Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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2. Denkwürdigkeiten (Mémoires).

Je ärmer an Geschichte (im hohen Sinne des Worts) der Anbruch des vergangenen Jahrhunderts war, desto reicher war es in Frankreich und England, zumal in erstem Lande, an sogenannten Denkwürdigkeiten (Mémoires). Was ist in ihnen für unsre Zeit brauchbar? worin sind sie auch für uns Muster?

Frankreich konnte sich trefflicher Memoires, fast von den Zeiten des wieder in Gang kommenden Schreibens rühmen. Der Mönchschroniken nicht zu gedenken, wer kann das »Leben Ludwig's des Heiligen« von Joinville lesen, ohne den gutmüthigen König, mit dessen Lebensweise man völlig vertraut wird, zu lieben? Nach Froissard und Andern war im fünfzehnten Jahrhundert bereits Philipp de Comines durch seine darstellenden trefflichen Denkwürdigkeiten ein Muster dieser Gattung von Schriften für seine Sprache worden. Ludwig XI. sowie Karl den Kühnen sieht man in ihnen denken, handeln, leben; er traf in einen Zeitpunkt großer Begebenheiten, war beiden so scharf contrastirenden Führern derselben nah und wägt, naiv erzählend, wie auf der Vernunftwage ihre Gesinnung, ihr Betragen, ihr Schicksal. Werke solcher Art machen im Stillen auf Jahrhunderte Eindruck; noch jetzt wird Comines in seiner besten AusgabeMémoires de Messire Philippe de Comines, Ausgabe des Langlet du Fresnoy. Paris 1747. 4 Vol. 4. – H. wie ein belehrender Roman gelesen.

Fortan fehlten unter den folgenden Königen Denkwürdigkeiten ihrer Zeit, von vortrefflichen Männern geschrieben, nicht; insonderheit waren die Zeiten der Kriege seit Franz I., noch mehr die Zeiten der Ligue daran fruchtbar. Die Memoires von Bellay, Thuan's »Geschichte seiner Zeit«, Boivin, Castelnau, Tavannes, Montluc, d'Estoile, Mornay, d'Aubigné und wie viele andre sind in ihrer Art schätzbare Schriften! Wem sind die Mémoires de Sully unbekannt? unter Ludwig XIII. die Berichte von d'Avrigny, dem Marschall d'Estrées, Bassompierre u. s. w.? Jeder ausgezeichnete Mann hatte in diesen verwirrten Zeiten seinen Memoire-Schreiber gefunden, oder er schrieb seine Begebenheiten und Ansichten der Dinge selbst.

Auf dieser sprachreichen lichten Höhe stand die Vorzeit Frankreichs, als Ludwig XIV. minderjährig auf den Thron kam. Die Zeiten der Fronde begannen und endeten mit einem Reichthum von Denkwürdigkeiten, die, eifrig, fein, zierlich dargestellt und erzählt, Leser jeglicher Art und entgegengesetzter Parteien vergnügten. Die Memoires des Cardinal de Retz z. B. wird man lesen, so lange die französische Sprache dauert. Sie schildern den Lärmen um Nichts, der auf einen jour de barricade (ein Sperren der Gassen), auf nichts Höheres hinausging, sammt den nächtlichen Zusammenläufen, Unruhen und Intriguen, bei diesen die Charaktere der Teilnehmer und Teilnehmerinnen in mancherlei Rang und Stande so lebendig, daß man sich in ihrer Mitte befindet und, wenn man die bekannten Bildnisse dieser Personen dabei im Sinn hat, mit ihnen gleichsam mitlebt, selten zwar thätig mit ihnen, desto öfter aber wundernd und staunend, verabscheuend und bisweilen hochachtend. Der störende Cardinal, der nach einem Leben voll Unruhe zu Nichts gekommen war, eigentlich auch zu Nichts hatte kommen wollen, konnte in seinem hohen Alter Besseres nichts thun, als in Ruhe leben und seine Schulden bezahlen. Die Memoires von Joly, Rochefoucault, Gourville, der Herzogin von Nemours u. s. w., die der Erzählung des Cardinals als ergänzende Berichtigungen zur Seite gehen, bringen in diesen Winkel der Geschichte viel Licht der Menschenkenntnis, wenngleich nicht immer der Menschenliebe.

