Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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13. Volksgesang.

Heißt also die Romanze, obwol ihr nachher der Gebrauch eine engere Bedeutung gegeben, eigentlich nichts als Muttersprache der südlichen Länder Europens und in ihnen Volksrede, Volksgesang, so lasset uns von Sprachen und Silbenmaßen weg auf ihr Wesentliches, den Inhalt, sehen und dessen Regel erkunden! Nordwärts der Alpen tönen die Völker nicht zur Guitarre; das Durandarte, Durandarte, O Belerma, o Belerma, Rio verde, rio verdeVgl. Herder's Werke, V. S. 100. – D. sind nicht ihre gewöhnlichen Anklänge, wohl aber Jamben zum Horn, zur Drommete, zur vollen starken Harfe.

Der Percy aus NorthumberlandVgl. Herder's Werke, V. S. 161 ff. – D. und dergleichen in männlichem Tritt und Tact sind ihre Anklänge, in welchem Silbenmaß denn auch, wie die alten Melodien zeigen, zwei Zeilen zusammengehören. Unter dem nordischen Klima ist's natürlich, daß, wie das Bardit scharf an die Schilde stieß und die Skalden in zwei Zeilen drei ähnliche Anklänge (Alliterationen) statt des Reims liebten. Alles hier mehr auf An- als Ausklang gerichtet werde, mehr auf andringende Macht als auf süßzerschmelzende Liebe.

Diesen Tönen folgt ihr Inhalt. Wie noch im Todtenreiche der zusammengedrängte Volkshaufe Alcäus' Abenteuer und Unglücksfälle zu Land und Meer, der Sappho Klagen über ihre unglückliche Liebe, vor Allem aber Schlachten, vertriebne Tyrannen u. dgl. am Begierigsten hört und jeden Ton derselben gleichsam einsaugt, da auch der Höllenhund selbst die struppigen Ohren senkt und die Riesen der Vorwelt horchen:Horat. Carm. II. 13 [24–40]. – H. so sind auch unter diesem Mond- und Sonnenlicht Abenteuer, Unglücksfälle, Thaten, tapfre Thaten der Väter, die Klagen unglücklicher Liebe, vorzüglich aber die Gerichte der Adrastea, wenn sie den Bösen ereilt, den Uebermuth stürzt, Untreue rächt, den Kecken über die Schranken treibt, sie und ihresgleichen Ereignisse im Lauf der Welt sind Lieblingsinhalt der Volkslieder. Blickt vollends Nemesis ins Dunkle und führt von dort aus die Verbrechen hervor, indem sie solche aus Gräbern und Hölle ans Licht fördert, dabei aber ihre Enthüllungen an solche und solche stille Zeichen und Winke knüpft, desto mehr erhöht sich das Grausenhafte, die Lieblingsfarbe der Volksdichtung, bis wenn die Dienerinnen der Adrastea, die Poine, Dike oder gar die gräßliche Erinys erscheinen, jener Schrecken, der stumm macht, erscheint und gleichsam tantalisirt.

Nun bedarf es kaum eines Worts über die Frage, ob Inhalt und Gesang gemeiner Volkslieder gleichgiltig sein dürfen; denn wie könnten sie dies sein, da das Lied ein so gewaltiges Mittel, aufs Herz zu wirken, ja, gewissermaßen die unverholene Sprache des Herzens selbst ist? Möge es einsam oder gesellig gesungen werden, dort soll es die Seele beruhigen, hier anfeuern, immer aber beschäftigt es sie: kann's gleichgiltig sein, durch welchen Inhalt, in welcher Tonart? und welche dieser beiden die geheime Neigung unsers Herzens liebe? Bekanntlich waren die Griechen auf die Beschaffenheit sowol als den Inhalt der Musik, womit das Volk unterhalten, wodurch die Jugend gebildet ward, aufmerksam; so geziemt's.

