Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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1. Nemesis der Geschichte.Den Anfang des Heftes bildete das Gedicht »Arist am Felsen«, Werke, I. S. 220–224. – D.

Es ist eine alte Bemerkung, daß der Vater der griechischen Geschichte, Herodot, nicht nur den Gang derselben nach Homer geordnet, sondern daß auch der im ganzen Werk herrschende Gedanke, die Seele desselben episch sei. Daß sie nicht anders als also sein konnte, und was dies Wort für die Geschichte in sich schließe, ist jetzt das Thema unsrer Betrachtung.

Erstlich. Was wir in der Geschichte begegnen, wuchs aus kleinen, unbemerkten, fast unmerklichen Anfängen heran; wer säte diese Keime, wer führte ihnen gedeihende Witterung zu und zog aus ihnen Blüthen und Früchte, indeß andre wie durch die Macht eines bösen Schicksals untergingen oder mühsam emporkamen?

Zweitens. Was hiebei vom Willen des Menschen abhängt, ist gegen das unsichtbare Mächtige, das ihn freundlich oder feindlich umgiebt, so wenig und so schwach. Der Augenblick übereilt ihn. Wie aus einem Hinterhalt brechen unvorgesehene, unabwendbare »Schickungen« hervor: wie mag er bestehen? wie konnte er sich gegen sie rüsten?

Drittens. Und da das Schwerste und Höchste zuerst fällt, da, wenn alles Irdische gebrechlich ist, unser Auge sich zu prächtigen Ruinen zuerst wendet und an ihnen am Längsten haftet, da endlich der »Kampf mit dem Schicksal« (gleichsam mit unsichtbar widerstrebenden Geistern) im Zeitlauf großer, starker, glücklicher Menschen das ist, was die theilnehmende Betrachtung am Meisten anzieht: wie anders, als daß in der Geschichte menschlicher Dinge dies uns am Meisten beschäftigt?

Setzt man, viertens, bei einem Griechen hinzu, daß der Reichthum und die Macht der Barbaren, verglichen mit der Beschränktheit und dem Gefühl der Griechen, nothwendig ihr Auge auf eine Gottheit begierig machen mußte, die dieser Barbaren Macht beugte, ihren Uebermuth stürzte: so ward mit oder ohne Namen eine Nemesis-Adrastea die Schutzgöttin der griechischen, und ist's aller Menschen-Geschichte, ihr wesentlich, von ihr unabtrennlich. Möge sie, wie es dem Gange der Cultur gemäß ist, von rohen Menschen zuerst roh, d. i. schadenfroh, neidisch-verderblich gedacht werden, je mehr, bei gezähmten Leidenschaften, auch in Uebersicht der Geschichte besonnene Klugheit und Ueberlegung wuchsen, desto heller trat jene Nemesis auf ihrem Siegeswagen hervor, die wir als die gerechteste, lang nachsehende, schnell ereilende Lenkerin aller menschlichen Schicksale verehren. Nirgend feiert sie ihren Triumph still-prächtiger als in der Geschichte. Ohne sie zu nennen, weiht sich ihr der Geschichtforscher; der Aufseherin Wagen schwebt über ihm, ihr Schritt naht seinem Ohr, wenn er den Gang der Begebenheiten bemerkt. Entweder ist die Geschichte nichts als eine vernunftlose Wiedererzählung äußerer Zufälle – oder, wenn nichts Zufall, wenn in den Zufällen Geist ist, mit denen Vernunft und Unvernunft, Glück und Unglück ihr Spiel haben, welche andre Göttin könnte der Geschichte vorstehn als Nemesis-Adrastea, die Tochter Jupiter's, die scharfe Bemerkerin, die strenge Vergelterin, die Höchstbillige, die Hochverehrte!