Als Ludwig selbst den Scepter ergriff, änderte sich der Ton solcher Denkwürdigkeiten nach jeder Weise des Hofes. Die galanten Abenteuer des Königs mit dem immer trostlosen Ende seiner Mätressen gaben galante und traurige Memoires; die Kriegs- und Staatsbegebenheiten, das oft veränderte Hofleben von Zeiten der Königin-Vormünderin an durch alle Lebensperioden ihres verliebten, ehrsüchtigen, dann verwelkten und devoten Sohnes, mit allen Glücks- und Unglücksfällen der Höflinge und Minister, ihrer Werkzeuge und Diener, gaben Denkwürdigkeiten in der seltsamsten Mischung. Und da von diesem Allen in der Classe von Menschen, die damals für die einzig gebildete galt, allgemein gesprochen ward, da man die Bildnisse der Personen dieser Memoires damals an Höfen und in Schlössern aufstellte, so galten ihre Memoires selbst als Muster des Geschmacks und der feineren Lebensart allenthalben. Welche zierliche Bibliothek besitzt nicht Denkwürdigkeiten einer Motteville, Montpensier, d'Aunoy, Maintenon, eines Bussy-Rabutin u. s. w.? Welcher Kriegsmann der alten, galanten Zeit hätte sich nicht um die Memoires vom großen Condé, von Turenne, Vauban, Villars, Berwick, Luxembourg, Catinat u. s. w., welcher Seemann nicht um die Denkwürdigkeiten Forbin's, Tourville's, Duguay Trouin's, welcher Staatsmann um die Berichte eines d'Avaux, d'Estrades und die Erzählungen eines Montglat, Bouillon u. s. w. nicht bekümmert! Selbst die Denkwürdigkeiten, die in den Zeiten der Revolution, also ein Jahrhundert später erschienen und den Hof Ludwig's betreffen,Von St. Simon, Noailles, Richelieu, Duclos u. s. w. – H. fanden eine Lesewelt, als ob Ludwig noch lebte und herrschte. Ueberhaupt ist durch die französischen Memoires die Sprache, der Geschmack, die Denkart Frankreichs mehr als durch irgend eine andre Gattung von Schriften thätig in die Welt verbreitet.

Was sie nicht bewirkten, thaten Briefe. Boursault, Lepays, Voiture, Fontenelle hatten durch witzige, galante, naive Briefe einen Geschmack an diesen Näschereien des entfernten und näheren Umgangs vorbereitet; an der Sevigné Briefen glaubte man endlich das Muster, so wie mütterlicher Liebe, so der feinsten weiblichen Schreibart zu finden. Die vornehme Delicatesse in ihnen gefiel am Meisten; wenigstens ihre Phrasen ahmte man standesmäßig nach. Und wer könnte den Briefen der Maintenon, Fénélon's, ja seines Vorbildes schon, des heiligen Franz von Sales, ihrer schönen Vernunft, ihres zarten Ausdrucks wegen den innigsten Beifall versagen?


Wie stehen nun alle diese Productionen am Ende des Jahrhunderts? sind sie ausschließend ewige Muster?

Einen gewissen Ton der Farben, sowie den Firniß damaliger Galanterie hat die Hand der Zeit ziemlich scharf abgestrichen, als man unter dem Herzog-Regenten und der nachkommenden Regierung ihre Folgen erlebte, so daß man in Frankreich dieses Tons längst satt war und ihn längst lächerlich gemacht hatte, als man ihn in Deutschland noch nachahmte. Zur Kunst, ein schönes Nichts zu sagen, gehörte eigens die Behendigkeit, der Glanz und die scheinbare Präzision der französischen Sprache; die herzliche Biederkeit oder, wo diese fehlt, der schwerfällige Ernst der deutschen machte jene leuchtenden Blitze oft zu unsanften Donnerschlägen.