Die Melodien unsrer alten Volkslieder, da sie meistens dem Horn gehören, sind einfach, einfach der Inhalt, oft abenteuerlich, oft grausam. Indeß haben wir andre, die zu edeln Gesinnungen aufrufen, andre, die edle Thaten selbst darstellen, andre, die die zartesten Saiten des Herzens regen, Klagen unglücklicher Mütter z. B., Seufzer einer verlassenen Braut oder endlich die Stimme Treuliebender auch jenseit des Grabes. Welche Seite dieses Inhalts wollen wir wählen? rohen Aberglauben, wilden Stolz, sinnliche Brunst, nichtige Thorheit? oder wollen wir die Enden des alten Glaubens im Herzen der Menschen erfassen, um es zu besänftigen, zu mildern, für Tugend und Liebe zu erwärmen? Wozu verlieh uns die Muse Drommet' und Zither. Harfe und Psalter?

Oder wollen wir gar den Gott herab-, das Höllenreich herausrufen, um zu zeigen, daß wir mittelst eines einfachen Liedes das Herz umwenden, heilig geglaubte Sitten vernichten, der innern Religion Hohn sprechen können und dürfen? Wenn Alles schweigt und der Schmeichler lobjauchzt, tritt das erröthende Menschengefühl beschämt hervor oder wendet sich vielmehr und spricht mit Abscheu: »Schweig, Entheiliger! Nichts Heiliges ist in Dir! Aber laß sein Heiliges dem Volke!«

Tod alles Schönen und Edlen ist's, zu glauben, daß die Kunst Alles, auch das Ekelhaft-Widrigste gefällig behandeln und damit Töne des menschlichen Herzens verwirren dürfe, ja, daß sie in diesem Tumult triumphire. Gleichergestalt ist's der Musik unanständig, wenn sie einer wirklich gemeinen, d. i. trivialen, eklen Volkspoesie mit Saitenspiel, Trommeln und Pfeifen beianläuft, sie zu erheben, sie zu verschönen. Der maestro ist hier ein Knabe worden; der Dichtungsart, die eigentlich ganz Herz sein sollte, wird das Herz genommen, es wird damit gespielt. In unsrer stillsten Kammer hat Adrastea Scepter und Wage verloren, sie wird verspottet, mit ihr wird kunstmäßig gegaukelt.


Fortsetzung.

Wie Addison im »Zuschauer« das Verdienst hatte, seinen Briten den vergessnen Milton wieder zu erweckenSt. 267, 273, 285, 327 ff. – H. und durch eine Darstellung verschiedener seiner Schönheiten anzupreisen, so machte er sich durch Zergliederung des alten Jagd- und Schlachtliedes »Der Percy aus Northumberland« um die alten englischen und schottischen Volksgesänge verdient,St. 70. – H. indem er und nach ihm Andre zu solchen Lust und Liebe weckten. Den gemein geachteten, mithin verachteten Gesang führten sie damit gleichsam in die feinere Welt über. Und wiewol Addison seinen Percy und Douglas parteiisch für die Briten darstellte, so benimmt dies dem Verdienst der Bekanntmachung selbst wenig. Die kritische Wage läßt sich seiner bemerken und anders rücken, sobald sie einmal öffentlich da hangt.

Wir wissen, welchen Schatz alter Balladen und Volksgesänge England, zumal Schottland, bereits gesammelt;Reliquies of ancient English poetry by Percy, Vol. I–III.; ferner Old ballads, eine Fortsetzung voriger Sammlung, Vol. I. II.; The Scots musical museum by James Johnson, Vol. I–III., und andre Sammlungen. – H. ihr Eifer ist noch nicht erloschen, sie sammeln noch.

In Deutschland wagte man im Jahr 1778, 1779 zwei Sammlungen Volkslieder verschiedner Sprachen und Völker herauszugeben; wie verkehrt die Aufnahme sein würde, sah der SammlerHerder selbst. – D. vorher. Da er indeß seine Absicht nicht ganz verfehlt hat, so bereitet er seit Jahren eine palingenisirte Sammlung solcher Gesänge, vermehrt, nach Ländern, Zeiten, Sprachen, Nationen geordnet und aus ihnen erklärt, als eine lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst vor, wie sie in allerlei Zuständen sich mild und grausam, fröhlich und traurig, scherzhaft und ernst hie und da hören ließ, allenthalben für uns belehrend. Die Geschichte Cid's z. B. ist in ihren Romanzen so reich an trefflichen Scenen. an hohen Empfindungen und Lehren als (wage ich's zu sagen?) als Homer selbst. Manche andre Reihe romantischer Begebenheiten und Momente nicht minder. Einerseits bedauert man, anderseits freut man sich, daß man dort und da nicht leben dürfe, daß jene Sitten, diese Zeiten aus der Welt verschwanden. In Eindrücken dürfen sie indeß nicht ganz dahin sein, da ihrer manche auch in Wirkungen noch fortleben.

