Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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2. Zweifel. Auflösung der Zweifel.

Ein Fragment.

(Siehe die Vorrede.)

Um unsern Freund von dem Verdacht zu befreien, als habe er zu kühn Göttinnen zu unserm Feste gerufen, deren Gang in der Geschichte heilig-unmerkbar sei (denn wer vermag, sagt man, die Regel des Rechts und der Wahrheit in allen Veränderungen derselben, in jeder Begebenheit des menschlichen Geschickes zu finden!), rede ich jetzt.

Und sage: Wenn in der Menschengeschichte keine Vernunft herrscht, wenn tolle Unternehmungen gleich klugen, ungerechte Handlungen den gerechten gleich oder mehr als sie gelten, warum lesen und sprechen wir von der Geschichte? Von Fieberträumen wäre sie eine ungeheuere Verkettung, deren Ende sich arme Thurmgefangene mit wüstem, leerem Grimm einander um die Häupter schlagen. Wie aber Verstand dem Menschen angeboren und es ihm eine Seligkeit ist, mit verständigen Menschen zu sprechen, Verstand in ihren Handlungen zu bemerken und sich des Lohns derselben mit ihnen in der Hoffnung zu freuen, daß dergleichen auch ihm wohl gelingen werden: so erwarten wir in der Geschichte von den Unsichtbaren, die uns begleiten, nichts Anders. Es dünkt uns Unsinn, daß Verstand und Thorheit einerlei sein oder gar ihre Wirkungen wechseln sollen, so daß Unvernunft sich wie Weisheit, Weisheit der Thorheit gleich in Folgen erzeige. Mit Recht und Unrecht ist's eben also. Müßten wir also die Eigenheit und den Vorzug unsrer Natur, die Regel unsers geistigen Daseins in Erwartung der Folgen unsrer Handlungen und ihrer Wahl aufgeben, so steht, unabtrennlich von ihr, eine Nemesis dem Lauf unsers Geschicks vor, die Wirkungen mit Ursachen bindet. Sähen sie Andre nicht, der Wirkende sieht und fürchtet sie; er hofft auf sie, wenn er nach der Regel des Rechts und der Wahrheit handelt. Oder Vernunft und Unvernunft wären einerlei, der Weise gleich dem Thoren, der Gerechte gleich dem Frevler, und aller Calcül aus der Welt verschwunden, da wir doch finden, daß in der unbelebten, mechanischen Schöpfung aufs Genaueste Alles auf einer Wage liegt, wo es an Ordnung, Maß, Ziel, an Zahl und Gewicht, denen es nicht entweichen kann, hangt: wo hört nun die mechanische Welt auf? wo fängt die regellos unvernünftige an? »Wo menschliche Geschichte anfängt,« wird man sagen, »beim Menschen!« als ob dieser nicht auch, als ein Erzeugniß der Natur, in ihr Gebiet, mithin ins Reich der höchsten Vernunft gehörte.

Die Pflanze band die große Mutter an den Boden, das Thier regiert sie durch Triebe, den Menschen ließ sie frei. Frei auf der Erde umherlaufen, frei sein und Andrer Glück oder Unglück zu machen, wie? nach keiner Regel? in keinen Grenzen? unter Keines Aufsicht? Eben hier fängt also das Amt der strenge bewachenden Nemesis an. Gesetz der Natur ist's, daß brutale, barbarische Macht von überlegender, denkender Macht geordnet, geregelt, gelenkt oder gestürzt werde, Gesetz der Natur, daß eine kleinfügig-beschränkte Klugheit oder gar spitzfindige Arglist einer offnen, umfassenden, weiter hinaus schauenden Weisheit gehorche. Denn Weisheit ist mehr als Klugheit und – – –Hier folgten zunächst das Gedicht »Die Wage« (Werke, I. S. 190) und die Aufsätze »Pindar, ein Bote der Götter« (Werke, VII. S. 297–302», »Herculanum« (Werke, VIII. S. 135–142) und »Von der Begeisterung in Ansehung des Kunstausdrucks« (Werke, VIII. S. 142–144). – D.



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