Die Manier, Charaktere zu zeichnen, wie sie im Zeitalter Ludwig's Mode war, gründete sich gleichfalls auf den Bau der Sprache sowie auf den Ton der damaligen Lebensart und Unterhaltung. Eine gewisse Metaphysik, die der französischen Sprache von je her eigen geworden war, sodann auch die Flüchtigkeit des Hofcharakters, der eine Person oder Sache von mehreren Seiten zu beäugen und mit einem neuen Ausdruck sie treffend und noch treffender zu bezeichnen strebte, gab den vielen Abstufungen und Lichtbrechungen der Begriffe Raum, die der französischen Sprache sogar eine eigne Interpunction gaben; denn wie sie lassen sich weder Griechen noch Römer interpunctiren. Fast alle Sprachen Europa's sind ihnen indeß bei Annahme des Baues ihrer Schreibart gefolgt. Wie die Begriffe zerlegt und gespalten werden, so auch der Ausdruck. Daß diese überfeine Schilderung der Charaktere von fremden Nationen mißlich nachgeahmt werde, ist durch sich selbst klar; in lebhaft geschriebnen französischen Memoires thut sie keine üble Wirkung. Mit frischen Farben wollte man die Personen seiner Bekanntschaft malen; zu einer GalanachtHoffest. – D. gehörte also auch – Schminke.

So viel die Farben; anlangend aber den Zweck und die Seele solcher Memoires, wer könnte daran etwas tadeln? Jeder Mensch, der Denkwürdigkeiten erlebt oder verrichtet, hat das Recht, sie zu erzählen; je verständiger, je unterhaltender, um desto besser. Wer ihm nicht zuhören will, verlasse die Gesellschaft. An einem stummen Memento mori als Inbegriff seines ganzen Lebens mag ein Karthäuser sich erbauen; Leben ist Aeußerung seiner Kraft; von dem aber, was Seele und Hand wirkt, will auch das bewegliche Ruder der Vernunft, die Zunge, reden. Durch dies Sprechen über sich klärt sich der Handelnde selbst auf; er lernt sich als einen Fremden im Spiegel beschauen und, was Shaftesbury so hoch anräth, theilen. Zwei Personen werden aus ihm: der gehandelt hat, und der seine Handlungen jetzt erzählt oder beschreibt. Zudem ist in solchen Erzählungen der Erzähler gewöhnlich der kleinste Theil der Geschichte. Die Personen, mit denen er bekannt ward, die Charaktere, die auf seinen Lebensweg trafen und sein Schicksal bestimmten, die Begebenheiten, in welche er, meistens unwillkürlich, verflochten ward (denn wer bestimmt sich selbst Ort und Zeit, Umstände und Zufälle seiner Existenz?), und wie er sich dabei nahm, wie nach Jahren er sie jetzt selbst ansieht: dies macht gewöhnlich das Interessanteste solcher Legenden. Der gemeinste Mensch kann in Umstände, in eine Verbindung mit Personen gerathen, die gerade er mit dem schlichtesten Blick ansieht, da sie sich gegen ihn am Unverholensten äußern. Gourville's, des Kammerdieners von Rochefoucault, Memoires sind oft merkwürdiger als die seines Herren.

In Memoires kommt zum Vorschein, was sonst nirgend ans Licht tritt, ja, wovon manche Philosophie und Politik kaum träumt. Jetzt ein Abgrund von so wunderlichem Aberglauben, als man diesem vernünftigen, jenem großen Mann a priori unmöglich zutrauen würde; jetzt in Kleinigkeiten oder gar in Führung der ganzen Lebensweise eine Eigenheit, die zuweilen dem Wahnsinn nahe grenzt; Schwachheiten und Größen, die uns überraschen, die man dem menschlichen Gemüth kaum zutraut; in Allem endlich ein Spiel der Verhängnisse und Zufälle, das eitle Menschen sich schwer eingestehen, und das doch in jede Scene des Menschenlebens so mächtig wirkt. An reif überdachten, wohlgeschriebenen Memoires bereichert sich also nicht etwa nur die Psychologie und die kahle Geschichte, viel mehr und inniger der überlegende Verstand, die praktische Personen-, Sachen- und Weltkenntnis.