Leibniz bedauerte, daß in allen Ständen Europa's allgemach ein gewisses Gefühl des Muths und der Ehre abnehme; Thaten, Stimmen und Vorbilder älterer Zeiten können es allein erwecken oder seine Reste festhalten. Die Briten (obwol auch sie die Romanze sehr verweichlicht haben) handeln lobenswürdig, daß sie nicht nur diese Stimme älterer Zeiten erhielten, sondern auch selbst im verderbtesten Zustande ihrer Staatswirthschaft auf neuere Männer ihrer Geschichte kühn anwandten. Dürfen wir Deutsche dies nicht? Wissen wir keine andre Gegenstände der Ballade als Gefechte mit Ratten und Mäusen, Scenen aus der Acerra,Acerra philologica; diesen Titel führten Sammlungen von Peter Lauxemberg und von Ursinus. – D. aus Berckenmeier,»Neuvermehrter curiöser Antiquarius« (1741). – D. aus der scandalosen Chronik oder aus der Hölle selbst, weil gewöhnlich zuletzt in »Gluthen« und »Fluthen«, in »Grüften«, »Lüften« und »Klüften«, indisch und wälsch, heidnisch und christlich, der Teufel Alles holt.Herder hat hier besonders Goethe's »Braut von Korinth« und »Der Gott und die Bajadere« im Sinne. Vgl. seinen Brief an Knebel vom 5. August 1797. – D. Seit man den Grundsatz entdeckt und demonstrirt hat, »daß die höchste Poesie die sei, die das Herz umkehrt und eben, allen Regeln des Wahren, Schönen und Edeln zuwider, dennoch rührt«, ist die andre Bedeutung des spanischen Worts romance eingetreten, da es bachillerias, sophisterias, astutias, zu Deutsch Possen bedeutet. Und so wäre mit dem ächten Volksgesange abermals nicht etwa nur ein Hauptzweig alter, edler, rühmlicher und ruhmweckender Poesie, sondern der Grund aller Poesie, die innere Rechtschaffenheit und Honnetetät im Herzen des Volks – ermordet.


Erste BeilageDiese Bezeichnung steht nur im Inhaltsverzeichnisse der Adrastea. – D
Benjamin Franklin über eine Ballade.
(An Hrn. Johann Franklin zu Newport in Neu-England.)

»Lieber Bruder,

»Deine Ballade hat meinen Beifall, und ich finde, daß sie ihrem Zweck, den Geschmack an thörichten Verschwendungen zu tadeln und zum Fleiß und häuslicher Sparsamkeit aufzumuntern, vollkommen entspricht. Kannst Du es dahin bringen, daß sie in Deiner Provinz durchgehends gesungen wird, so muß sie wahrscheinlich einen guten Theil der Wirkung hervorbringen, die Du von ihr erwartest. Da es aber Deine Absicht war, sie in Jedermanns Hände zu bringen, so nimmt mich's desto mehr Wunder, daß Du eine so ungewöhnliche Versart gewählt hast, die sich für ein Lied, das von Jedermann gesungen werden soll, schwerlich schickt. Hättest Du das Metrum nach einer alten, wohlbekannten Melodie eingerichtet, so würde sie sich ohnfehlbar ungleich schneller verbreitet haben, als jetzo selbst mit der besten Melodie, die Du ausdrücklich dafür setzen kannst, schwerlich geschehen wird. Auch glaube ich, wenn Du Deine Ballade einem jungen Bauermädchen aus einem Thale von Massachusets gäbest, die außer den Kirchenliedern, dem Chevychase,»Chevyjagd (chevy-chase). Diesen Namen führt dieses alte Lied von der Jagd, die der Graf Percy von Northumberland in dem Gebirge Chevy oder Cheviat, im Gebiete des schottischen Grafen Douglas, mit dem er in Feindschaft lebte, anstellte, und welche zu dem kleinen Kriege zwischen beiden Grafen, den es besingt, Anlaß gab. Dieses alte Lied ist die Lieblingsballade des gemeinen Volks in England, und Ben Jonson pflegte zu sagen, er möchte es lieber gemacht haben als alle seine Werke.« Der Uebersetzer. – H. The children in the wood, La Dame Espaniole oder sonst einem alten schlichten Gesang nie eine Musik gehört, dabei jedoch von Natur ein gutes Ohr hätte, sie würde wahrscheinlich eine angenehmere und für den Zweck Deines Gedichtes passendere Volksmelodie wählen als irgend einer unserer größten Virtuosen. Dieser Zweck würde nämlich weit vollständiger erreicht werden, wenn man, indem man die Ballade singen hörte, nicht allein kein Wort davon verlöre, sondern auch beim Singen ebenso gut als beim Lesen den Nachdruck, den Du auf gewisse Worte gelegt haben willst, bemerken könnte; denn von diesen Umständen hängt die Wirkung und der Eindruck, den ein Gesang hervorbringen soll, größtenteils ab. Doch will ich versuchen, eine so viel möglich passende Melodie setzen zu lassen.

