Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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6. FreidenkerVgl. jetzt Hettner's »Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts«, I. 168 ff. – D.

Der Name Freidenker kam mit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in Gang, seit Toland, von seiner Kirche ausgestoßen und über sein BuchChristianity not mysterious 1696. 1702. – H. [1696 erschienen gleich hinter einander zwei Ausgaben. – D.] verfolgt, sich diesen Namen beilegte, fortan auch mit lautem Hohn also genannt wurde. Seitdem ergossen Swift und andre witzige Köpfe auf die Freidenker ihren Spott; man zählte zu ihnen die verschiedensten, oft sehr achtungswürdige Schriftsteller und gesellte sie zu den leichtfertigsten Buben. Andre, die den Namen mit Recht verdienten, nannte man nicht also, weil sie zur hohen Kirche gehörten. So ist der Titel ein Netz voll guter und böser Fische, ja zuletzt Sanct Petrus' Tuch in der Apostelgeschichte10, 11 ff. In anderer Weise bedient sich dieses Bildes Goethe in den »Venediger Epigrammen«, 61 (Th. II. S. 149 uns. Ausg. seiner Werke). – D. worden, bis man ihn gar fallen ließ und dafür Ungläubige (infidels) sagte. Auf dem festen Lande ging es mit dem Namen Freigeist (esprit fort) nicht anders. Er hat Narren und Kluge bedeutet, bis seine Zeit auch dahin ist.

Das ganze verlebte Jahrhundert zeigt nämlich, daß Freidenker, Freigeister, und wie man sie sonst nennen möge, dem Christenthum lange nicht so gefährlich gewesen, als man sich im ersten panischen Schrecken einbildete, ja, daß sie ihm vielfach nützlich geworden. Nicht nur erweckten sie den Geist der Prüfung und hielten ihn wachsam, sondern (wer darf's leugnen?) sie brachten meistens bessere Schriften hervor, als sie selbst schrieben, bessere, ja gegenseitige Wirkungen, als die sie zur Absicht hatten. Ohne dergleichen Anfälle aufs Christenthum hätten, unter Vielen nur Wenige zu nennen, Locke und Addison, Bentley, Butler, Berkeley, Campbell, Chandler, Clarke, Conybear, Derham, Ditton, Foster, Gerard, Hoadly, Jenyns, Jortin, Lardner, Leland, Parker, Ray, West, Wollaston u. s. w. manche ihrer schätzbaren Werke nicht geschrieben; sie wären auf manche Untersuchungen nicht geführt oder bei ihnen nicht so festgehalten worden. Und dann wie manchem englischen Geistlichen wäre damit die Gelegenheit zu Erlangung einer vorzüglichen Stelle (preferment) entgangen! Dagegen jetzt eben die Ungläubigen diesem zu einem Bischofthum, jenem zu einer Dechanei halfen.

Verfolgung über Gedanken, welchen Gegenstand diese auch betreffen mögen, ist nicht der Geist des Christentums; der Geist des Protestantismus ist Ueberzeugung, mithin eigne Untersuchung und Prüfung. Am Wenigsten waren mit der Verfolgung Die zufrieden, die gegen die Ungläubigen schrieben; denn gegen ein verbranntes Buch oder gegen einen eingekerkerten Unglücklichen zu schreiben, ist keine Ehre. Größtentheils waren es schwache Andächtlinge oder gar rohe Gottlose, die gegen sogenannt Ungläubige Verfolgung erregten; Menschen wie Hoadly, Berkeley, Foster billigten diese nie.

