Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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2. John Bull.

Als Wilhelm von Oranien die große Allianz gegen Frankreich förderte, als unter der Regierung der Königin Anna der Krieg um Spanien durch Marlborough und Eugen in den Niederlanden, Italien und Deutschland so glänzend glücklich geführt ward, daß man Frankreich bis an den Rand des Abgrundes gebracht sah und auch da seine friedenbittende Stimme nicht hören wollte, erschallte Alles von Lobjauchzen Marlborough's und Eugen's. Auch die Kindertrompete des deutschen Reichs, dessen Länder durchzogen und verwüstet wurden, jauchzte sich heiser. Mit Scham liest man die damaligen Staats-, Kriegs- und Reichsrelationen. Was hatte Deutschland mit Spanien, Spanien mit Deutschland? Warum ward dies unglückliche Land zur ewigen Gemeinweide des Krieges? Marlborough's Ruhm, was kümmerte er uns, außer daß er uns kostete und den ersten Kaiserthron Europa's zu einem volk-, geld- und schiffbedürftigen Lehnsträger zweier Handels- und Krämermächte, Englands und Hollands, machte? Indessen tönte das Feldgeschrei: »für nichts weniger als für die Freiheit Europa's, des menschlichen Geistes, des menschlichen Geschlechts werde der Krieg geführt.«

»Im Jahr 1704 beklagte sich der Lord-Schatzmeister Godolphin gegen den Lord Halifax,Addison's Leben im »Britischen Plutarch« (Deutsche Uebers.), Bd. 5. S. 204 f. – H. daß des Herzogs von Marlborough Sieg bei Blenheim nicht so, wie er es verdiente, in Versen wäre gepriesen worden; er gab zu verstehen, daß er gern sehen würde, wenn der Lord, als ein bekannter Gönner der Dichter, einen Mann anzeigen könnte, welcher fähig wäre, von einem so erhabnen Gegenstande zu schreiben. Er wolle seine Ehre zum Pfande setzen, daß Derjenige, welchen der Lord nennen und der sich an dieses Thema wagen würde, nicht besorgen sollte, seine Zeit zu verlieren. Lord Halifax nannte sodann den Herrn Addison, bestand aber darauf, daß der Schatzmeister selbst zu ihm schicken sollte, welches er versprach.

»Der Lord Schatzmeister Godolphin sah das Gedicht, ehe es geendigt war, da der Autor nicht weiter als bis zum berühmten Gleichniß vom EngelDies von den Briten bewunderte Gleichniß heißt:
So when an angel by divine command
With rising tempests shakes a guilty land,
Such as of late o'er pale Britannia past,
Calm and serene he drives the furious blast,
And pleas'd th' Almighty's orders to perform
Rides in the whirlwind and directs the storm.

Am Gleichniß selbst lag weniger als an der Anwendung auf Marlborough, der in seiner Jugend in Turenne's Lager der schöne Engländer hieß, und dessen ruhige Kälte bekannt war, die ihn hier zum Engel Gottes erhob. – H.
geschrieben hatte, und er war so zufrieden, daß er ihn sogleich zum Beisitzer des Appellationsgerichts an die Stelle des Herrn Locke ernannte, welcher zu einem von den Lordsbeisitzern beim Handelsgericht erhoben wurde.« So sehr lag dem Schatzmeister (dessen Sohn Marlborough's Tochter zur Gemahlin hatte) des Feldherrn Ruhm am Herzen; und bekannt ist's, daß Addison nachher bis zur Würde eines Staatssecretärs emporstieg, daß er aber auch an seinem Theil für die Vermehrung der Kriegsmacht und für die Verlängerung des Krieges zum Vortheil des Feldherrn tapfer beistimmte.The present state of the war and the necessity of an Augmentation considered. Addison's works, T. III. p. 239. – H. Er schrieb seinen berühmten Feldzug, der auch in Versen, ohn' allen dichterischen Plan, nichts werter als ein Feldzug ist, voll Lobsprüche auf Marlborough und die Königin als Schiedsrichtern der Welt.

