Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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10. Atlantis.Der Name soll mit Beziehung auf Plato's »Kritias« ein glücklicheres geistiges Leben der Zukunft andeuten. – D.

Sehen wir zurück auf die mancherlei Bemühungen, die wir bisher durchgangen sind, was in ihnen einzelne Menschen sowol als Verbindungen und Gesellschaften Gutes und Böses, irrig und schwindend oder wahr und dauernd geleistet; bemerken wir den Streit der Geister verschiedner Parteien, und wie immer zwei Extreme, Licht mit der Finsterniß, Neuerung mit dem Herkommen, junger Fleiß mit alter träger Autorität, kämpften, und werden dabei gewahr, wie viel herrliche Talente umsonst in diesem Streit untergingen, wie viele gar nicht zum Vorschein kamen, weil sie nicht an ihrem Platz standen, endlich, welche tolle Verwirrungen entstanden, wenn die Faust Auge, der Fuß Ohr sein wollte: Verfolgung, Thorheiten, Kränkungen, Lähmung gesunder Glieder oder gar auf eine Zeit Stemmung, Stockung, Chaos des Ganzen, d. i. aller geistigen und sittlichen Kräfte: dies Alles in einen Blick gefaßt, schlägt uns nicht das Herz mit der Frage: »Sind diese Kräfte nicht zu ordnen und zweckhaft anzuwenden? Stehen die arbeitenden Genien des Menschengeschlechts unter keinem leitenden Blick, unter keinem SiegelringeAnspielung auf Salomo's Zauberring. – D. des weisen, des geistigen Architekten? Dürfen und müssen sie gehen, nach der Sprache des Propheten, wie Fische im Meer und wie das Gewürm, das keinen Herren hat?Vgl. Herder's Werke. IX. S. 46. – D. Gehört dies etwa zur unveräußerlichen Freiheit der Geister?«

Bei jeder Einrichtung menschlicher Dinge denkt man sich ein übersehendes Auge, eine allgemeine Vernunft (raison universelle) und plastische Kraft, ohne welche die Theile zerfallen oder gegen einander wirken. Trauriger dem Anblick aber ist nicht leicht etwas als eine zerfallne oder stockende Kunstmaschine, widerlicher nichts als eine schnarrende Uhr, als ein verwesend gährender Körper. Lasset uns also, da Campanella eine Sonnenstadt, Baco eine Atlantis schrieb und thätigere Geister, wie Zinzendorf, Wesley u. s. w., mit regsam-unermüdetem Fleiß wirkende Gesellschaften, geistig-moralische Gemeinen, d. i. Societäten (civitates) stifteten, ihre Vorbilder nutzen und dem Gewirr des vergangenen Jahrhunderts den Ton abfragen, in dem seine Bemühungen etwa zusammentrafen. Bei rohen, physischen Kräften nennt man es den Dienst; das Militär, die Industrie sind dazu geordnet; verdienen oder leiden die feinern, geistigen und moralischen Kräfte keine Organisation und Zusammenordnung?


1. Schulen und Universitäten.

Sind Institute zu Ausbildung und Zusammenordnung solcher Kräfte; ihre Einrichtung sei gut oder übel, das lebendige und Hauptwerk ist ihre Verwaltung. Trügen sie auch aus alten Zeiten Mängel an sich, welche menschliche Verfassung ist ohne dergleichen? und wie bald wird, was auch wir stiften und ordnen, weniger brauchbar für kommende Zeiten: Also in diesen alten Gehäusen (wer es vermag, baue sie neu!) das möglichste Gute zu bewirken, ist die Aufgabe; und da sagen uns die Jesuiten in Paraguay, die Methodisten in England, die Brüdergemeinen an aller Welt Ende, dies geschehe durch lebendige Wirksamkeit, durch Societät und Aufsicht. Die großen Wirkungen des Jesuitismus waren Folgen der Ordnung und strengen Subordination in der Gesellschaft. In Zinzendorf's Gemeinen zieht sich das Band linder, ein Band zwischen Brüdern und Schwestern; dennoch aber ist's ein Band, die Gesellschaft erhält sich nur durch Ordnung. So die Methodisten. Wesley's Lebensbeschreiber sagt es der Gesellschaft vorher, daß mit der genauen und strengen Obhut ihrer umherziehenden, mit frischem Blick und neuem Leben wirkenden Prediger die Gesellschaft selbst sich halten oder entschlummern werde. Wenn das Herz nicht mehr schlägt, neue Lebenskraft durch alle Adern sendend, was wird der Körper?