Wer darf leugnen, daß nicht bei jedem Zusammentreffen denkender Köpfe wie zwischen Stahl und Stein Funken hervorspringen? Wenn über Hobbes und Shaftesbury, über Toland,Ueber Toland's Schrift: Christianity not mysterious, urtheilte Leibniz sehr milde. S. seine Adnotatiunculae ad librum de Christianismo mysteriis carente. 1701. – H. Huet und Andre, Anfeinder oder Vertheidiger des Christenthums, ein Leibniz, wie er es gethan hat, seine Gedanken äußert, sind diese nicht Gewinn? Und wenn bei entdeckten Blößen die sogenannte Kirche, obgleich mit Widerwillen, manches Anstößige, Falsche, Aergerliche unvermerkt fallen läßt, und eben die Ungläubigen (infidels) dazu die Veranlassung gaben, gewann sie dadurch nicht selbst? Das Häßliche oder Seichte in den Schriften Jener ward ihnen gezeigt, unzeitiger Spott, das Gift der Verleumdung fiel auf sie selbst zurück; dagegen trat die Wahrheit immer in schönerem Glanz hervor, und EusebiaDie Frömmigkeit. – D. empfing die Krone.

Bei jedem sogenannten Freidenker unterscheide man also, was er auch außer seiner Freidenkerei Gutes geleistet, und was er bei jener im Sinne gehabt, von dem, was er unkräftig oder aufgebracht gegen Lehren der Kirche, unternahm; im Letztern konnte er ja widerlegt werden. An Toland z. B., wer wird an ihm den vielbelesenen Mann, den hellen Kopf, den warmen Prüfer verkennen, wenn er gleich, durch Verfolgungen erbittert, von Schrift zu Schrift seine Feder in schärferen Essig tauchte? Sein Buch Christianity not mysterious, »daß das Christenthum keine Geheimnisse enthalte«, hätte einen nicht nur unschädlichen, sondern wahren und schöneren Gesichtskreis gewonnen, wenn er seinen Plan im Sinne des Christenthums selbst verfolgt hätte. Denn sagt und behauptet dies nicht selbst, daß es ein enthülltes Geheimniß, Offenbarung eines bisher verborgen gewesenen göttlichen Rathes sei? Sagt sie nicht selbst, die Zeit der Geheimnisse, Typen und Embleme, die Räthselzeit sei vorüber? Hätte Jemand ihm friedlich eine Schrift dieses Inhalts vollwichtig und überwiegend entgegengestellt, was konnte Toland dazu sagen? Daß er mit seinem »Amyntor«, mit seinem »Nazarenus«, mit seinem Aufsatz »Vom Ursprunge des jüdischen Volks« Prüfung veranlassen wollen, sagt er selbst; das vergangene Jahrhundert hat sie angestellt, das angetretene wird sie fortsetzen; denn geendet ist die Prüfung bei Weitem noch nicht, zu der Toland, nur zu aufgebracht und ungestüm, aufforderte. Und dann, wer darf leugnen, daß er mit seinem »Leben Milton's«, mit seiner Ausgabe von Harrington's »Oceana«, mit seiner Untersuchung des εἰϰὼν βασιλιϰή und andern Schriften sich wirkliches Verdienst erworben? Ein größeres wäre ihm geworden, wenn er, ein geborner Irländer, der Galisch verstand, seine »Geschichte der Druiden und der celtischen Religion« hätte ausarbeiten können, oder wenn man überhaupt diesen guten Kopf besänftigt und in Ruhe genutzt hätte.S. die Collection of several pieces by Toland, mit seiner Lebensbeschreibung. – H. Jetzt, da er sich gekränkt fand, weil man ihm keine Gerechtigkeit widerfahren ließ, ward er eitel, und weil er einmal auf dem Wege der Paradoxien war, verfuhr er sich darauf weiter und weiter. Zuletzt, als ihn die Armuth nöthigte, für seinen Unterhalt zu schreiben, schrieb er Schlechtes. »Während seiner letzten Krankheit,« sagt sein Lebensbeschreiber, »äußerte er eine philosophische Geduld, eine gänzliche Ergebung in den Willen Gottes und war sehr erfreut über seine herannahende Auflösung. Da er den Tag vor seinem Tode vergnügter als gewöhnlich zu sein schien und ich zu ihm sagte: »ich hoffe, es sei besser mit ihm,« gab er mir zur Antwort: »Mein Herr, ich habe keine andre Hoffnung, als auf Gott.« Wenige Minuten vorher, ehe er starb, sah er einige Freunde, die in dem Zimmer waren, starr an, und als man ihn fragte, ob ihm etwas fehle, gab er mit der standhaftesten Entschlossenheit zur Antwort: »Es fehlt mir nichts als der Tod.« Die ruhmredig scheinende Grabschrift, die er sich selbst wenige Tage vor seinem Tode schrieb, und die ihm so häufig zur Last gelegt wird, ist auch zu entschuldigen. Da Niemand der Lebenden ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ, verschaffte er sich dieselbe selbst durch ein Bekenntniß auf seinem Grabe.