Big with the fate of Europe»Schwanger mit Europa's Schicksal« u. s. w. – H.
The work of ages sunk in one campaign
And lives of millions sacrifie'd in vain.
»In einem Feldzug sank das Werk wie langer Zeiten!
Ihr Leben hatten Millionen Menschen
Umsonst geopfert.« – H.

Mit der Zeit, die Alles wendet und ändert, kamen die Briten auch auf andre Gedanken; und wiewol man diese Gedankenändrung der Königin nichtigen Dingen, einem Paar Handschuh, einem verschütteten Glase Wasser der Lady Sara Marlborough, beizumessen gewohnt ist, so war es doch wol die veränderte Lage der Umstände, die endlich auch die Briten Vernunft lehren mußte. Ludwig war gedemüthigt, wie vielleicht nie ein stolzer König gedemüthigt war; Wilhelm's Haß gegen ihn waren Opfer gnug gebracht, und Englands Macht, Ruhm, Glück standen in vollstem Glanze. Dabei aber waren sie mit theuren Kosten erworben. Des Feldherrn Ruhm- und Geldsucht erregte eine dritte Sucht, den Krieg so lange als möglich zu führen. Indeß war Kaiser Joseph gestorben; der Werber um die spanische Krone, für den man stritt, war Erbe der gesammten östreichischen Monarchie worden; wäre es nicht die größte Thorheit gewesen, einen Krieg fortzusetzen, der eben ja zu Vertheilung der europäischen Macht geführt ward? So schloß sich (konnte es anders sein?) der Utrechter Friede, das edelste Werk der Königin und des britischen Ministeriums, das den Frieden mit seiner Gefahr schloß und dem blutigen Proceß endlich ein Ende machte. Dieser Friede, nicht der Krieg, gab Europa Ruhe und Freiheit wieder.

Eben in der Krise, die den Frieden mit Mühe vorbereiten mußte, erschien im Jahr 1712 Die Geschichte John Bull's oder Processe ein bodenloser Abgrund, wo dann der geführte Krieg und Englands Interesse an ihm anders als in Addison's »Campaign« dargestellt wurden. Der vorgenannte Engel Gottes ist hier ein schlauer Advocat in einem bodenlosen Proceß, der nie zu Ende kommen soll, weil sein Verfechter nie gnug hat. Europa's große Freiheitvertheidigerinnen, England und Holland, erscheinen hier als John Bull, der Tuchhändler, und Klaas Frog, der Leinwandkrämer; ihr Interesse ist besserer Einkauf bei Lord Strutt (Spanien) und reicherer Absatz bei ihm, den Beide, Bull und Frog, durch den alten Baboon (Ludwig XIV.) zu verlieren fürchten. Die bösen Händel Bull's mit seinem Weibe (dem Parlament), seit er aus dem Kaufmann ein Jurist (ein Kriegsheld) worden, die Ränke des Advocaten, durch den der Proceß geführt wird, die endlose Nichtigkeit dieses Processes selbst (des Krieges) werden in der vielseitigen Lebendigkeit vorgestellt, die Swift's Geist eigen ist, und die seitdem so viele John-Bulls-Carricaturen belebt hat. Swift ist ihr Schöpfer. So lange in charakteristischen Zeichnungen John Bull erscheint, regt sich des wahren Kenners und Darstellers der Dinge, Swift's, Asche im Grabe. Denn Englands Interesse an den Angelegenheiten des festen Landes, ist es gewöhnlich etwas Anders als die zärtliche Sorge John Bull's, des Alleinhändlers und Allfabrikanten, um Einkauf, Gewinn und Absatz, so heilige Namen dabei auch gemißbraucht werden? Und seitdem er dergleichen blutige Processe nicht einmal selbst führen kann oder mag, und nur Solche aufhetzt und erkauft, die sie führen, wie verächtlicher ist sein Name!

