Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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VII. Früchte aus den sogenannt goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts.


Fortsetzung der in II. niedergelegten Untersuchung.Sie bildet die Nr. II des zehnten Heftes (V. 2) der Adrastea; voran gehen ihr die 14. bis 22. Romanze des »Cid« nebst der »Nachschrift«. Der Anfang der »Früchte«, 1–7, stand im dritten (II. 1), die Fortsetzung, 8–11, im vierten Hefte (II. 2). Herder übersah jene Fortsetzung und zählte die Behandlung der Romanze irrig als 8, wonach dann die folgenden Nummern sich richteten. Wir haben die richtige Zählung hergestellt. Der Inhalt des neunten Heftes (V. 1) hat in den Werken anderswo seine Stelle gefunden. Es beginnt mit dem zweiten Gesange des »Pygmalion« und den dazu gehörenden »Erläuterungen« (Werke, I. S. 234–240); daran schließen sich die beiden ersten Abschnitte der »Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts in der Kritik« (Werke, VIII. S. 119–133), die »Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund« (Werke, VIII. S. 69–90), der dritte Abschnitt der »Bemühungen«: »Thomas Creech« (Werke, VIII. S. 133 f.), nebst dem Anfange von Knebel's Uebersetzung des Lucrez (I. 1–298), der Aufsatz »Homer und das Epos« (Werke, VII. S. 275–295), der vierte Abschnitt der »Bemühungen«, unter der Ueberschrift »Samuel Clarke«, endlich die dreizehn ersten Romanzen des »Cid«, mit deren versprochener Fortsetzung das folgende Heft begann. – D.


12. Romanze.

Romanze, el romance, lingua Romana, hieß in der von den Römern besiegten Welt die Sprache, die aus der alten lateinischen und den Sprachen der überwundnen Völker sich allmählich gebildet hatte und die römische Herrschaft überlebte. Natürlich war sie nach Ländern und Zeiten verschieden; mit den Jahrhunderten verfeinte sie sich; die heutige spanische, italienische, portugiesische, französische Sprache sind ihre Sprößlinge und Kinder. El romance hieß also im Spanischen die Muttersprache; romancear hieß aus andern gelehrteren Sprachen, dem Latein und Arabischen, in sie übersetzen, in ihr umschreiben; wer dies that, hieß ein romancero. In gutem romance sprechen, hieß klar, verständlich, gerade heraus, und wie wir sagen würden, deutsch reden.

Gesänge in der Landessprache hießen also Romanzen. Ihr Silbenmaß war das natürlichste, das es in der Sprache gab, wie die spanischen Sprichwörter zeigen; die meisten (refranes) haben schon in Prose das Silbenmaß der spanischen Romanze.S. Obras posthumas del Martin Sarmiento, T. 1. – H. Ebenso natürlich ist der spanischen Sprache die Abwechselung und Verkettung der ersten und zweiten, der dritten und vierten Zeile der Romanze mit einander, da es eigentlich zwei, der Ausgang sei männlich oder weiblich, nur durch einen Tonfall wie durch eine sanfte Cäsur getrennte Verse sind. Ebenso natürlich tönen in der Romanze die Assonanzen,In der spanischen Poetik machen die Assonanzen und ihre Vertheilung beinahe das Hauptwerk aus. S. die Arte poëtica Española por Juan Diaz Rengito Barcelona 1703. Die Sylva de consonantes füllt sie zur Hälfte. – H. d. i. der ähnliche Klang und Ausklang der zweiten und vierten Zeile. Alle aus dem Latein entsprossenen Sprachen waren reich an solchen, so daß man ihnen kaum entgehen konnte, und da die begleitende Guitarre, die Melodie, der milde Himmel, der Athem des Sängers selbst, geschweige Sinn und Zweck des Gesanges, dergleichen Ausklänge forderten und liebten, so wiederholt sich oft bis zum Ende des Liedes hinaus ein heller Vocal oder ein sanfter Tonfall zahllos. Dem Ohr der Spanier angenehm; denn es war der Beschaffenheit ihrer Sprache und dem Vorbilde der Araber nach daran gewöhnt. Die Araber nämlich sowie mehrere morgenländische Völker hatten die Gewohnheit, in Reimen zu complimentirenRhythmi cum alliteratione avidissimae sunt aures Arabum. S. Alb. Schultens' Vorrede zu seiner »Blumenlese arabischer Gedichte« hinter Erpenius' Grammatik. – H. [Herder verwechselt hier zwei verschiedene Sammlungen. Vgl. unser Inhaltsverzeichnis zu dem sechsten Theile der Werke. S. 7. – D.] und in Gedichten, zumal heroischer Art, aus unterthäniger Höflichkeit sogar mit einem und demselben Reim das ganze Gedicht hindurch endlos zu reimen. Einiges von diesem Geist war in die spanische, sicilische und andre den Arabern angrenzende Sprachen übergegangen; die poetischen Liebeshöfe der Provençalen (cours d'amour, corte d'amore), die dem neueren ganzen Europa Silbenmaße vorgezeichnet haben, thaten beinahe nichts, als solche monoton höflichen Reime der Araber mäßigen, so und anders in poetische Blumensträuße sie ordnen. So entstanden Sonette, Rondeaus, Madrigale, Trioletts, Stanzen, die redondillas, villancicos, glossas el arte mayor etc. der Spanier. Die beliebten Versarten andrer Nationen sind nichts als Zurechtlegungen jener höflichen arabischen Blumensträuße; denn die Poesie galt für die Sprache der Höflichkeit, der Hochachtung, der Ehre und Liebe.Vgl. hierzu und zum folgenden Werke, XIII. S. 386–393. – D. Lasset uns darüber einen Kenner der arabischen Sprache hören!