In der Philosophie war Toland ein Schüler des Jordano Bruno, aber, wie allenthalben, ein flüchtiger Schüler. Seine Nachfolger-Freidenker in England übertraf er alle an Gelehrsamkeit und Scharfsinn.


Anton Collins, ein ehrlicher, gutmüthiger Mann, Menschenfreund im ächten Sinn des Wortes, war freilich den Materien, über die er schrieb, nicht gewachsen; verdiente er aber den harten und stolzen Ton, mit welchem der überlegene Bentley ihn anfuhr?Seine Schrift: A discourse of Free-Thinking, occasioned by the rise and growth of a Sect call'd Freethinkers erschien 1713 zu London. In demselben Jahr schrieb Bentley unter dem Namen Phileleutherus seine Remarks upon a late Discourse of Free-Thinking, von welchen schon 1737 die siebente Auflage gedruckt wurde. – D. Manche seiner Behauptungen über die Weissagungen hatte Grotius längst vorher und besser vorgetragen;In der Schrift De veritate religionis Christianae (Amsterdam 1662). – D. andre sind in der Folge der gemeine Gesichtspunkt worden. Können Aussichten in die Zukunft, die in Seelen der Menschen entwickelt werden, anders als zeitmäßig und local, durch Umstände veranlaßt, im Gesichtskreise Dessen geschildert werden, der sie hat und vorträgt? Der große Geist der Zeit, der Alles umfaßt und ordnet, entwickelt sie nachher höher und weiter. Er führt einen Sinn hervor, an den der Weissager nur wie im Traum dachte.


Woolston kam in seine Irrthümer – wodurch? Durch einen schwärmerischen Hang für die Allegorien der Schrift nach Origenes und andern sogenannten Kirchenvätern. Gerichtliche Verfolgungen erhitzten seinen ohnedies warmen Kopf; er starb – (hier läßt die Menschheit eine Thräne fallen), der gute Mann starb seiner wohlgemeinten Allegorien wegen, zu denen er die Wunder Christi machte – im Gefängniß. »Dies ist ein Kampf,« sagte er zu seinem Wärter, »den Alle unternehmen müssen, und den ich nicht nur geduldig, sondern auch gern unternehme.« Hierauf schloß er sich Augen und Lippen mit seinen eignen Fingern zu, um seinem Gesicht eine geziemende Gestalt zu geben; so starb er. Er war exemplarisch sanftmüthig und mäßig. Er pflegte zu sagen, wenn er des Jahrs auch mehr als 60 Pfund hätte, so wüßte er nicht, wie er sie ausgeben sollte. Als ein niedriger Bösewicht ihn mit einem garstigen Pasquill angegriffen hatte, und man ihm rieth, diesen gerichtlich zu verfolgen, erkundigte er sich nach seinen Umständen. Da er vernahm, er habe eine Familie und sei in dürftigen Umständen, sagte er: »Wenn ich die armen Geschöpfe durch gerichtliche Verfolgung an den Bettelstab bringe, machte mir nicht ihr Elend mehreren Kummer, als eine gerechte Verfolgung gegen meinen Beleidiger mir Vergnügen verschaffen könnte?« So unterließ er's. Ein solcher Mann starb gesuchter Allegorien wegen – im Gefängniß!