Ja, wer wollte dem Herzen seinen Antheil an ihnen versagen? Liebend oder hassend lesen wir sie, indem wir immer doch ferne Zeiten, verlebte Personen mit den unsern vergleichen. Aus einer verschwundenen Welt erscheinen sie uns, um uns zum bessern Genuß und Gebrauch der gegenwärtigen, unsers Standes und Lebens zu erwecken, zu stärken. Mancher Jüngling ist durch das Lesen der Denkwürdigkeiten eines Mannes von großer Natur selbst zu einem nicht gemeinen Mann worden. Manchen Niedergedrückten, Trostlosen hat eine einzige Stelle solcher Lebensbegebenheiten, ein Entschluß, oft nur ein Wort in ihnen wie ein himmlischer Genius aufgerichtet. Wenn aus irgend einer Gattung von Schriften Gleichmuth, das nil admirariNichts zu sehr bewundern«. – H. [Nach Horaz. Epist., I. 6. 1. – D.] und das noch schwerere nunquam desperare»Nie zu verzweifeln«. – H. [»Nil desperandum« bei Horaz, Carm., I. 7. 27. – D.] zu lernen ist, so wäre es aus dieser; die meisten derselben sind ein fortgehender Commentar der Oden und Briefe des Horaz über die einzige praktische Lebensweisheit, warnend oder lehrend. Ja, wenn ein Mensch noch einiger Aufrichtigkeit und Wahrheit fähig, wenn der Eitelste von hundert Lügen, deren er sich selbst überredet, der Trägste von gewohnten Hinlässigkeiten, die ihn ins Verderben stürzen, noch zu retten, zu heilen ist: wodurch wären sie es, als durch Memoires über sich selbst? durch einen ernsten Zurück- und sorgsamen Durchgang seines eignen, wie verlebten Lebens!


Wenn einer Nation, so wäre der unsrigen zuzurufen: »Schreibt Denkwürdigkeiten, Ihr stillen, fleißigen, zu bescheidnen, zu furchtsamen Germanen! Ihr steht hierin andern Nationen weit nach. Diese erhoben ihre Helden, ihre Entdecker, ihre ausgezeichneten Männer und Frauen auf Schwanen- oder Adlerfittigen in die Wolken; Ihr lasset sie matt und vergessen im Staube.« Unsre alten Biographien sind nicht gesammelt; die französischen, englischen sind es. Der prächtigen Ausgabe Thuan's sollte unser Sleidan entgegengestellt werden; das Unternehmen kam nicht zu Stande. Eine Biographia Germanica, wie die Briten eine Britannicam haben, ist, soviel seit Leibniz davon gesprochen ward, ein unerfüllter Wunsch geblieben. An selbstgeschriebnen Lebensbegebenheiten sind wir Deutsche sehr dürftig. Selten schrieben unsre Helden; denn viele konnten nicht schreiben; die Cultur, die schon zu den Zeiten Franz' I., Heinrich's IV., der Elisabeth Frankreich und England zum sprechenden Nationalruhm belebte, war Deutschland in seinen obern reichen Ständen fast fremde. Unsre Domherren schrieben nicht; unser Adel spielte und jagte. Treufleißige Geschäftsmänner dagegen ermatteten und erlagen unter dem Joch ihrer vielvertheilten Geschäfte und unter dem noch schwereren bleiernen Joch des deutschen Pedantismus. Sprachen sie von sich selbst, so war's von ihrer Treue, ihrer Religiosität, ihrem Diensteifer, von der Bürde, die sie zu tragen, von den Kämpfen, die sie zu bestehen, von der Ungnade, der sie zu entweichen hatten – trauriges Leben! Der vielverdiente Moser in seinem »Patriotischen Archiv« hat uns mehrere dergleichen Castra doloris dargestellt, die die Brust zusammendrücken, statt daß sie sie erweitern und erheben sollten, ja, die zuletzt den Seufzer zurücklassen: Anch'io sono ***.»Auch ich bin ein ***.« – H. [Parodirung des Wortes »Anch'io sono pittore«, das Correggio beim Anschauen eines Gemäldes von Raphael ausgerufen haben soll. – D.] Mit wie freierem Blick sehen Franzosen, Engländer, Italiener, Schweden auch unter Monarchien umher! urtheilen und scheuen sich nicht, beurtheilt zu werden! Das Gefühl, daß sie einem Vaterlande, daß sie sich selbst zugehören und von der Anwendung ihres Lebens sich und der Welt Rechenschaft schuldig sind, gab ihnen Muth zum Urtheile. Wenn dagegen in einen Deutschen von Stande zuweilen das Gefühl, daß er ein merkwürdiges Ding sei, fuhr, wie abenteuerlich spreizt er sich meistens in seinem vornehm-niedrigen Wahne! In Ahnen lebt er, die er aufstellt, in längst verblichnen Schattenbildern, und erröthet nicht, sich selbst dem Publicum als einen Thoren darzustellen, da es einen weisen, verständigen Mann erwartete, der mit Rücksicht auf Andre, auf die ganze gebildete Welt, anständig-bescheiden von sich rede. Im siebzehnten bis zur Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren die sogenannten Lebensläufe hinter den Leichenpredigten und Epicedien das steife Maß deutscher Denkwürdigkeiten; nachher verloren sich auch diese, da dann hie und da eine freche Selbstlobpreisung oder eine erkaufte Lobpreisung durch Andre ans Licht trat, glorreich anzuschauen, ekel zu lesen. Die deutschen Gelehrten endlich – sie in ihrem mühseligen Kreise vertraten hierin fast noch einzig den Ruhm der Nation. Sie lobten und befehdeten einander auch im Grabe; durch Beides ward das wahre Verdienst von den Händen der Zeit gesichtet und erprobt. Aber auch unter ihnen, wie Wenige sind, die von sich selbst zu schreiben wagten! und die Meisten derselben erzählten ein wie trauriges, mühvolles Leben!