Beilage.
»Eines im Arabischen sehr erfahrnen Gelehrten«Dieser Gelehrte ist Reiske. S. »Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freien Künste«, Band 10. S. 227 ff. – H.

Antwort auf die Frage,
ob die Araber schon in den ältesten Zeiten gereimte Verse gemacht haben.


»1) Die allerältesten Schriften der Araber sowol in gebundener als freier Rede sind in Reimen abgefaßt.

»2) Die Art, ohne Reimen zu reden und zu schreiben, ist neuer (oder später) als jene.

»3) Noch heutiges Tages pflegen sie in ihren ungebundenen Schriften, wenn sie recht schön schreiben wollen, den Reim beizubehalten, so daß sie, wenn sie einen Reim drei-, vier- oder mehrmals wiederholt haben, alsdann einen andern vor die Hand nehmen und es mit diesem ebenso machen, dann wiederum einen andern u. s. w. Auf diese Weise ist der ganze Harîrî geschrieben, der für den Araber-Cicero gehalten wird.Der ältere Albert Schultens hat von ihm sechs Reden mit der Übersetzung; Tamerlan's Lebensbeschreibung hat Jac. Golius arabisch herausgegeben. – H. (Der deutschen Sprache hat unser Rückert Harîrî's »Verwandlungen des Abu-Seid von Serug« gewonnen. – D.) Imgleichen des Tamerlan's arabische Lebensbeschreibung aus dem zehnten Jahrhundert.Als Probe giebt Reiske den Anfang des Harîrî. – H.

»4) In der Poesie sind die allerältesten Stücke gereimt.Reiske giebt eine Probe eines der ältesten aus Abulfeda, das auch Schultens in seinen Monumentis vetustioribus arabisch ans Licht gestellt hat. – H.

»Hieraus erhellt, 1) daß die alten Araber Alles beinah, auch sogar ihre häuslichen und vertraulichen Gespräche, in Versen, wenigstens in Reimen vorgetragen. Denn diesesDas als Probe gegebene alte Gedicht nämlich. – H. ist ein Rath, den Abu Ozeimat nicht mit guter Muße abgefaßt, sondern stante pede in dem geheimen- oder Kriegsrath seines Herren ausgeschüttet. So hat man auch ein von Mohammed verfertigtes, etliche achtzig bis neunzig Verse langes Gedicht, das ein gewisser Haretsch Ben Helza ohne einiges vorhergegangenes Bedenken, sich auf seinen Bogen stützend, heraussagte. Die Uebung muß bei ihnen sehr groß gewesen sein. 2) Daß, wie die erste Hälfte des ersten Verses schließt, sich auch die andere Hälfte ebendesselben Verses schließe, und wie sich der erste Vers in der Mitte und am Ende endigt, so endigen sich auch alle andere folgende, wenn ihrer auch noch so viel wären, bei zwei-, dreihundert und noch mehr. Doch sind ihre Gedichte selten so lang. –Reiske giebt Proben von Gedichten, die auf adi, ali, ulo, ani ausgehen, und schließt, daß in ihrer alten und ältesten Poesie nicht die geringste Spur von einem reimlosen Gedicht gefunden werde, es möge lang oder kurz, heroisch oder jambisch sein. – H. [Die nach dem Gedankenstrich fehlende Stelle steht Werke, XIII. S. 392. – D.]