Obgleich dem Charakter nach die Namen eines Tindal, Chubb, Morgan nach jenen kaum genannt zu werden verdienen, so haben doch auch sie durch die Schriften, die ihnen entgegengesetzt wurden, Gutes veranlaßt. Liebenswürdig z. B. erscheint gegen Tindal der bescheidne Foster; auch in Deutschland haben die Schriften des Letzten sowie mehrerer Vertheidiger der Religion, eines Locke, Clarke, Butler, Jortin u. A., viel Gutes gestiftet. Von Uebersetzungen der Art fing sich auch bei uns der bessere Geschmack und Ton in der Theologie an; Sack, Spalding, Ebert, Pistorius, Semler u. A. haben sich dadurch ein fortwirkendes Verdienst erworben. Ohne diese vielfach freiere Ansicht der Dinge säßen wir vielleicht noch auf den Schulbänken der lateinischen alten Dogmatik.

Ueber einen großen Troß von Einwürfen der sogenannt Ungläubigen hat uns Deutschen eine schöne Muse weggeholfen, kritische Sprach-, Zeiten- und Völkerkunde; sie hat uns eine freiere Ansicht der Dinge, mithin auch der jüdischen und christlichen Schriften gegeben, gegen welche jene Einwürfe zusammengehäuft waren. Nur durch ein fleißiges Sprachstudium, durch eine unbefangenere Kenntniß der Völker und Zeiten des Alterthums, insonderheit aber durch eine Verbindung mehrerer Wissenschaften und Kenntnisse konnte diese höhere Ansicht erlangt werden. Wie klein und halbverstanden zeigen sich in ihr so viele Einwürfe Bolingbroke's, Morgan's, Chubb's u. A.; in wie hellerem Licht und Einklang dagegen erscheinen jetzt diese gegen andre Schriften und Völker! harmonisch ihrer Zeit, Vor- oder Mitklänge in der großen Leiter der sittlichen Cultur des Menschengeschlechts, der Panharmonie der Völker.


Fortsetzung

»Noch weiß ich nicht,« wird Mancher sagen, »was ich mir unter Freidenkern zu denken habe. Frei soll ja Jedermann denken.« Zu wünschen wäre es, daß Jeder sich diesen Zweifel machte, ehe er das Wort als einen Schimpfnamen ausspricht.

1. Die roheste Bedeutung, die man an den vieldeutigen Namen infidels knüpfte, ist die, daß man sie für Treulose hielt, die, indem sie jeder Meinung ihrer Kirche nicht anhingen oder manche gar anfochten, Bundbrüchige seien, ohne Gott und Religion, ohne Gewissenhaftigkeit und Scheu vor irgend einem Laster. Abscheuliche Insinuation, durch ein Wort erschlichen, das ganz etwas Anders bedeutet! Wer am Kirchenglauben dieser oder jener Secte nicht festhält, wäre der darum ein Gottesleugner, ein Treuloser gegen Pflicht und Gewissen, ein Unmensch? Die Frage, ob es Atheisten gebe, hat sich zwar in der letzten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts durch laute Zeugnisse, zumal von Frankreich aus, beantwortet; allein auch diese, wenn sie nicht Sinn und Vernunft aufgeben wollten, mußten eine Ordnung der Natur, zu der auch sie gehörten, mithin Gesetze anerkennen, die auch über sie geböten. Eben um diese Gesetze reiner und schärfer, ohne Vorurtheil selbst des höchsten Ansehens zu erforschen, wandten sie den Atheismus vor und begnügten sich an blinden, nothwendigen Mächten. Selbst wider Diese gilt also der gehässige Vorwurf einer allgemeinen Treulosigkeit gegen Pflicht und Ordnung nicht; viel weniger in Ansehung Solcher, die über diese und jene kirchliche Meinung anders dachten. Eher würde man die schlechten Politiker und Moralisten, die auf Nutz und Eigennutz Alles bauen, einen Mandeville und seine seichten Nachfolger infidels nennen müssen, wenn auch in Ansehung ihrer das Wort nicht zu hart wäre. Hinweg also mit dem erbitternden Vorwurf! Zu lange hat man mit dem Ausdruck »ein Mann ohne Religion« menschenfeindlich- grausam gespielt.