Denkwürdigkeiten sein selbst müssen, zu welchem Stande man auch gehöre, rein menschlich geschrieben sein; nur dann interessiren sie den Menschen. Uns Deutschen, zumal bei unserm Charakter, unsern Sitten, unsrer Verfassung und Lebensweise, ist diese Gemüthlichkeit unentbehrlich, ja vielleicht unableglich. Der galante Scherz mit sich selbst und der Welt, geschweige mit der Politik, ist uns selten gegeben. Menschliche Denkwürdigkeiten aber, wem wären sie untersagt? ja, von wem würden sie seiner eignen Bildung wegen nicht gefordert?


Beilage.
Maß der Adrastea in Denkwürdigkeiten seiner selbst.

1. Niemand erröthe beschämt oder zitternd, daß er von und über sich selbst schreibe: als ein Vernunftwesen ist er Rechenschaft über sich sich selbst schuldig. Wozu er von der Natur bestimmt sei, was er geworden, weshalb nicht mehr, was ihn daran verhindert, wer ihm dazu geholfen: Fragen, deren sich Keiner überheben sollte. Jede Pflanze, jeder Baum hätte, wenn es Vernunft besäße, das Recht, also zu fragen; in seinem Namen thut's der Naturforscher, der Haushalter. Naturforscher und Haushalter über uns selbst sind wir, mit angebornen, unveräußerlichen Naturrechten.

2. Sogleich treten uns bei diesen Fragen eine Menge Gegenstände vor, die unsre Aufmerksamkeit fordern. Wir gaben und versagten uns unsre Fähigkeiten und Neigungen nicht selbst; wir riefen uns nicht an die Stelle, wo wir von Kindheit auf unsre Bildung oder Mißbildung erhielten. Was uns hier förderte oder aufhielt, wirkt aufs ganze Leben; die Hindernisse, die uns in den Weg traten, sammt dem Schaden, der uns daher erwuchs, sind unersetzbar; sie dauern fort, drücken vielleicht auch Andre und mißbilden sie. Daß sie abgethan werden, dazu sind wir ihnen also unsre Beihilfe schuldig. Wenn mit Nennung der Namen, mit treuer Bezeichnung der Lage der Sache und Umstände sich hundert anklagende Stimmen allmählich erheben, so bestürmen, so zerreißen sie, hart, wie es sei, das Ohr der tauben Fühllosigkeit endlich. Gedrängt wird sie, aus öffentlicher Beschämung zu thun. was sie aus edel-freiem Willen nicht thun mochte; sie muß die drückendsten Hindernisse der Menschenbildung hinwegthun, sie muß bessern. Die aus dem Fegfeuer jugendlicher Qualen ertönenden Stimmen haben sie dazu gezwungen, ja überwältigt.