»Doch sind ihre jambischen Gedichte so beschaffen, daß sie den einmal gefaßten Reim nicht beständig beibehalten, welches ein wesentliches Erforderniß der heroischen Versart ist, sondern sie wechseln mit den rhythmis ab, beinahe wie wir. Wenn sie einen Reim drei-, viermal wiederholt haben, so verfallen sie auf einen andern.«


Drei Fragen, über welche bisher ziemlich unbestimmt gestritten worden, beantworten sich hieraus von selbst: 1) Wer hat den Reim nach Europa gebracht? Antwort: Die Araber, obgleich damit nicht geleugnet wird, daß die schlechte Poesie der spätern lateinischen Sprache, die Cantica der Kirche, die Leoninischen Verse der Mönche seine Aufnahme sehr befördert haben. In der gelehrten und ungelehrten Sprache geschah ein Gleiches, nur aus verschiednem Grunde; in die ungelehrte (el romance) ging er aus dem Arabischen über. 2) Wo ging er über? Antwort: Allenthalben, wo Araber und Christen lange neben und mit einander freundlich und feindlich lebten. Der Streit über das frühere Alter der castilischen, sicilischen und portugiesischen Poesie ist fast vergeblich. Allenthalben spülten die Wellen der arabischen Poesie auf gleiche Weise die Küsten Europa's an, reimend. 3) Woher, daß die Poetik der neueren Poesie im südlichen Europa eine von den Alten so verschiedne Form nahm? Antwort: Weil sie nicht den Alten, sondern den Arabern nachahmten. Die Sprachen hatten sich verändert, der Geist der Nationen noch mehr. An den Höfen der Provençalen spielte man mit Reimen wie mit Blumen; die Poesie gehörte zum Ritterthum, und aus Ursachen, die die Geschichte darlegt, wurden zu weiterer Ausbildung Südfrankreich und Ostspanien ihr Tempe, ihr Parnaß Barcelona.Vgl. gegen diese Herleitung des Reims Werke, XIII. S. 389, Anm. – D.


Fortsetzung.