Aufsicht also und Vereinigung zu einer wirkenden Gemeinschaft können die Lehranstalten eines Landes allein in Leben setzen und erhalten. Sind beide ohne Obhut, mit dem Staat gleichsam unverbunden, so daß man sie als für sich bestehende alte Cadaver betrachtet; lehrt man in ihnen nicht, was der Staat und das Leben braucht; arbeiten Niedere und Höhere einander nicht in die Hände; sind Die, die ihnen vorstehn, arm, verachtet und leben ein kümmerliches Leben; oder endlich, taugt die in ihnen herrschende Methode nicht, sind ihre Lehren und Sitten dem Staat und den Jünglingen gar gefährlich: welche Desorganisation! Chaos und Abgrund.

Kein öffentlich angestellter Lehrer darf schlechthin lehren, was er will, wie es ihm im Augenblick einfällt; er soll die Wissenschaft oder Kunst lehren, dazu ihn der Staat bestellt, und zwar auf die dem Staat und der Menschheit nützlichste Weise, also unter Aufsicht. Deswegen heißt der Landesregent Rector der Universität; wie der Kaiser von China ist er der geborne Präsident der Wissenschaften und Künste seines Landes. Sind seine Einsichten dieser Ehrenstelle nicht gewachsen, so habe er ein Tribunal der Verständigen zur Seite; denn alle Fehltritte und Aergernisse gelehrter Institute seines Landes, die Wahl schlechter Lehrer, die schlechte Ausbildung unbrauchbarer Zöglinge, unwürdige Streitigkeiten seiner Gelehrten, häßliche Sitten der dort zu erziehenden Jugend ruhen zuletzt auf ihm. »Dem Staat«, sagen die Geschlechter, »vertrauten wir unsre Sprossen, nicht dem tollen Dafürhalten einzelner, phantasirender Lehrer. Daß ihre Köpfe verschroben, daß ihr Gehirn auf lange Zeit verwahrlost werde, dazu sandten wir sie auf Eure Schulen, Eure Universitäten nicht.« Auch darf sich kein Lehrer über diese Aufsicht als über einen Zwang beklagen; denn wozu ward er öffentlicher Lehrer dieses Instituts? Ihm, dem Privatmann, blieben alle seine Gedanken frei.

Man weiß, welchen Schaden den Jesuiten die in einigen ihrer Schriften vorkommenden, von der Gesellschaft übersehenen gefährlichen Aeußerungen gethan haben. So schuldlos viele Glieder der Gesellschaft sein mochten, schrieb man sie doch der ganzen Gesellschaft zu. Jede Lehranstalt muß sich von Scandalen rein und frei erhalten; noch ist aber damit wenig geschehen, wenn das Auge des Staats nicht positiv wirkt. Wo Talente nicht aufgemuntert, Fleiß und Erfindung nicht belohnt werden, wo der Beste unter dem Cabalen-Einfluß des Schlechteren erliegt, ein Spinngewebe im Winkel, wo aus Hunger eine Spinne die andre frißt – dies ist keine Sonnenstadt, keine Atlantis. Wie erfreulich dagegen der Anblick wohlorganisirter Institute sei, und wie viel durch sie gewirkt werde, eben das haben mehrere, theils Gesellschaften, theils einzelne Männer bis zur Verwunderung erwiesen. Die Menschheit nimmt alle Formen an und ist ihrer fähig, zumal in jüngeren Jahren; die wohlanständigste gefällt den Jünglingen selbst bald am Besten. Einer wohleingerichteten Schule eifern die andern nach, Schulen und Universitäten einander. Beide, den jetzigen Bedürfnissen des Lebens und Staats harmonisch, geben die Idee eines wahren Salomonischen Baues, fortwirkend auf kommende Zeiten. Es wird einen frohen Anblick geben, wenn wir bemerken, wie das vergangene Jahrhundert nicht etwa nur gewünscht, sondern in Reinigung seiner alten, in Bildung besserer neuer Institute wirklich große Anfänge gemacht hat. Plus ultra!

