Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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Adrastea.

Dem Jahr 1801.

»Hoffnungsschwangeres Jahr, bringest Du neues Glück
Vom Olympus herab? Sieh, es umleuchtet uns
          Mit dem goldenen Saume
                    Lieblich-röthlicher Morgenduft.

Und er senkt sich herab, hauchet uns milder an;
Starrt schon schimmernder Frost hoch um der Berge Haupt,
          Zeigt er lichter die Bahn nur
                    Zu des Himmels gewölbtem Blau.

Sei willkommen, o Jahr! Deinen erwarteten
Segen, geuß ihn herab; denn wir bedürfen sein.
          Gleich dem schimmernden Morgen
                    Sei Dein sinkendes Abendroth!«

v. K.Herder's Freund, der Major von Knebel. – D.


Unter Begrüßungen solcher Art empfingen zeitgläubige Freunde des neuen Jahrhunderts Aurora, als langsam sich aus der Morgengegend ein leuchtendes Gespann den Himmel hinauf hob und vor ihnen am Horizont weilte. Ein Wagen, von zwei Greifen gezogen, deren einer vor sich hin, der andre rück- und aufwärts blickte, auf ihm zwei hohe Gestalten, jede mit einer Thurmkrone geziert, die rechte Hand messend und schweigend erhoben. In der Linken führte die eine den Zügel des Gespanns, die andre den Scepter.Eine auf dem Titelblatte des ersten Randes der »Adrastea« stehende Vignette stellte die beiden Göttinnen in dieser Weise dar, nicht aber den dem Wagen voranfliegenden Jüngling. – D. Ein Jüngling flog ihnen voran; die Lüfte spielten in seinem Haar; die Lüfte sauseten unter dem Fuß der Thiere. So stand er, der ätherische Wagen; der Jüngling floß wie ein Strahl der Sonne nieder und sprach:

»Die güldene Zeit wünschet Ihr vom Himmel hernieder. Sie erscheint Euch in diesen zwei ernsten Gestalten. In ihren Händen ist Maß und Scepter; sie lenken das geheimnisreiche wilde Gespann. Die Krone des Wohlbestands und der Sicherheit auf ihren unsterblichen Häuptern, heißen sie Wahrheit und Recht.

»Aber sie schweben zu Euch nicht nieder. Eurer Gedanken und Begierden Maß, die Zügel Eurer Leidenschaften, der Befehlstab der Vernunft ist in Euch. In Euch wohnt Recht und Wahrheit; wenn Ihr sie vernehmt und ehrt und übt, so nur wird Euer Glück.

»Die Beiden droben, die Adrasteen der Welt, lenken die wilden Mächte mit fester Hand. Diese blicken hinauf und gehen dahin, wohin die Führerinnen sie zügelnd lenken. Thut das Eure und traut der ewigen Weltordnung!«Ueber den Namen Adrastea vgl. Herder's Werke, VII. S. 318. – D.

So sprach der Jüngling, entschwebend ins himmlische Blau; langsam zog der Wagen hinab zum Rande des westlichen Horizontes.

Betroffen stand die Versammlung. Der Aelteste derselben sprach:

»Wir hoffen auf Zeichen und Zahlen, wir knüpfen Wünsche an ein Phantom, ein kommendes Jahrhundert. Kinder des vorigen, nehmen wir es nicht in uns mit, in unsrem Gemüth, in unsrer Gewohnheit? In uns, in uns ist Scepter und Maß; am vorigen lasset uns lernen! Das neue Jahrhundert schaffen wir; denn Menschen bildet die Zeit, und Menschen schaffen Zeiten.«

* * *

Den Führerinnen des himmlischen Wagens, den Lenkerinnen des geheimnißreichen Gespanns,

beiden Adrasteen,

der Wahrheit und Gerechtigkeit,
 

widmet sich diese Zeitschrift.
 

Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ordnerinnen der Welt, als sie sich ein innres Heiligthum suchten, fanden sie es auf Erden nirgend als im Geist, in der Brust des Menschen. Da wohnen sie noch; da tönt ihre Stimme wieder.

In tausend Farben bricht sich der Strahl und hangt an jedem Gegenstande anders. Alle Farben aber gehören einem Licht, der Wahrheit. In vielen melodischen Gängen wandelt der Ton auf und nieder; und doch ist nur eine Harmonie, auf einer Tonleiter der Weltbegebenheiten und des Verhältnisses der Dinge möglich. Was jetzt mißklingt, löset sich auf in einem andern Zeitalter.

Diese Adrastea in der Natur wie in der Geschichte zu kennen und zu ehren, sei unser Bestreben. In dieser, der Geschichte, ist das verflossne Jahrhundert uns das nächste, nicht nur im Andenken, sondern auch weil wir in ihm unsre Bildung oder Mißbildung erlangt haben und eben aus ihm die Auflösung verworrener Dissonanzen erwarten.

Allenthalben aber stehen uns in dieser Zeitschrift die strengen Göttinnen vor, mit ihrem Maß, mit ihrem Befehlstabe. »Nichts zu viel!« ist ihr schweigendes Wort. Ihr Finger am Munde gebietet Vorsicht.

Und so stehe denn auch ihr Bild dieser Zeitschrift als Schutzbild voran, böse Augen abzuwenden, dem Uebermuth der Zungen zu steuern! Auch im Gemüth der Leser erhalte es das Gleichmaß der Gerechtigkeit und Wahrheit!

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