Ist dies der Ursprung der Reimpoesie, welch andre Gestalt nimmt sie in Sprachen an, denen diese Reim-Höflichkeit fremd ist, die sogar dem eintönig wiederkommenden Reim aus dem Wege gehen und sich dagegen, wie die Skalden thaten, lieber mit Assonanzen im Anfange der Worte ergetzten. In diesen Sprachen den längst vorhergesehenen Reim matt erwarten, ihn zwangvoll über Trümmer der Sprache heranstolpern sehen, wo er nutzlos oder gar widrig eintritt, wäre dies nicht eher für ein kindisches Ohrgeklingel und Ohrgepauk oder für eine Nachtwächterschnarre als für eine verständige Höflichkeit zu rechnen? Griechen und Römer vermieden in ihren Silbenmaßen bei allem Zudrange der Assonanzen den Reim; Kindern am Jahrmarkt geben wir die Pfennige mit dem Verbot: »daß Du Dir ja keine Trommel, kein Trompetchen kaufst!« wie? und unsre Romanzensänger, unsre heroischen Lyriker selbst übten diese Kunst, und zwar auf arabische Weise von Neuem, betäubend unser Ohr mit Reimdrommeten und Pfeifchen? Jene, indem sie, dem Genius unsrer Sprache zuwider, auf spanische Assonanzen, auf ein gehaltenes, wiederkehrendes A O U kindisch ihre Kunst wenden, indem sie, den Liedern der britischen Bedlamssänger nacheifernd, rasselnd und prasselnd, sausend und brausend gar alle Silbenmaße durch einander ausschütten und damit das Ohr des Volks zwar nicht verfeinen, aber wie Kameelsohren erhöhen und verderben. Wenn Romanze in der Welt nichts Anders als Volksgesang heißt, war dies je der Ton weiser Volksführer? Leiteten Homer, Alcäus, Sappho, leiteten die Höfe der Liebe, leitete der Barde bei der Harfe, selbst der ruhige Jäger beim Horn so die Seelen? Hätten unsre Musen kein andres, kein erfreulicheres Instrument mehr als A E I O U, das Nachtwächterhörnchen?Aus diesem scharfen Urtheil spricht besonders der Aerger über den »Alarkos« von Fr. Schlegel. – D. Ehedem war es nicht also. Denn ohne die zahllos anmuthigen Spiele zu verfolgen, in welchen Provençalen, Castilier, Italiener sich am Reim ergetzten (des Namens rimas selbst als Titels seiner Werke schämt sich kein Dichter), wer weiß nicht, daß eben an ihm die Süßigkeit der sogenannten Minnesänger wie in Blumenkelchen sich erzeige? Gedanken und Empfindungen wiederholen sich in ihnen oft und für uns zu oft; die Sprache der Anmuth, vorzüglich die Reime machen ihre Blüthen neu und schön. Als die poetische Kunst zur Meistersängerei herabsank, erhielt sie sich noch an schönen Weisen und Silbenmaßen; an solchen richtete sie sich in Opitz, Fleming, Canitz, Besser, obgleich mit schwachen Kräften, wieder auf, und als sie in Hagedorn, Gleim u. A. reiner aufblühte, was half ihnen dazu als die schöne Kunst (gaya ciencia) der Trobadoren? Lese man Hagedorn's Anmerkungen zu seinen Gedichten, um wahrzunehmen, mit welcher Kunst und mit welchem Fleiß er vom Schönsten, was er kannte, Blumen gesammelt, wie zart er sie geordnet! Seine Jugendgedichte verwarf er völlig und unerbittlich. Gleim's früheste sind fast seine besten Lieder; die drei Romanzen, die er zuerst in unsrer Sprache sang, sind noch unübertroffen die artigsten, die naivsten. So Ewald's u. A. unbillig vergessene kleine Gedichte; so Gerstenberg's Tändeleien, in denen wie ein anmuthiger Bach der Reim Blumenstücke des Adonis durchspült. Ja, soll er noch vergessen sein, der aus seiner Winterburg wie eine Nachtigall hinter dichten Zweigen sang, in seiner Sprache die zierlichsten Kränze flocht und sich in Reimen und ohne Reim in jedem angenehmen Silbenmaße, an jedes niedliche Silbenmaß versuchte? Das Andenken seines Freundes an ihn, das hier folgt, wird jedem seiner Freunde, obwol auf eine traurige Weise, angenehm sein. Erscheint die gewünschte Sammlung seiner Gedichte, so wird Jeder die ihm liebsten als Myrten um sein Grab pflanzen.


Beilage.
Andenken an einen Besuch
bei dem ehemaligen würdigen Superintendenten Johann Niklas Götz
zu Winterburg in der hintern Grafschaft Sponheim.Man vergleiche dazu Knebel's Brief an Herder vom 11. September 1779 (Von und an Herder. III. 11 ff.), wo sich genauere Angaben finden. – D.

Es war im Jahre 1780, als ich nach einem kleinen Aufenthalte in der Schweiz auch die Gegenden des Rheins sehen und besuchen wollte. Unter den vielen Merkwürdigkeiten, welche mir die obere Hälfte des Rheins darbot, reizte mich vorzüglich auch die Bekanntschaft eines Mannes, den ich in früher Jugend aus seinen Gedichten lieb gewonnen hatte, und dessen mir bekannte, größtenteils absichtliche Verborgenheit noch mehr mein Verlangen nach ihm erregte.

Es war der damalige Superintendent zu Winterburg in der hintern Grafschaft Sponheim, Joh. Niklas Götz. Seine Gedichte, die in den 1770er Jahren in der Schmid'schen Anthologie, in dessen Musen-AlmanachenEs ist von Christian Heinrich Schmid die Rede, dessen »Almanach der deutschen Musen« in Leipzig erschien. – D. sowie auch in andern Musen-Almanachen und in dem Dyckischen Taschenbuche einzeln und unter mancherlei Buchstaben erschienen waren, glänzten so schön darin hervor, als wären sie gleichsam mit einem eignen Reize der Musen übergossen. Dabei waren die kleinen Erzählungen, die er von seinen eignen Umständen und Schicksalen gab, und die er, bald in Prose, bald in Versen, unter den Flor griechischer Geschichten zu verhüllen suchte, meinem Herzen so anziehend und lieblich, daß es mir gleichsam ein Gelübde wurde, diesen selbst einmal aufzusuchen und zu sehen.

