Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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II. Früchte aus den sogenannt goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts.Hiermit beginnt das dritte Stück (II. 1) der Adrastea. – D.


Man ist gewohnt, das Zeitalter Ludwig's XIV. sowie der Königin Anna in England goldne Zeitalter der Literatur zu nennen; Zeiten Saturn's, goldne Zeiten für die Menschheit waren weder das eine noch das andre. Kriege verwüsteten Europa; in Staatssachen Parteigeist, in Religionssachen Haß und Verfolgung, zwischen den Classen der Menschen Entzweiung, Aussaugung oder Niederdrückung der untern Stände durch die obern, ein falscher Nationalhaß, eine falsche Nationalehre, ein Streben nach blendendem Schimmer, nach Bequemlichkeit, Witz und Vergnügen bezeichnen den Anfang des verwichenen Jahrhunderts, auch an den lichtesten Plätzen unsrer westlichen cultivirten Welt; die schweren Folgen davon fielen größtenteils auf den zahlreichsten, den arbeitenden Theil der Nationen. Er mußte leiden und darben, indeß Wenige im Glanz der Ehre oder im Ueberfluß üppiger Freude lebten. »Als Ludwig XIV. starb,« sagt ein Augenzeuge,Mémoires du Duc de St. Simon I. 264. – H. »schien das zerrüttete, gedrückte, verzweifelnde Volk seinen Tod als eine Befreiung zu fühlen; die Ausländer, ob sie wol hoch erfreut darüber waren, endlich eines Monarchen los zu sein, der ihnen so lange Zeit hin Gesetze gegeben und der ihnen durch eine Art Wunder in dem Moment entkommen war, in dem sie am Sichersten auf seine Unterjochung rechneten, sie betrugen sich anständiger bei seinem Tode als die Franzosen.« Gewiß lagen diese und andre hochgerühmte goldne Zeiten Rousseau vor, als er in seiner beredten Declamation gegen Künste und Wissenschaften die Frage aufwarf: »ob und wie viel diese zum Wohl der Menschheit beigetragen hätten oder beitrügen.«

Nicht also uneingeschränkt auf Wohlsein unsers Geschlechts oder auch nur einer Nation verbreitet sich der Glanz des Worts gülden, sondern nur auf das, was dazu ein Werkzeug sein sollte, auf Künste und Wissenschaften. Wie hoch nun standen diese in dem genannten Zeitalter? Sind ihre Productionen unübertrefflich-ewige Muster in jeder Art? Stehen sie ältern Zeitaltern der Griechen, der Römer, der Italiener, Engländer u. s. w. vor? Sind sie seitdem übertroffen worden? oder bleiben sie, Corneille und Racine, Molière und Lafontaine, Boileau, Fontenelle, Addison, Swift, Gay, Pope u. s. w. stehende Muster für alle künftige Zeiten? Ein Jahrhundert weiter gerückt, können wir diese Fragen reiner und sichrer beantworten, als man sie in den Zeiten Ludwig's und der Anna selbst durch Streitigkeiten und Bücherkriege beantworten konnte.

Wären sie aber auch wichtig, diese Fragen? Mich dünkt es. Denn giebt es nicht noch auf der einen Seite einen Hofgeschmack (de la vieille cour), der über das Zeitalter Ludwig's nichts Erhabneres, über Addison und Pope nichts Kunstmäßigeres kennt? Auf der andern Seite, wem sind die neueren Horden unbekannt, die diese einst so berühmten Werke des Geschmacks für wenig mehr als für Knabenspiele und abgekommene Tanzübungen achten? Still nachdenkend erhebe die Göttin hier ihren Arm und messe und wäge. Jede verlebte Zeit, jede Nation, alle gelten ihr gleich; Athen und Rom, Paris, TwikenhamBei London, wo Pope einige Zeit gelebt hatte. – D. und Tibur. Ihre Greife schreiten über Völker, Länder und Zeiten.

Gäbe es aber auch einen Maßstab des Wahren, Schönen, Guten für alle Völker, für alle Zeiten? Daran lasset uns nie zweifeln! Was blos auf Nationalgeschmack, auf sogenannt patriotischer Parteilichkeit, auf Koketterie und eigensinnigem Humour, oder gar auf Wahnsinn, Frechheit und Ueppigkeit beruht, fliegt auf der großen Wage, die über allen Völkern schwebt, bald aufwärts. An jenem Läuterungsfeuer, das Zeiten nach Zeiten immer feiner durchglüht, hält es bald die Probe nicht aus und verdampft.

Kaum giebt es etwas Unterrichtenderes, kaum aber auch etwas Schwereres als ein solches Gericht über die Todten, und zwar über die größten Geister der Vorwelt. Den Prunk ihrer Zeit abgelegt, Geist vor dem Geist stehen sie da. Die Tuba eines leeren Rufs ist verhallt, die entfernte Echo murmelt vielleicht etwas ganz Anderes, als was ihre Nähe jauchzte. Vollends die Irrwische, die Sternschnuppen! ein Klümpchen Schlamm liegen sie am Boden.

Aber die ewigen Gedanken bleiben; mit den Jahrhunderten entwölken sie sich, immer Heller aufglänzend. Auch die wesentlichen Formen der Künste des Schönen dauern; fast nur im Bedeutungslosen oder in Zusätzen der Unform ändern sich ihre Gestalten. Ungeheuer viele Namen trägt nach jener schönen Fabel Ariost'sOrlando furioso,Canto XXXV (11–18). – H. der munter-geschäftige Greis, die Zeit, in den Strom der Vergessenheit, um welchen mit großem Geschrei unaufhörlich Raben, Elstern und gierige Geier schwärmen. Hie und da erhaschen sie einen hingeworfenen Namen mit Klaue oder Schnabel, lassen ihn aber bald wieder sinken; zwei heilige, weiße Schwäne wachen über wenige große Namen, fangen sie auf und tragen sie zum Tempel der Unsterblichkeit hinüber.


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