»Glaube nicht, ich suche die Geschicklichkeit unserer Componisten zu verkleinern! Ihre Werke sind für Kenner vortrefflich, und sie verschaffen sich einander gegenseitig den schönsten Genuß, nur in der Composition der Volkslieder scheint der Geschmack ganz außer der Natur oder vielmehr wider die Natur zu sein; gleichwol lassen sie sich alle, einer oder zwei ausgenommen, von dem Strome hinreißen.

»Du suchst, ganz im Geiste der alten Gesetzgeber, durch den Einfluß der mit Tonkunst vereinigten Poesie Deinem Vaterlande Sitten zu geben. So weit man von den alten Gesängen urtheilen kann, war ihre Musik einfach und stimmte von selbst in Ansehung der Mensur, der Cadenzen und des Accents u. s. w. mit der gewöhnlichen Aussprache der Wörter überein, ohne je durch Verkürzung langer oder Verlängerung kurzer Silben der Sprache Gewalt anzuthun. Singen war bei ihnen nichts als eine angenehmere, melodische Art zu sprechen. Ihr Gesang war aller Annehmlichkeit der declamirenden Prosa fähig, womit er noch das Vergnügen der Harmonie verband. Bei einem neuen Gesange hingegen fallen alle diese Eigenschaften und Schönheiten der gemeinen Rede hinweg, und an deren Stelle treten Fehler und kindische Schnirkel, die für Reize verkauft werden. Da es Dir vielleicht Ueberwindung kosten dürfte, mir auf mein Wort zu glauben, so muß ich einen förmlichen Beweis führen. Hier ist das erste beste Lied, das mir in die Hände fällt. Es ist von der Composition eines unserer größten Meister, des unsterblichen Händel, und zwar nicht etwa ein jugendlicher Versuch, ehe sein Geschmack gereift war, nein, er hat es verfertigt, als er schon den Gipfel seines Ruhms erreicht hatte. Alle Anhänger dieses Künstlers bewundern es, und wirklich ist es auch in seiner Art vortrefflich. Ich meine den berühmten Gesang aus dem Nachtrag zum Judas Maccabäus. Unter den vielen Mängeln und Versündigungen gegen die Sprache bemerke ich nur folgende:

  1. den schlecht angebrachten Accent, der auf unbedeutenden Worten oder auf falsch gebrauchten Silben steht;
  2. das Schleppen, wodurch die Aussprache der Worte und Silben über ihr natürliches Maß ausgedehnt wird;
  3. das Stammeln, indem er aus einer Silbe mehrere macht;
  4. die Unverständlichkeit, die aus den drei angegebenen Umständen zusammen entsteht;
  5. die Tautologie oder unnütze Wiederholung, endlich
  6. der volle Ausbruch der Instrumente ohne Zweck.

»Man gebe einem großen Sänger eine unsrer schönsten Arien und lasse sie ihn in einer Gesellschaft singen, die sie nicht schon kennt, so wird man finden, daß die Leute von zehn Worten sicher nicht drei verstehn. Daher die Gewohnheit, daß man in Concerten und Opern in den Händen Derer, die dasjenige, was die besten Sänger singen, gern verstehen mögen, Bücher sieht. Nimmt man dagegen einen von diesen schönen, mit Noten überfüllten Gesängen und liest die Worte desselben ohne die Wiederholungen, so findet man die Zahl derselben sehr gering, diese aber mit einem Schwall von Noten überladen. Vielleicht gestehst Du mir, lieber Bruder, daß in den alten Gesängen die Worte die Hauptsache gewesen, daß man dagegen in den neuern, wo sie, so zu sagen, blos als Veranlassung zur Composition eines Singstücks angesehen werden, je kaum einiger Aufmerksamkeit würdigt. Ich bin unwandelbar

Dein

zärtlicher Bruder
B. Franklin.    