Das Oertchen Winterburg liegt wenige Stunden hinter Kreuznach, im ehemaligen Pfälzischen. Ich kam gegen Abend dahin, wenn ich nicht irre, im Monat September. Als ich mich ihm näherte, stieg ich vom Wagen aus, um mit Anstand die Wohnung des Mannes, den ich verehrte, aufzusuchen und ihn nicht mit Geräusch zu beunruhigen. Eine geheime Ahnung zeigte mir bald das Haus, das ich suchte. Ein paar hölzerne Säulchen zierten es sogar am Eingange.

Ich trat mit Ehrfurcht hinein und fand, sogleich im ersten Zimmer, die Frau und Tochter des Gesuchten, beschäftigt mit Hausarbeit. Wie freut' es mich schon bei Eröffnung der Thüre, an der Wand das Bild des Dichters zu sehen, das ich schon vorher aus einer kleinern Copie bei Ramlern hatte kennen gelernt. Eine gute Weile mußt' ich warten, bis der erwünschte Freund endlich kam, den ich nun in seinem eignen Hause empfing.

Sein Aeußeres zeigte mir einen festen, etwas untersetzten Mann von mittlerer Größe, vollem Bau und feinen Gesichtszügen. Sein Anstand war simpel und äußerst bescheiden, doch so, daß man sah, daß er mit Menschen gelebt habe; sein Inneres hielt er sehr verschlossen. Ich that ihm, mehr aus Verwirrung als Absicht, mancherlei Fragen über ihn selbst, die er aber stets mit Bescheidenheit und wenigen Worten ablehnte.

Ich bat ihn um die Erlaubniß, ein paar Tage bei ihm wohnen zu dürfen. Willig und mit anscheinendem Vergnügen nahm er mein Ansuchen auf. Sogleich führte er mich in sein Gastzimmer, welches dem Wohnzimmer gegenüber lag. und ließ mir auf mein Verlangen Thee zubereiten.

»Hier,« sagte er, »in diesem Zimmer hat erst vor ein paar Wochen Se. Excellenz der Herr Minister von *** ganzer acht Tage gewohnt.«

»Ich habe die Ehre,« sagt' ich, »den Herrn Minister zu kennen. Das ist ein feiner Kopf und ein Mann, der viel Kenntniß und Geschmack hat. Er wird sich recht erfreut haben, hier bei Ihnen zu wohnen und mit Ihnen über Ihre Sachen zu sprechen.«

»Davon war wol nicht die Rede,« antwortete er mit bescheidnem niedergeschlagenem Blicke. Se. Excellenz waren blos in Dienstgeschäften hier.«

»Also kennt er Ihre Arbeiten nicht einmal?« fragt' ich.

Er antwortete nicht. Ich erstaunte, zumal da ich mir erinnerte, einige Male an dortigem Hofe von diesem ausgezeichneten Manne gesprochen zu haben.

Noch am selben Abend führte er mich in sein Gärtchen, dessen er so lieblich in seinen Gedichten gedenkt, und das mir als sein liebes Wald-Orchester immer vor Augen schwebte. Es war ein länglich-viereckiger Raum an dem Fuße des Berges, schwerlich über 50 oder 60 Schritte lang, mit Küchengewächsen und Obstbäumen wohl versehen, ein Theil des Ganzen mit schönen Erlen an einem vorbeifließenden Bache besteckt. Alles reizte mich hier; denn ich sah es durch das schöne Medium seiner Lieder und an der Seite des Dichters selbst.

Den andern Tag besuchten wir den Herrn Amtmann, der in dem Schlosse auf dem Berge wohnte, und der uns auch eine freundliche Mittagsmahlzeit gab. Hier bemerkte ich, daß unser Herr Superintendent als Dichter eigentlich gar nicht bekannt war. Man sprach nur von ein paar Hochzeitgedichten von ihm, und der Sänger der Musen und Grazien saß ganz still und zurückgezogen bei Tische.