Es überschritte die Grenzen des heutigen Tages, den Umriß genauer zu zeichnen, unter welchem die Geschichtschreiber des Alterthums, Herodot, Thucydides, Polybius, Sallust, Livius, Tacitus, Plutarch, Herodian u. s. w. der messenden Göttin gehuldigt haben, dieser vernünftiger und scharfblickender, abergläubischer jener; gewiß indessen ist's, daß, je mehr sich auch hier der Nebel des Sinnlos-Wunderbaren hob, und man im Gange menschlicher Begebenheiten und Schicksale Ordnung und Regel erkannte, desto lehrreich-erfreulicher ward die Geschichte. Jetzt, da keine schadenfrohe feindselige Ate auf den Köpfen der Menschen muthwillig spielte, dagegen eine Gesetzgeberin still in den Busen blickte und nach einer Regel die Zügel lenkte, da ward der vernünftige wie der unvernünftige Mensch, das Steigen und Fallen des Glücks der Reiche nach den Sitten ihrer Bewohner, das Poco di più e poco di meno, worauf im Zusammenhange der Dinge Alles ankommt, einem Maß unterworfen, es ward eine Philosophie der Weltgeschichte. Wenn Frechheit der Menschen, wenn Unwissenheit und Aberglaube sie verdunkelten, leugneten und das Richtmaß der Wahrheit krümmten, so trug diese Keckheit selbst die Vergeltung auf dem Rücken mit sich, Unsinn und Frevel, Blendung und Verderben.

Einer andern Zeit sei es aufbehalten, den langsamen Weg zu betrachten, den aus der Nacht der Mönchsgeschichten die historische Wissenschaft nahm, an Livius und Tacitus dies Regelmaß der Adrastea schwer und mühsam lernend. Italiener, politische Italiener waren es, die, indem sie Moral und Politik trennten, manchem Schwachen den ganzen Weg verdächtig machten und sich selbst verlängerten und erschwerten. Denn eine Nemesis ist's des Rechts und der dem Menschengeschlecht ziemenden Klugheit; oder wo man sie sich in doppelter Gestalt denkt, stehen sie als Schwestern mit einerlei Attributen, als Herrscherinnen der Welt neben einander, auf einem Wagen. Zwar ist die Zeit noch nicht gekommen, daß man dieser Wahrheit: »Recht sei die höchste Klugheit, außer ihm gebe es keine«, traut und in ihr handelt; dem guten Grotius schrieb man es als Schwachheit an, daß er an ein »Recht der Menschheit in Krieg und Frieden« glaube, und Geschichtforschern, die mit Grundsätzen der Ehrlichkeit praktische Vorurtheile, insonderheit die falsche Ehre ihrer Nation bestritten, vergalt der politische Bube es gemeiniglich übel. Der Kampf zwischen Wahrheit und Irrthum ist indessen allgemein rege, und wohin der Sieg fallen müsse, kann auch dem flachsten Zweifler nicht zweifelhaft bleiben, da Wahrheit sich selbst bewährt.

Auf zweien Wegen, die sich am Ende vereinten, ging man im vergangenen Jahrhundert, auch absichtslos, dem Ziel, das Geschichte zu dem macht, was sie sein sollte,Hier ist wol das Wort entgegen ausgefallen. – D. den Blick ausbreitend und beschränkend, ja ihn gar auf einen Punkt heftend. Zu eben der Zeit, da Bossuet sein Gemälde der Weltgeschichte mit Glanz und Licht aufgestellt hatte, alle Begebenheiten an ein »geliebtes Volk Gottes« heftend, stellte Pufendorf seine Geschichte europäischer Staaten nach Völkern und Reichen hin, in nackter Gestalt, in trocknen Factis, aber wohlgeordnet. Lache, wer will, aber auf mehreren deutschen Universitäten haben manche seitdem geschriebene Lehrbücher der Geschichte sowol als der Statistik eine Ordnung, Deutlichkeit und Nutzbarkeit erhalten, die dem Chaos voriger Zeiten fremd bleiben mußten. Otto's »Republiken«, Mascov's, Gebauer's, Achenwall's Gatterer's, Schlözer's, Sprengel's, Spittler's bekannte Leitfäden bilden Entwürfe, bei denen ich staune, wie viel Großes und Gutes mit Weisheit und Güte darüber gesagt werden könne, ohne zu untersuchen, ob es jedesmal gesagt werde, und ob für einen vermischten Haufen knabenhafter Zöglinge jedes gehöre. Die Zusammenstellung der Staaten, Völker und Weltperioden indeß in ihrem Wechsel und Wettkampf gegen einander ist ein großes Olympia unter den Augen unparteiischer Kampfrichter der Weltregiererinnen Recht und Klugheit, Tugend und Schicksal.