»N. S. Noch hätte ich die undeutliche Aussprache unter die Zahl der Fehler gegen die Sprache setzen können, die in den neuen Gesängen für Schönheiten gelten. Allein da dieses mehr Fehler der Sänger als der Componisten zu sein scheint, so habe ich hier, wo ich blos von der Composition sprach, desselben nicht gedacht. Ein geschmackvoller, das heißt ein modischer Sänger, den ich kenne, läßt alle harten Mitlauter aus und mildert alle harten Silben der Wörter, die doch dazu dienen, sie von einander zu unterscheiden. Auf diese Weise hört man blos eine bewundrungswürdige Kehle und versteht das, was gesungen wird, so wenig, als wenn die Arie auf irgend einem Instrument gespielt würde. Sonst bemühten sich die Tonkünstler, Instrumente zu machen, die die Menschenstimme nachahmten; jetzt thun sie gerade das Gegentheil, indem sie aus der Stimme gern ein bloßes Instrument machen möchten. So verfertigte man die Perrücken anfangs zur Nachahmung von schönem natürlichen Haupthaar; nachdem sie aber, zum Theil unter sehr unnatürlichen Formen, allgemein Mode worden waren, so erlebten wir's, die natürlichen Haare so frisirt zu sehn, daß man sie für Perrücken halten möchte.«


Zweite Beilage.
Lessing an Gleim
über
Lieder fürs Volk.Der Brief ist vom 22. März 1772. – D.

»Liebster Freund.

»Sie haben mir mit Ihren Liedern fürs Volk eine wahre und große Freude gemacht.

»Man hat oft gesagt, wie gut und nothwendig es sei, daß sich der Dichter zu dem Volke herablasse. Auch hat es hier und da ein Dichter zu thun versucht; aber noch keinem ist es eingefallen, es auf die Art zu thun, wie Sie es gethan haben: und doch denke ich, daß diese Ihre Art die vorzüglichste, wo nicht die einzig wahre ist.

»Sich zum Volke herablassen, hat man geglaubt, hieße: gewisse Wahrheiten (und meistens Wahrheiten der Religion) so leicht und faßlich vortragen, daß sie der Blödsinnigste aus dem Volke verstehe. Diese Herablassung also hat man lediglich auf den Verstand gezogen und darüber an keine weitere Herablassung zu dem Stande gedacht, welche in einer täuschenden Versetzung in die mancherlei Umstände des Volks besteht. Gleichwol ist diese letztere Herablassung von der Beschaffenheit, daß jene erstere von selbst daraus folgt, da hingegen jene erstere ohne diese letztere nichts als ein schales Gewäsch ist, dem alle individuelle Application fehlt.

»Ihre Vorgänger, mein Freund, haben das Volk blos und allein für den schwachdenkendsten Theil des Geschlechts genommen und daher für das vornehme und für das gemeine Volk gesungen. Sie haben nur das Volk eigentlich verstanden und den mit seinem Körper thätigern Theil im Auge gehabt, dem es nicht sowol an Verstande als an der Gelegenheit fehlt, ihn zu zeigen. Unter dieses Volk haben Sie Sich gemengt, nicht, um es durch gewinnstlose Betrachtungen von seiner Arbeit abzuziehen, sondern um es zu seiner Arbeit zu ermuntern und seine Arbeit zur Quelle ihm angemessener Begriffe und zugleich zur Quelle seines Vergnügens zu machen. Besonders athmen in Ansehung des Letztern die meisten von diesen Ihren Liedern das, was den alten Weisen ein so wünschenwerthes, ehrenvolles Ding war, und was täglich mehr und mehr aus der Welt sich zu verlieren scheint, ich meine jene fröhliche Armuth, laeta paupertas, die dem Epikur und dem Seneca so sehr gefiel, und bei der es wenig darauf ankömmt, ob sie erzwungen oder freiwillig ist, wenn sie nur fröhlich ist.