Ich hatte viel Mühe, ihn dahin zu bewegen, mich auf sein Studirzimmer zu führen. Endlich erhielt ich es doch. Er zeigte mir seine Manuscripte, meist auf einzelne Blätter geschrieben und in siebenNach dem Briefe Knebel's acht. – D. besondern Abtheilungen zusammengelegt, welche, wie er mir sagte, bei der Herausgabe ebenso viel Bände werden könnten. Übersetzungen, die er von ganzen Dichtern gemacht hatte, waren darunter: als vom Sarbiev, einem großen Theile des Pater Ceva u. s. w. Er zeigte mir auch seinen kleinen, doch ausgesuchten Büchervorrath, worunter er viele, besonders lyrische Dichter mit Noten und Anmerkungen bereichert hatte.

Hier that er mir das Geständniß, daß, wenn sich irgend ein Freund finden sollte, von dem er hinlängliche Versicherung hätte, daß er seine Werke so und nicht anders, und zwar durchaus erst nach seinem Tode herausgeben würde, er ihm diese Manuscripte für einen geringen Preis, den er mir benannte, zu überlassen Willens sei.Für 500 Gulden wollte er sie einem Buchhändler geben unter der Bedingung, daß er sie bei seinem Leben nie zusammen erscheinen lasse. – D. Gleiches versicherte er mich auch von seinem kleinen Büchervorrathe, dessen Werth er erkannte, und von dem er sich nur den Gebrauch auf Lebenszeit vorbehielt. Ich bat ihn, das Zutrauen wegen dieser Angelegenheit mir zu schenken, und ich hoffte bei meiner Zurückkehr ihm befriedigende Antwort hierüber ertheilen zu können.

Dieses geschah auch, und schon war ihm durch Mitwirkung eines Freundes die verlangte Summe in Frankfurt angewiesen, auch die heiligste Versicherung gegeben, in Allem seinen Willen wegen der Manuscripte aufs Genauste zu befolgen, als ich wenige Monate darauf von seinem Herrn Schwiegersohne die Antwort erhielt, daß sein Herr Schwiegervater vom Schlag sei befallen worden und deshalb außer Stand, mir zu schreiben, daß er mich aber ersuchen lasse, von meinem Begehren und von seinem eignen mir ehmals gemachten Versprechen abzustehen, indem er die künftige Herausgabe seiner Werke seinem Herrn Sohne, bei der Schwan'schen Buchhandlung in Mannheim, zu überlassen gedenke.

Ich that sogleich auf alles Geschehene Verzicht, das nie eine kaufmännische Speculation zum Grund hatte. Desto mehr aber mußte mich's wundern, als ich nachher im Jahre 1785In Mannheim. – D. die so verstümmelte Ramlerische Ausgabe zu Gesichte bekam.

Mit Ramler's Verbesserungen ist unser Götz durchaus nicht zufrieden gewesen und sprach nur mit geheimem Unmuth davon. Daß er zuletzt noch seine Gedichte, nach der der Ausgabe beigesetzten Vorrede, Herrn Ramler übergeben hat, zeugt vielmehr, wie mich dünkt, von einer gänzlichen Gleichgiltigkeit gegen die mehrsten Dinge in den letzten Tagen seines Lebens, und so auch gegen seine Gedichte. Er bezeugte mir diese selbst noch kurz zuvor in einem Briefe, mit welchem er mir eine kleine Anzahl seiner zum Theil bis jetzt noch ungedruckten Gedichte zuschickte. Er bat mich, solche an Niemand als etwa an Herder zu zeigen: qui meas aliquid putat esse nugas,Nach Catull. 1. 4. – D. setzte er hinzu. Vielleicht befürchtete er auch bei der stumpfen Gleichgiltigkeit seines Vaterlandes, daß seine Werke gar nicht zum Vorschein kommen könnten, und doch war er selbst gegen dauerhaften Nachruhm nichts weniger als gleichgiltig.

Die häufigen Ermahnungen, die ich seitdem theils selbst, theils durch angesehene Personen habe ergehen lassen, uns die eigene und vollständige Ausgabe seiner Gedichte zu geben, sind fruchtlos gewesen. Man hat mir geantwortet, die Ramlerische Ausgabe sei noch nicht völlig verkauft!! So findet sich so viel Papier jährlich in Deutschland zu den ärmlichsten, unnützesten Producten; aber zur Ausgabe eines der besten und schönsten Dichter des Vaterlandes fehlt es daran!