 

2. Schriften.

Jünglinge, wenn sie die Universität verlassen, bleiben sie ohne Aufsicht? Traurig und gefährlich, wenn sie es blieben; denn eben dies sind ihre Entscheidungsjahre für Glück und Unglück, für Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit aufs ganze Leben. Alle Gesellschaften also, die fortdauern wollten, legten Seminarien an, auf welche sie, wie auf Pflanzstätten und Conservatorien ihrer selbst, den größten Fleiß, die sorgsamste Obhut wandten. Man weiß, daß unbesät der fruchtbarste Acker das meiste Unkraut trägt; geil und wilde schießen also, wenn ihnen bearbeitende Pflege mangelt, gute Köpfe in Ranken empor und kommen vielleicht nie zu bessererer Zucht und Wartung. Haben wir deren nicht traurige Beispiele gnug in Deutschland? Ein Heer junger Schriftsteller, die, kaum der Akademie entronnen, mit oder ohne Talent, Pasquille, Romane, Philosophien schreiben, sich, wie sie sagen, dem Bücherschreiben ergeben und, um unabhängig zu sein, dem Dienste des Staats entsagen: welche Gesellschaft der Vorgenannten würde dies dulden? Sie stieße die Scriblers, verwahrloste Freidenker von sich. Aus Erbarmen sollte der Staat sich dieser Verlornen annehmen und unter ihnen die brauchbaren Kräfte, die jetzt in schriftstellerischem Müssiggange phantastisch verschleudert werden oder gar zu Entwürdigung der Wissenschaften, zum Verderb der lesenden Welt wirken, nützen. Die unglückliche Zeit der französischen Revolution, das damals wüthende gelbe Fieber des Independentismus, zu dem sich die kritische Himmelsstürmerei gesellte, hat eine Menge schöner Talente vom Wege gebracht; noch dauert in ihren Köpfen die Revolution fort und wird dauern. Was bei Toland, der in ähnliche Zeiten traf, und bei mehreren Freidenkern Englands angemerkt worden, gilt von diesen Armen. Langsam wird die Zeit, vereint mit dem Mangel, ihre früh empfangne tiefe Wunde heilen.

»Wie aber? steht nicht Jedem die Wahl seiner Lebensart sowie die Aeußerung seiner Gedanken, mündlich oder schriftlich, gedruckt oder geschrieben, frei?« Immerhin! In Deutschland vollends sind Verbote oder Interdicte darüber fast unkräftig; denn was nicht hier, wird anderswo gedruckt und findet zuletzt jenseit des Rheins seinen Verleger. Wie aber die Gesellschaft fordern darf und fordert, daß man auch mündlich nicht zu Jedem und überall auf gleiche Art spreche, so hat das Publicum, das gedruckte Schriften lesen soll, auch seine Rechte, mithin der Staat, der diese handhaben und vertreten soll, auch seine Pflicht. Er hat ein Mittel in der Hand, das wirksamer sein kann als alle Censur und Verbannung, es ist – die Kritik. Die Kritik gehört dem Staate.

»Die Kritik dem Staate?« Keinem Andern; nur durch seine Verständigsten übe er sie aus!