»Sehen Sie, mein Freund, das wäre es ungefähr, was ich Ihren Liedern vorzusehen wünschte, um den aufmerksamern Leser in den eigentlichen Gesichtspunkt derselben zu stellen. Aber wo bin ich mit meinen Gedanken? und wie wenig geschickt, den geringsten Einfall so auszuarbeiten, als es die Stelle, die ich ihm geben wollte, verdiente!«


Ist dem Volke so viel Kunstsinn als Sinn für Wahrheit und Ehrbarkeit nöthig?Auch diese scharfe Rede geht besonders auf Goethe und die durch ihn im Verein mit Schiller vertretene Kunstrichtung. Vgl. die Aeußerung Herder's in einem Briefe vom Jahre 1795. »Aus Herder's Nachlaß«, I. 21. – D.

»Volksstimme, Gottesstimme«, hieß es einst, und obwol dies Lob über die Grenzen dessen, worüber das Volk seine Stimme geben kann, nicht ausgedehnt werden darf, so zeigt es wenigstens, daß in Sachen, die das Volk belangen, seinem Wahrheitssinn Achtung gebühre. Die ersten Realkenntnisse haben wir vom Volk erhalten, und es ist lustig zu denken, in welcher unwissenden Verlegenheit der Philosoph a priori sein würde, hätten durch ein scherzhaftes allgemeines Einverständniß Weiber und der gemeine Mann ihm die gemeinsten Erfahrungen, ewige Geheimnisse der Natur, verschwiegen oder falsch erzählt. Jetzt noch hangen wir in den wichtigsten Dingen nicht etwa nur von Nachrichten, sondern auch von Urtheilen, Gesinnungen, noch mehr aber von der ganzen Denkart und Beschaffenheit des Volks ab. Wer es sich zum Feinde macht, wer es zu verfinstern, zu verblenden, zu berücken gedenkt, der sehe zu, daß er nicht von ihm berückt und verfinstert werde!

Mit menschlicher Theilnehmung, mit freundlicher Barmherzigkeit handelten also die Weisesten und Besten jederzeit gegen das Volk; das Rem populi tractasPers., IV. 1. – D. war ihnen etwas Großes; auch in dem, was sie dem Volk gaben oder entzogen, dachten sie edelmüthig, redlich.

Ein Volk mit Kenntnissen überschnellen und übereilen, die ihm nicht gehören, ist eben so vernunftlos und unbarmherzig, als ihm die Äugen ausstechen wollen und das ihm nöthige Licht versagen; es unzeitig verwirren, schwächen, aus seiner Bahn locken, seinen Charakter verderben ist ebenso schändlich als schädlich. Was könnt Ihr dem Volk geben, wenn Ihr ihm sein Herz und Vergnügen, seinen täglichen Fleiß und Frohsinn, seine glücklichen Schranken geraubt habt und es auf die dürren Weiden Eurer nie ersättigten Begierden, Eurer lechzenden Kenntnisse, Eurer Kunstspeculationen und Subtilitäten hinaustreibt? Jemand an Vergnügen gewöhnen, denen er nicht nachgehen kann und darf, ist schon grausam, grausamer, wenn diese Vergnügen falsch sind. Ihr raubt ihm die Gesundheit, indem Ihr ihn lüstern macht nach einer Lustseuche.

Das arme deutsche Volk! Umstände ließen es nicht zu, daß es frühzeitig überfeint würde, Umstände, die in seinem Körperbau und Klima, in seiner Erziehung und Lebensweise, in seiner Verfassung und Geschichte lagen. Dagegen ward ihm von Feinden selbst, in den frühesten und durch alle Zeiten das Lob der Gesundheit, der Treue und Keuschheit, der Ordnung in seinem Hauswesen, des Fleißes, der regelmäßigen Sittlichkeit nicht versagt; Braut- und eheliche, Geschwister-, Eltern-, Freundesliebe knüpften es in engen Kreisen fest zusammen; allenthalben standen Deutsche mit und bei einander und nannten es Bund. Alle für Einen, Einer für Alle; der Name German, Hermann, Hermund und viel andre deuten auf nichts Anders. Mancherlei Ergetzungen und Bequemlichkeiten andrer Völker waren ihm versagt, die es dagegen verachtete, wenn ihm Recht und Pflicht, Wahrheit, Ordnung, Sitte, Ehrbarkeit blieb.