Hier ein Wort über die Ramlerischen Verbesserungen.Gegen die folgende Aeußerung wandte sich 1809 J. H. Voß in seinen kritischen Briefen »Ueber Götz und Ramler«. Vgl. »Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel« Nr. 314, 315. – D. Es ist nicht zu leugnen, daß dieser sorgsame Kritiker zuweilen das Mangelhafte einer Stelle, eines Ausdrucks oder Wortes sehr richtig beurtheilt hat, und eben dieses mag auch unsern Götz veranlaßt haben, ihm anfänglich die Aufsicht über seine Gedichte anzuvertrauen. Aber die Aenderungen selbst sind ihm öfters mißlungen, und indem er der Poesie eine kalte grammaticalische Bestimmtheit aufdringen wollte, so hat er den Reiz und den Nachdruck derselben vermindert und entstellt. Es ist kaum zu glauben, wie ein Mann von seinem Geist und Geschmack sich so, zumal in der letzten Zeit, hierin versündigen konnte, und es scheint, daß selbst seine eignen Gedichte durchaus wieder aus den ältern Lesarten herzustellen sind.

Uebrigens scheint der Horazische Spruch: Bene vixit, qui bene latuit,Knebel verwechselt dieses spätere Sprichwort mit einem ähnlichen Ausspruche des Horaz. Epist. I. 17. 10:
Nec vixit male, qui natus moriensque fefellit. – D.
auch der Wahlspruch unsers Dichters gewesen zu sein; für die Schriften ist er es nicht immer. Wer viel Geräusch macht, wird zuletzt gehört; treffliche Schriften und Werke sind oft durch die Bescheidenheit ihrer Urheber oder durch andern Zufall lange verborgen geblieben. Wie Viele erheben sich jetzt und machen ein lautes Geschrei von sich, die kaum ein paar Blümchen aus dem Kranze unsers Dichters mögen davongetragen haben!

Eine Anekdote darf ich nicht verschweigen, die unserm Dichter noch zum besondern Ruhme gereicht.

Während meines Aufenthaltes zu Potsdam in den siebziger Jahren kam ich auf den Einfall, das damals in der Schmid'schen Anthologie erschienene Gedicht von unserm Verfasser, die Mädcheninsel, besonders und mit lateinischen Lettern abdrucken zu lassen, um es hie und da an Einige, die Gefallen daran hatten, zu vertheilen. Dem großen Friedrich, der um Alles wußte, mochte ohne Zweifel auch ein Exemplar davon zugekommen sein, und daß es wirklich geschehen sei, erfuhr ich nachher aus dem Munde Derer, die um ihn waren. In seiner Littérature Allemande, wo der große König etwas willkürlich und ungerecht mit der deutschen Literatur sein Spiel treibt, gedenkt er nur eines einzigen deutschen Gedichtes, das ihm seinen vollen Beifall abgezwungen hat, und ich bin nach allen Umständen versichert, daß es kein andres sein kann, als eben dieses damals erschienene Gedicht unsers Götz.Vgl. Preuß, »Friedrich der Große«. III. 349. – D.

Man urtheile aus den Ausdrücken, womit der König solches bezeichnet; wobei ich noch bemerken muß, daß der Verfasser damals nur unter dem Namen des Anonymus bekannt war.

»J'ajouterai à ces Messieurs, que je viens de nommer, sagt der König bald zu Anfange, un Anonyme, dont j' ai vu les vers non-rimés; leur cadence et leur harmonie résultoit d'une mélange de dactyles et de spondées; ils étoient remplis de sens, et mon oreille a été flattée agréablement par des sons sonores, dont je n'aurois pas cru notre langue susceptible. J'ose présumer, que ce genre de versification est peut-être celui qui est le plus convenable à notre idiome, et qu'il est de plus préférable à la rime: il est vraisemblable qu'on feroit des progrès, si on se donnoit la peine de la perfectionner.«Siehe die Note hinter diesem Aufsatz. – H.

Welch Ohr hatte der treffliche große Mann für deutschen Vers und Wohlklang! Wie ahnend sprach er über das Schicksal der deutschen Verskunst! Er, den man nur zu dem französischen Reim verwöhnt glaubte, wie schnell faßte sein Ohr den wahren Wohlklang seiner Sprache, den noch jetzt so Wenige, selbst die sich vom Handwerk zu sein dünken, hinlänglich zu beurteilen wissen! Und so gab er denn dem deutschen Verse gleichsam seine Sanction, die, da sie von einem so unbestochenen Richter kommt, zum entschiedenen Vortheil seiner Sprache gereicht.