3. Dankbar zeichne der Selbstbiograph die Schutzengel seines Lebens aus, die ihm – meistens so unvermuthet – trostreich begegneten, ihn retteten, ihm forthalfen! Nicht nur ist dies das angenehmste Geschäft dankbarer Erinnerung, die auf den lichtesten Augenblicken des jugendlichen Lebens am Liebsten weilt, sondern eben diese gefühlvolle Auszeichnung erhebt andre Gleichbedrängte, ruft andre Gleichedle zu hilfreichen Schutzengeln der Verlassenen auf. Wie Undankbarkeit das schändlichste Laster im Leben eines Menschen ist, so wird Dankbarkeit der süße Weihrauch, der auch das Widrigste im Leben mit Erquickung begabt. Noth und Mühe sind dem Zurückdenkenden wie ein Traum vorüber; die Fesseln der Pein sind von unsern Händen hinweg; der lichte Befreier steht vor uns, unserm Herzen eingeprägt, unsrer Erinnerung unauslöschlich. Milde Gabe des Himmels! Balsam, den ein mitfühlender Geist dem leidenden Geschlecht der Sterblichen durch das Gesetz gab, daß in der Erinnerung das Bittere selbst süß werde, wenn wir es wohl anwandten, und daß in unserm Leben uns nichts so aufrichtet, stärkt und belebt als das genossene Mitgefühl Andrer. Wie Sterne einer andern Welt erschienen uns diese Edeln; wie Sterne einer andern Welt glänzen sie ewig in unserm Herzen, erquickend, erwärmend. Niemand ist, der auch in den fremdesten Lebensbeschreibungen dergleichen Erscheinungen nicht mit Wohlgefallen lese: sanft bezaubert lieben und loben wir an Andern, was wir selbst vielleicht nicht leisten konnten. Wolan! andre höhere Gemüther werden es leisten, und Du muntertest sie dazu an.

4. Ueber Fehler der Jugend hüpfe man nicht hinweg; ihre Folgen ziehen sich durchs ganze Leben. Dies baut seine Alter wie Stockwerke über einander; unter dem Dache wohnt sich unsicher, wenn der Grund des Gebäudes schlecht gelegt ward. Vorzüglich bemerke man den geheimen Feind, der uns mitfolgte, unsre liebste Eigenheit, sobald sie wider Plan und Regel war. Sie zeichnete uns immer aus, machte uns oft anstoßen, noch mehr vergessen, noch mehr versäumen. In jugendlichen Jahren sehen die Menschen ihr nach, bewundern sie gar lächelnd; im ernsteren Alter richten und strafen sie solche desto unerbittlicher, desto schärfer. Wohl ihm, den hierin die Vorsehung nicht verzärtelte, dem sie frühe, scharfe Censoren weckte! und wohl ihm, der das scharfe Regelmaß dieser Censur nutzte! Verzärtelte Lieblinge des Schicksals sind in spätern Jahren sich und Andern zur Last; ihre nicht abgeriebnen Ecken und Breiten drücken und verwunden. Dagegen ist nichts Liebenswürdigeres als die gelehrige, sanfte Gemüthsart eines Menschen, der sich selbst überwinden, sich selbst ablegen, der das Joch in seiner Jugend tragen lernte. Non ignara mali, miseris succurrere disco,»Selbst bekannt mit dem Unglück, lern' ich Unglücklichen beistehn«. – H. (Virgil's Aen., I. 630. – D.) ist vielleicht die zarteste Sentenz, die je eine menschliche Lippe sprach; mit den innigsten Banden zieht sie schwache an starke, hilflose an hilfreiche Menschen und macht beide durch einander glücklich.