Die Bearbeitung »einzelner Reichsgeschichten unter diesem Anblick« ist, von welchem Volke auch die Rede sei, eine große Unternehmung; urtheile ein Kühnerer, ob die mit Recht ruhmvollsten Reichsgeschichtschreiber des vorigen Jahrhunderts, Hume, Dalin, Lagerbring, Mallet, Schmidt u. A. sie vollführt haben! Nur Deinen Namen darf ich nicht verschweigen, trefflicher Pietro Giannone,Istoria civile del regno di napoli, da Pietro Giannone. Nap. 1723. – H. der in der gefährlichsten Situation eines durch Gesetze und Stände verwirrten Reiches die Wirkungen dieser Gesetze, das Aufkommen und den Fall der Fürstenhäuser mit ebenso viel Muth als Gelehrsamkeit zu zeigen wagte! Ein verbannter flüchtiger Märtyrer der Wahrheit wurdest Du; Dein Sinn aber für Recht und Wahrheit ist auch für Dein Vaterland mit Dir nicht ausgestorben, in Seelen und Schriften der Genovesi, Filangieri u. s. w. hat er fortgewirkt und wird fortwirken, wenn auch nur in Entwürfen anfangsweise.

Ob Frankreich gleich bisher keine Geschichte hat, geschrieben, wie sie sein sollte, in Fénélon, St. Pierre, Montesquieu, Mably u. s. w. hat sie Grundsätze und Samenkörner einer solchen Geschichte. Das schreckliche Ungewitter der Revolution muß selbst ihre zwar spätere, aber um so nützlichere Reife befördern. Seit dem Bunde der Franken, mithin seit Entstehung der Nation lag in ihr ein fürchterlicher Zunder zu Umwälzungen unter allen Nationen. Hätte Schweden nach dem schlichten Anfang Botin's durchhin eine Geschichte, besäßen wir von Europa das Gemälde seiner mittleren Zeiten, wie Müller und Koch es vorzeichnen,Essais historiques par Mr. J. M. (Jean Müller) Berlin 1782; Tableau des révolutions de l'Europe dans le moyen âge par Koch. Paris 1790. – H. ausgeführt, warum säumt der Geschichtschreiber seines Vaterlandes, der schweizerischen Eidgenossen, sich gegen den Unfall der Zeiten an einem Werk weiteren Umfanges zu trösten? Hätten Tacitus, Sarpi, Giannone, Montesquieu mit ihren Schriften bis ins graue Alter gesäumt, wahrscheinlich wären sie, wie Montesquieu's Geschichte Ludwig's XI. und so mancher andre Schatz der größten Männer – verloren.