Wollen wir nun von dem schönen Kranze, den Friedrich der Einzige einzig nur dem unbekanntesten der deutschen Dichter geflochten hat, noch einen Augenblick nach Winterburg zu unserm pater elegantiarum zurückkehren!

Bei aller Hingebung in sein Schicksal schien er mir doch, wie bereits gesagt, nichts weniger als gleichgiltig gegen einen dauernden Nachruhm. Er beklagte unter Andern, kein ähnliches Porträt von sich erhalten zu haben; denn das, was wir vor uns sahen, und welches wir auch dermalen im Kupferstiche vor seinen Werken sehen, sei in seiner Jugend gemacht worden, und er zweifelte an der Ähnlichkeit, die auch wirklich schwer mehr zu erkennen war. Ich bat ihn, mir einen Augenblick zu einer Silhouette zu sitzen, und ob ich gleich kein sonderlicher Zeichner bin, so glaube ich doch den Umriß mit ziemlicher Richtigkeit getroffen zu haben. Man erkennt den kräftigen Umfang und den feinen bedeutenden Gehalt der Gesichtszüge.

Am Morgen, als ich Abschied von ihm nahm, schien er mir tief in sich gerührt. Er wollte eben gehen, zu predigen. Wir gingen noch vor dem Hause auf der Straße. Er sagte mir mit Bestimmtheit, er lebe kein Jahr mehr. Betroffen, wie ich hierüber war, stellte ich ihm seinen anscheinenden vollkommnen Gesundheitszustand und seinen dauerhaften Körperbau vor; aber er blieb dabei, und die Folge hat es nur gar zu richtig erwiesen, wie wahr er prophezeite.

Noch deutete er auf Manches, das mir zum Theil unverständlich war, das aber auf eine große Veränderung seiner Denkungsart über verschiedne der wichtigsten Punkte des Lebens hinzielte. Wie auf eine finstere Nacht hin, sah er auf sein Geschick und hielt seine Gedanken wie in einen eisernen Thurm verschlossen.

Laßt uns des süßen Sängers der Musen aus seinen holden Liedern genießen! Laßt uns die eingeborne Anmuth, den feinen und immer fruchtbaren Witz, den scharfen Geist, die oft veränderten und immer zierlichen Gestalten und Wendungen bewundern! Bienchen schwärmen um sein Grab; seine Gedichte selbst sind ein reicher Bienenkorb, voll süßen Honigs, wo jede schöne Seele und Alles, was anmuthig ist, hinzufliegt.


Note. Um einigen Begriff zu geben von dem, was damals des großen Königs Ohr so schmeichelhaft in diesen Versen rühren konnte, und was man unmöglich in Herrn Ramler's verbesserter Ausgabe wiederfinden kann, so setz' ich den Anfang des Gedichtes, so wie ich es damals abdrucken ließ, hieher.

»Steine warfen vordem auf des hohen Parnassus Gefilden
    Schwester Pyrrha und Du, ossischer Deukalion!
Aus denselben ein neu Geschlecht von Menschen zu ziehen,
    Männer aus Steinen des Manns, Weiber aus Steinen des Weibs.
Welche Gottheit belebt die Felsen der einsamen Insel,
    Wo mein neidisches Loos mich Gescheiterten hält?
Die Du Paphos regierst und in Idalion's Hainen
    Süßen Opfergeruch ununterbrochen empfängst,
Mutter der Wollust und Ruh', laß diesen Steinen entspringen
    Mädchen von seltenem Reiz, Deinen Huldgöttinnen gleich,
Und von Anmuth, wie Deine Gefährten, die blühende Hebe
    Und der geistige Scherz, der Dir den Busen bewacht!
Mit Amaranten bekränzt geh' ich, ihr Priester und König,
    Durch die selige Flur unter ihnen einher
Und beherrsche sie sanft, statt eines silbernen Zepters
    Mit dem duftenden Zweig, welchen die Myrte gebar.
Trägt mein Friedrich indeß erhabne Kronen der Erde,
    O, so mangelt doch mir kein piërischer Strauß,
Der durchdringender riecht als jene köstliche Staude,
    Die im indischen Feld edle Balsame weint!« u. s. w.

                                                          v. Knebel.



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