Seht z. B. die Geschichte des deutschen Liedes, ja der schönen Künste in Deutschland überhaupt an; gegen andre Völker wie dürftig, ja in Manchem, wird man sagen, wie grob, wie hölzern! Zumal, darf man frei hinzufügen, wenn man nachahmen wollte, wozu man weder Geschick noch Trieb und Veranlassung hatte, wie ungeschickt, wie hölzern! Was dagegen für Deutsche diente, was ihnen aus Kopf, Herz und Hand entsprang, nützliche Künste und Erfindungen, Ordnungen und Gewerke, in der Literatur Lehre, Fabeln, Sinnsprüche, das war altdeutscher Witz und Geist; ja, wenn wir die Geschichte des Fortganges im sogenannten Reich des Schönen bis auf wenige Jahre vor uns herabsteigen, es blieb, falls man nicht unzeitig drängte, auf diesem Wege, wie im verflossenen Jahrhundert die Versuche und Werke der Canitz, Richey, Brockes, Hagedorn, Haller, Gellert, Withof, Kleist's und so vieler, vieler Andern zeigen. Lehrhaft und fromm, ordnungsliebend, keusch, gutmüthig war und blieb die deutsche Muse. An Lebhaftigkeit also hinter andern Völkern zurück, wovon abermals der Grund im Charakter wie in der Geschichte des geduldig-gutmüthigen Volks liegt; aber wer spät kommt, kommt er nicht noch? Die langsam, aber unermüdet fortwandernde Schnecke kam jenem vermessenen HasenAnspielung auf die bekannte Fabel. – D. voran, der sich verachtend-stolz niederlegte und einschlief.

Aber was geschah? Auf einmal nahmen wir uns zusammen, hüpften, sprachen übertrieben. Wir ahmten nach, was irgend auf der Erde nachzuahmen war, so wenig es für uns gehörte. Einen Boileau, Bayle, Voltaire, das französische Theater, das englische Theater, die italienische Oper, die freche Romanze, das unzüchtige Lied, ohne auch nur zu fühlen, wie schlecht man nachahmte, wie grob und gröber Alles im Deutschen werde! Plumpe Soldaten-, Räuber-, Sauf- und Zotenlieder auf deutschen Bühnen und Universitäten, fürs deutsche Volk, für die deutsche Jugend!

»Damit aber wird dem Volk der Kunstsinn geschärft!« Dies Kunstsinn? Die vortrefflichsten Kothmaler, galten sie nicht allemal und allenthalben für niedrige Maler? und wenn das Niedrige zum Garstigen, das Garstige zum Widrig-Ekeln, zum Abgeschmackten herabsinkt, indem ihm nicht nur jede moralische Grazie, sondern oft der gesunde Verstand fehlt: steigt Ihr, um Euern eigenthümlichen Kunstsinn und Kunstgeschmack zu zeigen, damit Euch alle Nachbarn verhöhnen, so tief hinab, Ihr Deutschen? Vor Euern Vorfahren schämt Ihr Euch freilich nicht, da Ihr sie verhöhnt und nach einer neuen Ordnung der Dinge in Sachen des Geschmacks auf dem Kopfe tanzt; tanzt aber, wenn es Euch also beliebt, für Euch! warum vor dem Volke? Wenn dies Gräcismus, Kunstsinn der allein ächten, seligmachenden Poesie ist, unser Volk wird dadurch nicht selig. Zerstört Ihr ihm sein Heiligthum, zerreißt ihm seine Religions- und häuslichen Bande, an denen der Rest seiner Glückseligkeit hing, macht Ihr ihm z. B. die Ehe verächtlich, seinen Gottesdienst, mit dem Schnödesten zusammengestellt, widrig, schickt ihm Kobolde und Gespenster zu, die ihm seine Pflichten und Freuden verleiden, oder zieht es gar aus dem Kreise derselben vor Eure Bühnen, Läger und Opferstätten, damit es das Widrigste als reines Kunstproduct empfangen lerne: was habt Ihr ihm damit gegeben? Deutsche Nationallieder? Gewiß nicht! Kunstproducte? Verschont das Volk damit! diesen Kunstsinn weiß es nirgend zu gebrauchen. Er bleibe Euch und führe Euern Namen, Ihr Kunsterfinder!