Was will das Privilegium sagen, das zu einem Tribunal der Kritik einem Verleger ertheilt wird? Daß er als Buchführer gedruckte Lumpen umherführen dürfe, unbeachtet, was darauf gedruckt ist? Welche Entwürdigung wäre dies der höchsten Pflicht und Gabe, die, wie der Mensch vor Thieren, so eine Gesellschaft von Menschen, der Staat, hat – zu urtheilen, durch sein Urtheil Werth und Unwerth vor andern Menschen öffentlich, dauernd zu bestimmen! Dies Recht, diese Macht einem Verleger geben, weil er Lumpen druckt und umherführt, hieße den sonderbarsten Schöppenstuhl der Wahrheit und des Geschmacks gründen. Auf wen fällt der Schimpf, wenn dieser Stuhl alberne Urtheile, Injurien spricht? Auf Keinen als auf den Staat, der dies Privilegium ohne Sicherheitsleistung einem Unfähigen gab und seine eigensten Rechte nicht ausübt. Sehr in der Ordnung war Haller's Gedanke, den Gelehrten Anzeigen, die er in Mitte des vergangnen Jahrhunderts begann,In Göttingen. – D. die Aufsicht einer Gesellschaft der Wissenschaften als eine Firma zu geben; denn die competenten Richter geistiger Producte sind immer doch nur Männer von Geist, nicht vom Verleger gedungene Söldner. Und bei Invectiven, wer würde mit dem Drucker Krieg führen? Der Staat, der ihm die Macht gab, Invectiven zu drucken, er ist der vor aller Welt Verklagte. »Wie?« sagt im Herzen jeder Ehrliebende, »in keiner ehrbaren Gesellschaft darf eine Beleidigung ausgesprochen werden, ohne daß die Gesellschaft widernd daran Theil nehme, und die edelste Gesellschaft, der Staat, begünstigt eine ehrabschneidende Räuberhöhle? Indem solche Menschen ohne Aufsicht in ihm öffentlich und beglaubigt Urtheil sprechen dürfen, bekennt er entweder seine Barbarei, der weder Ehre noch Wissenschaft am Herzen liegen, oder daß er keine verständigeren Richter habe. Ihm ist gleichgiltig, was auf dem Käsekram der Lumpen gedruckt werde.« Ganz anders ein Staat, der Ehre liebt. Sein ist die Kritik; er spricht sie durch Mund und Feder seiner Würdigsten aus; diese stehen für ihre Worte. Fürchte man nicht, daß hiedurch eine Lähmung im Urtheil entstehen, daß Einseitigkeit und Despotismus sich wilde geberden werden! In Deutschland sind mehrere Staaten; jeder darf sein literarisches Tribunal haben, da dann eines dem andern bald die Stange halten wird und das feinere Urtheil doch zuletzt siegt.

Nicht aber auf Mißbrauch muß man zuerst rechnen, wenn man einen Plan entwirft; richtiger Gebrauch ist sein Zweck, bei welchem man jenem vorbeugt. Sind die Verständigsten des Landes die gebornen Richter des Wahren, Guten und Schönen, so entspringt hieraus natürlich eine Akademie oder Societät der Wissenschaften, die urtheilt. Drängen sich Unwürdige zu ihr, so fällt der Schimpf abermal auf den Staat, der solche asellos für seine Verständigsten erkannte; bald aber muß sich auch bei Mißgriffen eine Gesellschaft der Würdigsten klar hervorthun, die sich durch sich selbst bewährt. Diese, eine wahre Akademie della Crusca, käme nicht zusammen, um einander mit Vorlesungen zu belangweilen; als Consultatorin des Staats richtete sie über literarische Verdienste in geschlossener Gesellschaft. Ihr würde, was privilegirte Kritik ihres Landes heißt, mit unterzeichneten Namen der Autoren von jedem Redacteur kritischer Blätter pflichtmäßig zugefertigt, nicht zu ihrer Censur allein, sondern vorzüglich zu ihrer Notiz, im Hall, wo es Notiz bedürfte. Deren bedarf es, um Die zu kennen, die sich selbst und Andre recensiren, um überhaupt die geistigen Kräfte zu kennen, die sich gegen einander bewegen oder ruhig wirken, endlich um jede Kraft gebrauchen zu können, wozu der Staat sie gebrauchen kann und soll. Dies aufgehobene Tuch, wie viel machte es offenbar! und doch würde es vor dem Publicum nicht aufgehoben, als wo es das Recht fordert. An sich wäre dies kritische Tribunal mehr das Auge als der Mund des Staates.

Aber nicht wissen und einhalten allein soll der Staat, sondern auch fördern und helfen. Verdienen Geisteskräfte es weniger als rohe materielle Kräfte? Wie viel ist in Deutschland für die Gesellschaft geschehen, ohne daß sie nur Kunde davon nahm! Das hungernde Talent floh mit seinen Erfindungen zu ihrer Ausbildung und Anwendung oft in andere Länder.

Und wo irgend ein Fürst nur sein Auge auf literarische Bemühungen wandte, zumal wenn es mit Kenntniß und Liebe der Wissenschaft geschah, wie dankbar, sorgsam und wohlthätig wandte man gegenseitig den Blick an! Auf seinem Seeberge bei Gotha hat Zach alle Observatorien Europa's nach und nach versammelt. Der Name des Fürsten, der ihn in seinem Werk unterstützt, glänzt still und ewig unter den Sternen.