2. Nennt man Freidenker Diejenigen, die gegen Inspiration oder Authenticität oder gegen den Inhalt biblischer Bücher hie und da Zweifel erregten, so kommt es auf die Gründe an, mit denen sie diese Zweifel vortrugen. Waren sie gründlich, warum sie nicht hören, prüfen? Ungründlich, desto leichter sind sie zu widerlegen, oder verdienen auch diese Widerlegung nicht. Bibel heißt ein Buch; unsre Bibel ist eine Sammlung Bücher eines alten Volks, das in einem uns fernen Erdstrich, in einer uns fremden Sprache diese Bücher besaß und las: je wichtiger ihr Inhalt, desto genauere Aufmerksamkeit sind wir ihnen und ihrer Geschichte schuldig. Wer diese, wodurch es sei, rege macht oder befördert, verdient Dank, heiße er Freigeist oder Freidenker. Daß die Briten, ihres Scharfsinns in andern Wissenschaften ungeachtet, in der Kritik dieser Schriften zurück sind, ist unter Andern dem Joch zuzuschreiben, das die hohe Kirche trägt und auflegt. Die freiesten Denker gehörten nicht zu ihr.

3. Gilt endlich die Freidenkerei Meinungen der Kirche, warum sollte in Absicht dieser nicht das Denken erlaubt sein? Der Protestantismus fordert es sogar, da er auf eigne Prüfung und Ueberzeugung gebaut ist; die Reformatoren übten das freie Denken nach dem Maß ihrer Zeiten; nur mittelst seiner wurden sie Reformatoren. Und da sich in der Kirchengeschichte die Wandelbarkeit sowol als der Ursprung dieser Meinungen gnugsam zu Tage legt, so spricht diese laut für die Freidenker. Hätte Semler kein Verdienst, als daß er diese Veränderlichkeit des herrschenden Lehrbegriffs nach Ort und Zeit aufgedeckt hat, mit so ungewisser Hand er es that, es wäre nicht das geringste gelehrter Verdienste.


In den siebziger Jahren des vergangnen Jahrhunderts trat ein Mann auf, den man den Rechtdenker der Freidenker nennen möchte, Lessing. Früher schon hatte er den Lemnius, den Cardan, den Ineptum religiosum gerettet;Lessing's Schriften, Theil 3. 1754 [Werke, Th. VIII u. XIV]. – H. jetzt rettete er den Berengar und trat bei Herausgabe der Fragmente eines Ungenannten gleichsam zwischen diesen und seine Bestreiter.Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Bibliothek zu Wolfenbüttel. Beitrag 3. 4. Eine Duplik. Eine Parabel. Axiomata. Anti-Goeze. 1778 [Lessing's Werke, Th. XV u. XVI]. – H. Ein wohlgewählter Standpunkt. Weder ein blinder Vertheidiger seines Ungenannten, so wenig als dessen Bestreiter, selbst nicht »Wärtel« wollte er sein, der »seine Stange dazwischen würfe, wenn von der einen oder der andern Seite ein gar zu hämischer und unedler Streich geführet würde«.Vorrede zur »Duplik« [Lessing's Werke, Th. XVI. S. 23]. – H. Zusehen wollte er dem Kampf und ihn hie und da lenken. Der Plan mißrieth. Es traten zu blöde oder zu hämische und hitzige Gegner auf; der Streit wandte sich um Punkte, die nicht eben die reichste Ausbeute geben konnten; der gekränkte Lessing ward des langweiligen, schlechten Kampfs zuerst müde. Die genialischen Blicke, die er indeß auf Streitigkeiten dieser Art überhaupt warf, die allgemeinen Grundsätze, die er dabei festsetzte,S. »Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt«. Nicht minder die »Duplik«, die »Parabel«, den »Anti-Goeze«, den »Beweis des Geistes und der Kraft«, das »Testament Johannis« [Lessing's Werke, Th. XVI]. – H. sie sind ein Erstes in ihrer Art, Gewinn und Regel für die kommenden Zeiten.Vgl. Herder's Urtheil in den Werken. XIII. S. 531. – D.

»Das Christentum geht seinen ewigen, allmählichen Schritt, und Verfinsterungen bringen die Planeten aus ihrer Bahn nicht. Aber die Secten des Christentums sind die Phases desselben, die sich nicht anders erhalten können als durch Stockung der ganzen Natur, wenn Sonn' und Planet und Betrachter auf dem nämlichen Punkte verharren. Gott bewahre uns vor dieser schrecklichen Stockung!«»Parabel«, S. 15 [Werke, Th. XVI. S. 98]. – H.