Beilage.Diese Bezeichnung fehlt in der Adrastea. – D.
Young's Eingang zur fünften Nacht.Nach Oeder's Uebersetzung. – H. [Eine solche ist dem Herausgeber nicht bekannt; vielleicht lag sie Herder handschriftlich vor. – D.]

      Lorenzo, Widerschelten ist gerecht.
Der geizt nach Wind, der nur berühmt sein will.
Ja, eitel ist des Autors Müh' um Lob,
Das nie, wer weiter nichts begehrt', verdient.
Gerecht Dein zweiter Vorwurf. Freilich macht
Der Kinder Unart»The degenerate sons« steht bei Young. – D. oft die Muse roth,
Der Advocaten schnöder Sinnlichkeit,
Durch die, was niedrig, hoch, und groß, was klein,
Und fein, was grob und plump ist, werden soll.
Als würde stracks ein jeglich unrein Lied
Durch abgemessner Töne Zauberkraft
Zibeth, und Unflath gleich dem Weihrauch süß.
Der Witz, ein wahrer Heid', vergöttert Vieh,
Hebt unsre Sauvergnügen aus dem Koth.

      Bekannt ist dies, und offenbar der Grund.
Uns legen Stolz und Wollust Fessel an,
Die theilen sich in uns und zerren uns;
Ihr Weg verschieden, widrig ihr Befehl.
Der Stolz, wie Adler, nistet unter Sternen,
Die Wollust auf dem Boden, Lerchen gleich.
Ihm stinkt die Lust, die auch der Thiere ist,
Sie greift darnach, und beide wünscht der Mensch
Gleich und zugleich befriedigt: schweres Werk!
Nur nicht dem Witz, wenn die Begier ihn spornt.

      Ihm ist ein solch Beginnen nicht zu kühn.
Schmeckt der Vernunft nicht, was den Sinnen schmeckt.
So schmiedet gleich der Witz sophistisch schlau
Ein neues Ding und nennet es Vernunft,
Die gern und frei in losen Zünften ist.
Ihm löst die Grazie den Gürtel auf,
Ihm schenkt der plumpe Gott den Becher ein.
Durch tausend Larven, tausend Amuleten,
Durch tausend Schlummersäfte äffet er,
Bezaubert und berauscht, und wieget ein
Das lustbethörte, trunkene Gemüth.
Was dem Verstand mißfiel, mißfällt nicht mehr;
Woran der Stolz sich stieß, stößt er sich nicht.
Er und die Wollust, Feinde von Natur,
In stätem Krieg, wer in uns herrschen soll,
Vereinigen sich in unsel'gem Frieden,
Des Witzes Flickwerk, führen Hand in Hand
Die Ueppigkeit, zu seiner Lust erhöht.
Verfluchte Kunst verwischt die schuld'ge Scham
Der Wangen und streicht jede Schandthat an.
Man lächelt im Verderben, rühmet sich
Der Schuld, und Schande steht und wirbt um Lob.

      So viel der Mensch zum Wohl der Seele schrieb,
Der sinnlichen Moral ist doch weit mehr;
Die Hälfte der gelehrten Welt ist voll
Von Rednerblumen auf des Lasters Gräul.
Wird denn ein Blatt entsündiget durch Witz,
Und Missethaten heilig durch Gesang?

      Jedoch verdamm um die verworfnen Lieder
Die Muse nicht, die ihren Adel kennt,
Nicht an der Erde bleibt, nein, hält die Welt
Für was sie ist, im Umfang der Natur
Für ein geringes Punkt, von wannen sie
Sich um den ganzen weiten Raum erhebt,
Sich schwinget mit des Geistes höchstem Schwung
Durch alle Wesen zu der Wesen Quell
Und weiß, in aller Unermeßlichkeit
Ist nichts, als was die Sitten bessert, groß.
Wie? singen nur Sirenen, Engel nicht?
Die Dichtkunst ziert ein großmuthvoller Stolz,
Wenn sie zu ihr, die wol nicht weiser ist,
Zur Prosa, ihrer jüngern Schwester, spricht.



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