Ein Monarch, der einst sein Land zum angenehmsten Garten Europa's umschuf,Kaiser Leopold, vormaliger Großherzog zu Florenz. – H. ließ bei jeder Reformation, die er im Sinn hatte, die Geister durch Schriften vorbereiten. So verstand man, was er wollte; die Vernunft ging dem Gesetz voran.

In dem Staate Deutschlands, der jetzt allen Beobachtenden wie eine Morgenröthe von Hoffnungen aufgeht, arbeiten denkende, sowie wollende und ausrichtende Kräfte mit einander. Maximilian Joseph ist, der beide fördert und ordnet. Sein in Baiern längst verehrter Name geht einem neuen Jahrhundert voran.

Bekannt ist's nämlich aus der Geschichte, daß gewisse Zeiten sich theils durch eine größere Anzahl erregter geistiger Kräfte, theils durch eine neue besondre Richtung derselben auszeichnen. Trifft diese mit wahrer Unterstützung auf einen großen Zweck, so schafft sie ein neues Jahrhundert in den Annalen der Menschheit; ein König im Reiche der Geister, der sie wie Salomo bindet und zu seiner, einer edlen Absicht in Thätigkeit setzt, dessen Siegelring ein Verstand ist, dem Alle willig gehorchen: er ist den Gemüthern ein großer Meister! Sein Name wird genannt, wenn er längst nicht mehr ist, ja, zuletzt hangen sich an ihn aus dankbarer Freude liebliche Märchen.

Dagegen wenn ein Zeitalter der Geisteskatarrh, Schnupfe, Lähmung, ein Wahn, eine eigentümliche Tollheit überfällt und ein hilfreicher Arzt, um die kranke Schwärmerin zur Gesundheit zurückzuführen, die Krise abwartet: auch er ist ein Wohlthäter der Menschen. Hätte am unglücklichen Ausgange des verflossenen Jahrhunderts ein Genius Macht gehabt, alle Genien Europa's zu vereinigen, um mit einer Stimme den Betrug zu verkündigen, »daß man für eine falsche Helena, genannt Freiheit und Gleichheit, Glück und Leben aufopfere, indeß die wahre Helena von den Göttern längst gerettet sei«:Anspielung auf die Fabel eines Stücks von Euripides, das voraussetzt, die Griechen hätten vor Troja zehn Jahre um ein Wahnbild der Helena gestritten, indeß die wahre Helena nach Aegypten gerettet gewesen. Eine lehrreiche Idee für alle kriegführenden Mächte, die um einer geistigen oder körperlichen Helena Trugbild ihre Völker zu Felde führen! – H. welch unermeßlichem Unheil hätte er vorgebeugt! Als das Wahnbild zerfiel, freilich, da sahen die Geister zu spät, wie häßlich sie hintergangen waren!

Wenig schmerzt in der Geschichte so sehr als der Anblick ungebrauchter oder mißbrauchter, unzeitig verschwendeter Kräfte. Wenn ein Lessing mehrmals sagen konnte: »Ich stehe müssig; mich dingt Niemand. Ich will's hiemit, damit versuchen; ich will nach Rom wandern!« freilich, so stand es damals, wo er lebte, mit Anordnung geistiger Kräfte mißlich. Auf seinen Platz gestellt, wie mehr hätte dieser rüstige Geist, der jetzt schon, wo er hin- und hineingriff, so viel geleistet hat, vollendet! Eine unter ihm werdende Gesellschaft, wie Mancherlei wäre sie geworden!Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 541 f. – D.

 