Erscheine hinter jedem Kriege eine Geschichte John Bull's in ihrer Art, mit ebenso inniger Wahrheit, mit ebenso gründlicher Menschen-, Volks- und Staatskenntniß gezeichnet! Nach einer Trilogie von Heldentrauerspielen gab das griechische Theater ein Satyrstück, in dem die alte Zeit wiederkehrte und der Heros selbst zum Menschen herabgesetzt ward. Bei jedem Triumphaufzuge der Römer blieben die Schwachheiten des Helden unvergessen, den Mysterien und Moralitäten der mittleren Zeit wurden sie sogar, Schimpf zu Ernst, eingewebt. Der Geist der Aufspannung, der die Nationen in dergleichen heroischen Paroxysmen ergreift, und die Niedergeschlagenheit, die ihnen aus so traurigen Zeiten nachbleibt, scheinen dergleichen Wahrheitgemälde selbst zu fordern, in denen das Uebertriebene herabgesetzt, das Traurige von einer fröhlichen Seite gezeigt wird. Große Begebenheiten überhaupt, wenn sie lange dauern oder schnell auf einander folgen, stimmen die Gemüther zum Anstaunen, zum Bewundern oder gar zum Erschrecken, zur ängstigen Furcht, zum sinnlosen Hinstarren in die Zukunft; ein Zwang, aus dem sie sich errettet wünschen, weil er sich zuletzt zu mystischer Schwärmerei hebt oder gesättigt in stumpfe Langeweile verliert. Gemälde der Wahrheit, wo den Begebenheiten ihr falscher Firniß still weggestrichen, dem Kriegs-, Staats- oder Weisheithelden sein falsches Haar hinterrücks, vorwärts der Kothurnstiefel leise weggezogen wird, so daß von Kopf zu Fuß der Heros, wie er ist, erscheint: der Fortgang der Zeiten selbst will solche Gemälde. Denn bringt der kommende Tag nicht immer etwas Neues ans Licht? wendet er nicht die Begebenheiten leise und zeigt sie im Erfolg von neuen Seiten? Selten denkt hinter einem nur fünfjährigen Kriege die gemeine Meinung das, was sie bei seinem Anbruch dachte.

Auch daß jedes Volk sich in Gestalt und Namen kenne, fordert die Sache selbst. Das Volk zu Athen ward auf dem Theater in Reden und in Person gespielt, wie es täglich sich selbst spielte. Das Römische Volk sah sich im Amphitheater, im Circus und sonst leibhaft; seine Herrlichkeit stand in der Göttin Roma sichtbar da. In Trink- und Schiffliedern ward Old Britannia als die große Beherrscherin der Meere, in Marlborough'schen Siegsliedern als die Aufrechthalterin Europa's gepriesen: warum sollte Old Britannia nicht auch in seinen innern und äußern Hausangelegenheiten als Sir John Bull dargestellt werden? Fände jedes Volk in Krieg und Frieden, zumal wenn es verkannt, verleugnet und cicatrisirt wird, eine Darstellung! so daß Die, die nicht lesen, die die Stimme des Volks nicht hören, die seinen Zustand nicht kennen und wol gar an seinem Dasein zweifeln, wenigstens seinen Schattencharakter gezeichnet sehen und an ihm in Furcht und Hoffnung, in Leid und Freude die Schicksale, die Gesinnungen und Contorsionen des gedachten Nemo bemerken. Bei Scenen des Jammers verliert sich das Lächerliche und Uebertriebne von selbst; bei Deutschlands Charaktervolksbilde, dem berühmten Niemand, wird im Ganzen gewiß nicht Spott, sondern klagende und beklagende Menschenliebe den kühnen und zarten sowol als den kühnen und rauhen Griffel führen. Sonst war Deutschland reich an trefflichen Holzschnitten und Charakterbildern; aber Griffel und Rechte sind ihm entsunken.Die Geschichte des deutschen Mannes, den sein Niemand als Schatte begleitet, wird an ihrem Orte folgen. – H. [Sie steht unten in der »Nachlese« zur Adrastea nach den »Briefen, den Charakter der deutschen Sprache betreffend«. – D]



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