5. Es ist ein Naturgesetz im Gange des menschlichen Schicksals, daß, wie früher oder später jeder Fehler in seinen Folgen sichtbar werden muß, alle Unregelmäßigkeiten unsers Charakters durch Anstöße uns fühlbar werden; denn auf Ordnung und Harmonie ist die Welt gebaut. Gegenseits ist auch kein edles Bestreben, das sich nicht durch sich und in seinen Folgen lohne; vor Allem lohnen Wohlwollen, Großmuth, Liebe. Daß man noch so manche wilde Zweifel gegen die Vorsehung in Ansehung der moralischen Welt hegt, kommt daher, weil man diese selten recht aufdecken und das innere Leben der Menschen enträthseln mag. Durch Selbstbiographien kommt es an den Tag; und o wie wird durch sie die Vorsehung gerechtfertigt! Ein selbstgeschriebener Brief Tiber's von den Qualen seines Gemüths auf seiner wollustreichen Insel sagt hierüber mehr, als eine lange Declamation sagen könnte.Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 228. – D. Schritt für Schritt wird in unserm Leben der stille Gang der Adrastea merkbar. Da ist keine Schuld, die sich nicht strafe, kein Gutes, das sich nicht lohne. Wir sind uns sogar bewußt, was unabgebüßt noch auf unsrer Rechnung stehe und seinen Augenblick der Einforderung erwarte, wofür und wogegen uns dies oder jenes komme, womit wir es verdient oder veranlaßt haben, wie es wegzutilgen sei u. s. w. Immer nur durch überwindenden, nie ersinkenden Muth, durch Zutrauen und Hoffnung. Nur Tugenden höherer Ordnung in jeder Art verbessern begangene Fehler und bringen oft ein reineres Gute hervor.

Diese Führung der Adrastea im menschlichen Leben, die manche Blüthe abwirft, um Früchte zu reifen, sie sei das Augenmerk jedes moralischen Selbstbeobachters und Geschichtschreibers. Nicht uns leben wir, sondern dem Ganzen; das Ganze wirkt auf uns und preßt uns, ihm anzugehören. Der gebildetste Mensch ist der, dem für sich und Jedermann die moralische Grazie ganz und willig in seiner Brust wohnt.

6. Unziemend sind also bei jeder Selbstbeschreibung jene ekeln Nachschmeckereien jugendlicher Leichtfertigkeit, von denen auch Rousseau's Confessionen nicht frei sind. Eine Beicht (Confession) soll diese Selbstdarstellung nicht sein; jene gehört Gott und dem Beichtiger; voll lüsterner Begier nach verlebten Jugendjahren, ist eben als Beicht sie unanständig und häßlich. Wer über sich selbst spricht, soll ein reifer Mann sein, der zwar, wie Franklin es nennt, die Irrthümer und Abwege seines Lebens nicht verschweigt, sie aber auch nicht wiederholen möchte und linde nur an ihren Platz stellt. Dafür bedarf er dann auch keiner Bußthränen, noch weniger jenes ewigen Murrens mit Gott und mit sich selbst, das uns in frommen Tagebüchern so sehr zur Last fällt. Der Selbstbeschreiber habe seine Tagebücher geendigt und rede über sich wie über einen Dritten oder, da dies nicht leicht möglich ist, wie ein Wiederkommender, der sein Leben, wie es auch ausfiel, geendigt hat und es jetzt seinen Mitgeschöpfen als ein verlebtes Naturproduct darlegt. Weder ärgern will er, noch prangen; aber lehren, nutzen, dies ist seine menschlich-wohlthätige Absicht.

Kein Leser wird so leicht sein, der in Erinnerung dessen, was ihm auch mangelhafte Lebensbeschreibungen gewährten, dergleichen nicht in diesem reinen Umriß, in dieser seelenvollen Gestalt wünschte. Wolan! er greife selbst zum Werk; denn auch er hat gelebt. Nicht dem Publicum, aber sich ist er diese Recapitulation, dies zweite, geistige und schönere Leben seines Lebens schuldig; es wird ihm hie und da Reue, vielleicht süße oder bittere Thränen, durchaus aber eine mannichfaltige Belehrung über sich selbst und am Ende eine staunende Verwunderung gewähren, die sich in heitern Dank auflöst. Jeder wird sein Leben unter einem eignen Bilde ansehn, Alle aber werden darin übereinkommen, daß es ein geschäftiger Traum von Wirklichkeiten war, die uns umgeben, zu denen wir mit gehören, und auf welche wir selbst sehr wesentlich wirken. »Ein Schatte des Schattens ist der Mensch,« sagt Pindar;Vielmehr »ein Traum des Schattens« (ὄναρ σκιᾶς), Pyth., VIII. 99. – D. und doch ist er das erste Rad unsrer sichtbaren Schöpfung; für sich und für Andre trägt er, als Engel oder als Dämon, Tod oder Leben in seinen Händen.Hier folgte noch: »Horaz' Br.2. B. 1. Ueber sich selbst« (Herder's Werke, VIII. S. 59–62). – D.


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