3. Sitten.

Sollte es einer Gesellschaft gleichgiltig sein, ob sie einen Mandeville'schen Bienenkorb voll honest men turn'd knaves oder einen wahren Bienenstaat vorstellte voll Fleiß und Ordnung? gleichgiltig, ob sie Grundsätze der Ehre befolgte oder sich selbst öffentlich ehrlos erklärte? Das Letzte that sie nicht durch ehrvergessne Anstalten und Einrichtungen allein, sondern schon dadurch, daß sie, ehrevergessen selbst, nach nichts Wahr-Ruhmwürdigem trachtet. Jeden Stifter einer neuen Gesellschaft schätzt man hienach; weder die Jesuiten in Paraguay, noch Missionen, Freimäurer, Enthusiasten können sich der Frage entziehen: »worauf denn ihre Tendenz gehe? was sie bei ihr Großes und Gutes geleistet?« Jede Menschengesellschaft und Einrichtung steht offen und unausweichlich dieser Frage da. Leistete sie nichts, wollte sie nichts als triviale Zwecke, nichtige Herrlichkeiten, so wird man schamroth, wenn man den ehrwürdigsten Namen, der alle heiligen Bande der Menschheit einschließt, mit Verachtung nennen müßte. Ein Körper, dessen geistige Kräfte nicht geachtet werden, wird zur Maschine, ein andrer, dessen sittliche Kräfte unbenutzt bleiben, zum Thier. Welche Ehrlosigkeit wäre schlimmer und schlechter? Unglücklicherweise sind beide bei einander.

Mit Recht dringt man also auf Erziehung, auf Sitten; träten nun aber diese sittlich Wohlerzogenen in eine Gesellschaft, in der kein Schatte dieser Grundsätze, d. i. nichts minder als Sitten und Fähigkeiten, sondern Geburt, Stand, Cabale, Geld, Gunst, Laune, Willkür, Eigensinn u. s. w. Aemter besetzen und Preise vertheilen, wie dann? Sich selbst bliebe der Gebildete immer gut erzogen, nicht aber dem Staat, in welchem seine Vorzüge ihm gar zu Hindernissen des Fortkommens werden möchten. Komisch und tragisch, tragisch bis zu Thränen und zur Verzweiflung, hat man diese Discrepanz bereits in Geschichten und Dichtungen aus und nach dem Leben geschildert. »Wer bringt uns Campanella's Sonnenstadt«, sagt man, »nieder?« Sie kommt! Sie kommt! Mehr als ein edler Enthusiast befliß sich in seiner Gesellschaft, in seinem Viereck geistige Kräfte herrschend zu machen, moralische mit ihnen zu vereinen. Keinem Vater und Hausvater sind die Sitten der Seinigen gleichgiltig; wie denn einem Vater und Hausvater des Staates?S. unter vielen andern die Schrift: Du gouvernement des moeurs von Polier de St. Germain, Bürgermeister in Lausanne, übersetzt von G. F. Götz, 1785.– H.

In jeder Gesellschaft sind Classen und Stände; welche vernünftige aber constituirte sich so, daß diese in Sitten und Verdienst, in Rang und Umgang ewig von einander gesondert bleiben müßten, so daß eine der andern Geruch scheut? Das hieße seinen lebendigen Körper zerschneidend in Theile theilen, deren einer von dem andern getrennt gegen ihn Abscheu oder Verachtung nähren soll. Vom mittlern Stande geht bekanntermaßen die geistige Thätigkeit und Cultur aus; auf und nieder soll sie wirken, damit das Ganze belebt werde. Diesen Stand von den obern Ständen höhnend trennen, heißt die obern Stände fortwährend zur Einseitigkeit, zu barbarischem Stolz, zu Unwissenheit und Anmaßungen verdammen, die, seit sie nicht mehr auf dem Harnisch, sondern auf einer hölzernen Schnürbrust beruhen, in der man sich weder edel noch frei bewegt, eine den menschlichen Geist beleidigende Clausur sind. Jeder verständig anordnende Geist trennt nicht, sondern vereinigt die Glieder seiner Gesellschaft.

Lustbarkeiten zeigen am Meisten die Sitten des Volks, zu Bildung und Mißbildung derselben tragen sie viel bei; weder unsittliche also noch unverständige sollte eine vernünftige Menschengesellschaft dulden. Das einzige Theater erforderte hier eine lange Rede, der ungeheuern Macht wegen, mit der es wirkt. Die Griechen, wenigstens anfangs, wußten, wozu sie ihre Stücke schrieben und gaben; wie Wenige es seitdem gewußt haben mögen, seitdem man sich an Allem, am Uebertriebnen und Schlüpfrigen sonderlich, nur amüsirt, ist eine andre Frage. Vollends die Gesellschaftstheater, und daß man in der Gesellschaft fast von nichts Anderm als vom Theater zu sprechen weiß oder zu sprechen wagt – Letzteres zeigt entweder einen so gebundnen oder so hohlen und leeren Sinn, daß man oft fragen möchte: »Ist denn die Welt, ist unser Leben diese Bretterbude?« Und wie spricht man darüber?