Seit Vertot, Du Bos, St. Réal, unter welchen der Erste noch jetzt mit Vergnügen gelesen wird, haben das vergangene ganze Jahrhundert hindurch Köpfe oder Federn, fast ohne Zahl, sich einzelner Zeiträume und Personen zu historischen Gemälden bemächtigt, Boulainvilliers und Gagnier der Geschichte Mohammed's, Oklei, Marin u. s. w. der Geschichte der Araber, Flechier und Marsolier des Cardinal Ximenes, Andre Saladin's, Rienzi's, und welches großen Mannes nicht? Oft geben zusammengestellt die ungleichsten Gemälde selbst ein Mittleres der Wahrheit. Am Lehrreichsten sind Zeiträume und Personen, in denen und durch welche sich Grundsätze und Sitten der Völker ändern, wo, wie auf der Wegscheide, die historische Muse gleichsam Gericht hält. Die Völkerwanderung, die Zeiten Theodorich's, Karl's und Otto's der Großen, Gregor's VII., Friedrich's I., II., schwäbischer Kaiser, Ferdinand's des Katholischen, Karl's V., Ludwig's XI., XIII-XVI., Peter's und der Katharina, Friederich's, Joseph's waren dergleichen; an sie hat sich in bekannten und gerühmten Schriften vorzüglich der Fleiß der Geschichtschreiber gehalten. Hier ragt Robertson hervor, er vielleicht der am Meisten epische Geschichtschreiber des verflossenen Jahrhunderts; mit Glanz und Wohlordnung hat er für die Menge geschrieben, daher er ein andres Schicksal als in der Geschichte Schottlands sein größerer Vorgänger Buchanan hatte. Wenn Dieser verbannt umherirren mußte, überhäufte Jenen seine Geschichte mit Lob, Lohn und Würden. Er und sein Nachfolger auf der Ruhmesbahn, Gibbon, haben sich zu Geschichtschreibern ex professo hinaufstudirt. Ob, indem sie Ideen geben, sie auch, wie die Alten, Ideen erwecken, ob sie das größere Gefühl geben, das, in Vergleich mit Sallust, Livius und Tacitus, ihre Zeiträume erwecken mußten, beantworte Jeder aus seiner Brust.

Der größte Bearbeiter eines, und zwar kleinen Zeitraums unter den Neuern ist meines Urtheils Fra Paolo Sarpi; seine Geschichte der Tridenter Versammlung ist, obgleich ohn' alle poetische Bilder den unannehmlichsten Gegenstand betreffend, das vollkommenste historische Epos. In mehreren Bearbeitungen der Kirchengeschichte ging Mosheim ihm nach, den er aber seiner zierlichen Langweiligkeit wegen nie erreichte. Eine ganze Kirchengeschichte, in Sarpi's Geist geschrieben, wäre ein Meisterwerk, obgleich vielleicht über menschliche Kräfte. In keiner Gattung Geschichte haben wir vielleicht so viel Gesammeltes, so wenig Bearbeitetes als in der Kirchengeschichte. Auch Muratori, Walch, Semler u. s. w. blieben nur Sammler.

Der letzte, ohne Zweifel der höchste Entwurf der Geschichte wäre der Entwurf der Nemesis selbst, in allen Staatsverhüllungen die reine Menschengeschichte; Voltaire mit seinem vielleicht fehlervollsten Werk hat sich um sie ein unstreitiges Verdienst erworben. Denn so viel unnütze Scherze, so manche Lücken und Unrichtigkeit seine allgemeine Geschichte enthalten möge, der freiere Blick, den er um sich warf, das längere Band, mit dem er Alles knüpfte, vor Allem die Grundsätze der Toleranz, die Gefühle der Schonung, die er in alle Jahrhunderte verbreitet, sie stecken der allgemeinen Geschichte ein Panier auf, das Bossuet, Comenius, Arnold ihr nicht hatten geben mögen. Reisebeschreibungen, Schifffahrten, die Wuth nach Naturkenntnissen, die Bekanntschaft mit der ganzen Welt halfen der allgemeinen Geschichte; fortgehend und wachsend im Fortschritte, konnten sie die Menschen am Ende doch nur Menschlichkeit lehren. Was Portugal in Ostindien mit der Inquisition, Spanien in Amerika durch seine Behandlung der Einwohner, beide in Europa und in sich selbst durch Einfuhr des Goldes und Silbers ausgerichtet, was durch den Sclavenhandel nicht, wohl aber durch Belohnung des Fleißes, durch gegenseitige Billigkeit, durch gemeinsame Treue allein auszurichten sei, was Kriege, Verfolgungen, Aufstände, Revolutionen bewirken, Alles das hat in unwidersprechlichen Proben die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt. Verdienstvoll, wer sie vor Augen stellt und mit unwiderlegbaren Erweisen den Menschen menschlich zu sein gebietet! Die Folgen des Lasters und der Tugend, der Vernunft und Unvernunft, der Liebe und des Hasses unter den Menschen werden unter dem Glanz des Rechts und der Wahrheit das fortgehende Epos der Menschengeschichte.



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