»Erst soll uns hören, erst soll über uns urtheilen, wer hören und urtheilen kann und will! O, daß er es könnte, er, den ich am Liebsten zu meinem Richter haben möchte! – Luther, Du! – Großer, verkannter Mann! . . . . Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset; wer erlöset uns von dem unerträglichem Joche des Buchstabens? Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie Du es itzt lehren würdest! wie es Christus selbst lehren würde! Wer?«S. 26 [Werke, Th. XVI. S. 102]. – H.

»Der wahre Lutheraner will nicht bei Luther's Schriften, er will bei Luther's Geiste geschützt sein, und Luther's Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntniß der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß. Aber man hindert Alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntniß Andern mitzutheilen. Denn ohne diese Mittheilung im Einzeln ist kein Fortgang im Ganzen möglich.«»Anti-Goeze«, I. S. 7 [Werke, Th. XVI. S. 140]. – H.

»Vielleicht soll nach Gesetzen einer höhern Haushaltung das Feuer noch lange so fortdampfen, mit Rauch noch lange gesunde Augen beißen, ehe wir seines Lichts und seiner Wärme zugleich genießen können. – Ist das, so verzeihe Du, ewige Quelle aller Wahrheit, die allein weiß, wenn und wo sie sich ergießen soll, einem unnütz geschäftigen Knechte! Er wollte Schlamm Dir aus dem Wege räumen. Hat er Goldkörner unwissend mit weggeworfen, so sind Deine Goldkörner unverloren!«»Duplik«, S. 152 [Werke Th. XVI. S. 89]. – H.


Beilage.
Baco von der Wahrheit.Sermones fideles. I. – D.

»Was ist Wahrheit?« fragte Pilatus, der Spötter, und wollte die Antwort nicht erwarten. Gewiß giebt's Leute, die am Schwindel der Gedanken Vergnügen finden und es für Knechtschaft halten, durch festen Glauben oder durch standhafte Grundsätze gebunden zu sein. Sie wollen im Denken wie im Handeln ihren freien Willen haben. Zwar haben die philosophischen Secten dieser Art aufgehört; indeß sind noch manche windige, hin und her schwätzende Köpfe übrig, die ebendieselben Adern, nur nicht so blutreich wie die Alten haben. Aber nicht die Schwierigkeit und Mühe allein, die man übernehmen muß, um die Wahrheit zu finden, auch nicht die aus der gefundenen Wahrheit entspringende Fesselung der Gedanken verschaffen den Lügen Gunst, sondern vor Allem die natürliche, obgleich verderbte Neigung des Menschen zur Lüge. Einer der neueren Griechen, der dies untersucht, bleibt erstaunt darüber und kann keine Ursache ausdenken, warum die Sterblichen die Lüge um der Lüge selbst willen lieben, da sie weder, wie die Lüge der Poeten Vergnügen, noch wie die Lüge der Kaufleute Vortheil gewährte. Ich weiß aber nicht, wie es kommt, daß das reine Tagslicht, die Wahrheit, die verlarvten Fabeln und Possen dieser Welt nicht so prächtig und elegant zeigt, als es die Fackeln und die Beleuchtung der Nacht thun. Den Werth einer Perle kann die Wahrheit, wenn sie am Tage hell leuchtet, vielleicht erlangen; den Preis eines Diamants oder Karfunkels, der mit mancherlei Licht spielt, wird sie nie erreichen; gemischt mit Lügen gefällt sie immer mehr, als wo sie rein erscheint. Wer zweifelt daran, daß, nähme man den Menschen ihren Wahn, z. B. leere Meinungen, schmeichelnde Hoffnungen, falsche Schätzungen der Dinge, Einbildungen, die sie sich nach Belieben dichten, und dergleichen mehr, daß nicht Manche niedergeschlagen, welk, schwarzgallig, langweilig-matt, sich selbst ungefällig und lässig zurückbleiben würden? Mit großer Strenge nennt einer der Kirchenväter die Poesie einen Wein der Dämonen, weil sie die Phantasie mit wesenlosen Dichtungen fülle; und doch ist die Poesie nur ein Schatte der Unwahrheit. Diese, wenn sie die Seele nur leicht durchgeht, schadet nicht; wohl aber die Lüge, von der wir erst sprachen, wenn das Gemüth sie einsaugt. Indeß, wie bei verkehrten Neigungen und Denkarten der Menschen sich dies auch verhalten möge, so lehrt doch die Wahrheit, die eigentlich sich selbst allein richtet, daß ihre Erforschung, wenn man sie als ein um sie Werbender verdient, ihre Kenntniß, die sie gegenwärtig darstellt, und ihr beifälliger Empfang, der gleichsam ihr Genuß und ihre Umarmung ist, das höchste Gut der menschlichen Natur sei.