Ist's dem Staat nicht gleichgiltig, welche Sitten und in welcher Tendenz sie öffentlich aufgeführt werden, so auch nicht, welche Schriften man heimlich lese. Censuren wirken hier wenig, wohl aber unmerkliche Sichtung der Lesebibliotheken, Einverstand mit honneten Buchhändlern in Ansehung der Einfuhr fremder Schriften, und Vorsorge, daß man honnete Autoren habe. An chinesischen Schriften hat sich noch Niemand geärgert; wolan! jedes schlechte Buch sei für uns chinesisch und malabarisch!

Was in Sitten auf die Gesellschaft am Meisten wirkt, ist nicht Lehre und Befehl, sondern Vorbild, Beispiel, Gewohnheit, Mode. Manche Dinge hielt man für unmöglich, bis man sie sah; jede autonomische Gesellschaft war zuerst eine Erscheinung, bis sie ihr Dasein bewährte. So auch die Sitten jeder dieser Gesellschaften; das Schwerste ward in ihnen leicht, das Unangenehme zur Lust, das Unmögliche möglich. Wodurch? Durch Nacheiferung, durch Gewöhnung. »Guter Sitten Stifter!« ein edler Name! schweigend durch sie auf die Nachwelt fortwirken, ein hohes Verdienst! Wie Laster und Unarten zur Mode werden können, warum sollte es nicht auch Fleiß, Wohlanständigkeit, Zucht, Urbanität werden, zumal ihre Ausübung selbst sich empfiehlt und fortwährend lohnt? Gute oder schlechte Sitten sind wie die reine oder eine verpestete Luft; in dieser erstickt man, in jener athmet man frei. Angenehme Sitten kommen entgegen, widrige stoßen von sich in jeder Gesellschaft.

Da Religion, d. i. Treue und Glauben an göttliche und menschliche Verhältnisse, das Band und Insiegel jeder Gesellschaft ist, so sollte man in christlichen Staaten gegen sie, mithin auch gegen das Christenthum, das sie lehrt, und gegen den moralischen Charakter Christi nichts schreiben und lehren dürfen. Spannet Eure Segel, so hoch Ihr wollt, an die Krone, die oben an diesem Kreuz hängt, an jene reine Gottesgenialität und fortwirkende Menschenliebe wird keine antastende Hand je reichen! Auch wer blind gnug ist, die große Sonne der Welt, die alle geistigen und moralischen Kräfte zusammenhält und belebt, Gott, nicht zu sehen, gefalle sich in seiner chaotischen Dunkelheit – schweigend!

Uebrigens wer über Buchstaben und Gebräuche der Religion zu sprechen oder zu schreiben hat, der spreche und schreibe! Schreibt er schlecht, spricht er albern, so steht der Gesellschaft ein leichtes Mittel zur Hand, ihn zu beschämen: man setze seiner schlechten eine bessere Schrift entgegen, so hat man den Verlust in Gewinn verwandelt. Den Freidenker weise ein besserer Freidenker zurecht, so ist der Schade geheilt. Ueberhaupt sehe sich der Gesetzgeber eines Volks als einen Pygmalion an, der aus dem Marmor eine Gestalt hervorbringt und sie belebt. So betrachteten sich die Stifter aller Gesellschaften und Secten. Brachten sie Unformen hervor, so zerstörten diese sich selbst, oder Andre zerstörten sie. Die reine Idee des Wahren, Schönen und Guten ist das einzige Ideal einer Menschengesellschaft, in der alle Kräfte unsrer Natur harmonisch zusammenstimmen und wirken. Dies reine Ideal von barbarischen Hüllen zu befreien, es unserm Sinn verständlicher, unsern Sitten bildender zu machen, dahin bestrebten sich theilweise alle Guten, und da kein Stillstand in der Natur ist, so erwarten Alle eine Zeit, die Alles knüpfe und binde, auf einer Atlantis.Hier folgte als Schluß des zweiten Stückes des vierten Bandes der Adrastea das Gedicht »Die Verhängnisse« (Herder's Werke, I. S. 201 f.) – D.

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