dagegen frühe der Finger des Spotts, der Zahn der Verleumdung: so drängt er sich in sich zurück und zeichnet mit Scheidewasser sowol die äußern Gestalten in sein Herz als die Gestalt seines Gemüths auf die Stirnen, die ihn umgeben. Er sieht nicht nur scharf, sondern schneidend. Wohl, wenn ihm die Natur dabei das kleine Linderungsmittel, den scherzenden Spott, nicht versagte, der die verwundete Brust zwar nicht heilt, aber lüftet! Versagte sie ihm diesen, oder verschwindet er mit den Jahren, so wird der scharfe Seher mißmüthig, mürrisch, zuletzt ein Gemüthskranker, den Seinigen selbst oft unerträglich.

Hätte die Barmherzigkeit Orakel und Altar unter Menschen, so würde diese ihrer scheinbaren Feinde, der Menschen von scharfem Blick, sich zuerst annehmen. Oft mit wie Wenigem wäre ihre Schärfe zu mildern, und wenn es früh geschähe, ihre Bitterkeit selbst in Arznei zu verwandeln. So lange Andre aber nichts wissen und können, als den Strafenden züchtigen, den Bemerker strafen; so lange man keine Mittel gegen seinen Blick hat, als ihm die Augen auszustechen, den Mund zu knebeln oder ihm zu gebieten, daß er anders sehen und sprechen müsse: so macht man ebenso unvernünftig als unbarmherzig das Uebel ärger. Die Wahrheit, wenn sie Fehler der Menschen und ihrer Gesellschaft betrifft, läßt sich ebenso wenig weglügen als wegheucheln.

Was Andre nicht thun, thue Jeder selbst an sich in Betracht der fehlenden Menschheit; er werde sein eigner Arzt. Insonderheit suche er den Grund der Krankheit in sich zu heilen, der gewöhnlich Anmaßung (Präsumtion) ist. Man traut sich zu, was Andre recht- oder unrechtmäßig uns nicht zutrauen; man fordert tiefere Beugung vor sich, höhere Achtung seiner. Thörichte Fordrung, wenn sie auch mit Grunde geschähe! Niemand kann höher achten, als er Gefühl fürs Vorzügliche hat; über flache Tellerseelen ergießt sich Alles gleichartig. Zudem ist eine erzwungene Achtung noch unanständiger und unbefriedigender als eine erzwungene Liebe. Der Achtungswürdige muß der Achtung entbehren können, ja sich in ihr als einer unnöthigen Zuthat selbst betroffen fühlen; sobald er sie sucht und nach ihr läuft, sie erkaufend, ertrotzend, erkünstelnd, wird er verächtlich. Grämt er sich über ihren Verlust, sofern er sie nicht durch eigne Schuld verloren, so zeigt er sich klein, schwach, erbärmlich.

Ueberdem, wie Alles in der Welt verbunden ist, so sind es auch Tugenden und Fehler. Wer wollte eine reife Frucht nicht genießen, weil eine unreife neben ihr hängt? wer sich der Jugend nicht freuen, weil auch sie den Keim des Alters in sich trägt? Die Abstraction, die Fehler von Schönheit sondert und jene als selbstständig betrachtet, sie ist die schlimmste aller Abstractionen. Schatten müssen das Licht erhöhen; das getheilte Licht giebt Farben. Zu ihnen ist unser Auge eingerichtet, nicht zum dephlogistisirten Sonnenlichte.

Drittens. Auch die Fehler der Menschen und der Gesellschaft sind nicht ohne Grund; ihre Wurzeln erstrecken sich sehr weit und verschlingen sich ins Ganze. Wer Fehler ohne ihre Gründe sieht, bemerkt nur halb; sieht er sie aber in ihrem Grunde, so verwandelt sich sein Aerger ins zarteste Mitleid. Mitgefühl also ist die große Arznei jener ätzenden Säure, die uns zuletzt die Menschheit selbst verleiden möchte. Wie schwach und fehlerhaft diese auch sein möge, wir sind einmal Menschen, vor der Hand nichts Anders. Außer ihr kennen wir kein Glück, geschweige daß wir's genießen könnten. Alle ihr Fehlerhaftes, zur höchsten Summe getrieben, kann uns nichts Anders als Hoffnung und Ergebung (Resignation) lehren, oder diese Caricatur der Menschheit macht – wahnsinnig.Hier folgte in der Adrastea: »Das Mitgefühl. Ein Gegenstück zu Swift's Versen über seinen Tod« (Herder's Werke, III. S. 363–370). – D.



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