Im Schöpfungswerke war das Erste, was Gott schuf, Licht für die Sinne, das Letzte Licht der Vernunft; ja, sein Werk am Ruhetage, das er fort und fort treibt, ist seines Geistes Erleuchtung. Zuerst hauchte er der Materie, nachher dem Menschen Licht ins Antlitz; fortwährend haucht er's ins Angesicht der Erwählten. Der Dichter, der eine, sonst nicht die vorzüglichste, Secte zierte,Lucrez, V. 1-10. Das Fenster des Schlosses ist Baco's Zusatz, der die Stelle De dignitate et augmentis scientiarum, I. p. 35, und zwar genauer als Herder, anführt. – D. sagt sehr schön: »Angenehm ist's, vom Ufer herab die erregten Fluthen zu schauen, angenehm, vom Fenster des Schlosses die begonnene Schlacht, ihr wechselndes Glück zu bemerken; keine Wollust aber gleicht der, wenn auf hohem Gipfel der Wahrheit (gewiß ein hoher, unersteiglicher Gipfel, wo die Luft immer hell und heiter ist!) man herab in das Thal voll Ungewitter, Dunkelheit und Irrthum, in dem die Menschen umhertappen, von oben schaut;« wenn dies Schauen nur auch Mitleid, nicht schwülstiger Stolz begleitet. Das heißt der Himmel auf Erden, wenn unser Gemüth über den Polen der Wahrheit sich umherschwingt, in der Vorsehung ruht und sich in Liebe bewegt.

Um von der theologischen und philosophischen Wahrheit auf die Wahrheit oder vielmehr Wahrhaftigkeit in bürgerlichen Geschäften zu kommen, so müssen selbst Die, die sie nicht ausüben, anerkennen, daß eine offne, ungeschminkte Art, Geschäfte zu behandeln, eine ausnehmende Zierde der menschlichen Natur, und die Mischung des Falschen dabei das Blei sei, das den edlen Metallen zugesetzt wird, um sie leichter schmiedbar zu machen; ihr Werth aber wird dadurch geringer. Den Schlangen, die »auf dem Bauch kriechen«, gehören jene biegsamen, schiefen Bewegungen, nicht einhergehenden Menschen. Kein Laster ist, das einen Menschen so mit Schande bedeckt als Treulosigkeit und Falschheit. Daher Montaigne,Essais, I. 9. – D. wenn er untersucht, warum das Lügen für so schändlich und schmählich gehalten werde, scharfsinnig sagt, »daß wenn man es recht nehme, so sage man von einem Menschen, den man Lügner nennt, zugleich, daß er frech gegen Gott, gegen Menschen feig sei«. Denn ein Lügner insultiert Gott, indem er sich vor einem Menschen krümmt und beugt. Gewiß, wie häßlich und verderblich Falschheit und Treulosigkeit sei, kann nicht besser als dadurch ausgedrückt werden, daß durch sie, als durch das letzte Geschrei, der Gerichtstag Gottes über das Menschengeschlecht werde herabgerufen werden; denn es ist geweissagt, daß bei seiner zweiten Ankunft Christus keine Treue finden werde auf Erden.



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