Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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9. Bayle.

Unter allen aus Frankreich Entwichenen hat unstreitig Bayle nicht nur sich den berühmtesten Namen erworben, sondern auch Wirkungen aufs Jahrhundert erregt, an welche er selbst schwerlich dachte. Sohn eines reformirten Predigers, war er frühe zur katholischen Kirche getreten und wieder zurückgetreten; von Jugend an und in seinem Professorstande hatte er sich ans Disputiren gewöhnt; er ward also ein Dialektiker, dem das Für und Wider allenthalben ins Auge fiel; jede Sache sah er als eine Streitfrage an, von zweien Seiten. Und bis zur letzten Stunde ermüdete seine arbeitsame Feder nicht, diese Für und Wider ins Licht zu setzen; so stritt Bayle bis an den Tag seines Todes. Seine Mitausgewanderten fochten ihn selbst an; unter ihnen hatte er die bittersten Feinde; aber auch sein berühmtes »Wörterbuch« nährt sich von Streit und wird dadurch munter.

Denn wie Bayle Alles betrachtete, kam ihm manches sehr Lustige vor. Albernheiten des menschlichen Geistes erschienen in Menge; und da sein Vortrag für die Fassungskraft Jedes gleichsam berechnet war, da sein Wörterbuch eine Welt von Lebensbeschreibungen berühmter Personen, in diesen unerwartete Schätze nützlicher Wahrheiten, Data sonderbarer Schicksale, mitunter auch Possierlichkeiten und die Lockspeise gewisser Stände und Lebensalter, Zoten, in sich hielt, konnte es ihm an Lesern fehlen? Keiner dieser Leser durfte das Buch durchlesen; er schlug seinen Artikel, einen berühmten oder berüchtigten Namen auf, über den er zu conversiren gedachte, las ihn, ehe er in die Gesellschaft ging, und hatte Stoff gnug, daraus oder darüber zu conversiren. So kam Baylens »Wörterbuch« in den ungeheuren Umlauf, den es zum Theil noch nicht verloren.

Zu wünschen wäre es, daß man es unsrer Zeit gemäß einrichtete, nicht etwa nur berichtigend die historischen Fehler und Anführungen, die Bayle nicht immer aus der Quelle schöpfte; weggethan sollten werden die Streitigkeiten, die die Zeit selbst begraben oder geschlichtet hat, so daß das Nützliche, das Gedankenweckende, Bayle's Geist in ihm allein dastände.Im Jahr 1779 ist Bayle's »Wörterbuch, im Auszuge neugeordnet und übersetzt, nach Wissenschaften abgetheilt. Erster Theil, für Theologen« erschienen; ich weiß nicht , ob es vollendet worden. Die Abtheilung an sich ist verständig. – H. [Ein zweiter Theil »für Dichterfreunde« war 1780 erschienen. – D.] Er hat die alten Krämpfe manches Gehirns gehoben und das angehende Jahrhundert gewaltig gelichtet.

Auch in den meisten seiner andern Schriften that Bayle dies; daß viele nicht mehr gelesen werden, kommt daher, daß wir über viele der albernen Vorurtheile selbst weg sind, gegen die er kämpfte. So z. B. seine Gedanken über die Kometen, über die Worte: »Nöthige sie, hereinzukommen« u. s. w.; sie haben sich entbehrlich gemacht, weil sie ihren Zweck erreichten. Und noch ist in ihnen eine Menge von Wahrheiten, Geschichten, Anekdoten, die sonderbare Falten des menschlichen Geistes und Herzens zeigen, sehr lesbar. Zweckhafte Auszüge aus ihnen für unsre Zeit brächten uns vielleicht eine Philosophie des gesunden Verstandes wieder.

Jeder sieht, daß der problematische, oft paradoxe Geist Bayle's nur ein Uebergang sei, vielleicht auch nur sein wollte. Wo das Beste neben dem Schlechtern, das Scharfsinnigste neben dem Seichten steht, muß der Leser unterscheiden können, oder er genießt mit Gutem Schlechtes. Wenn also Bayle gewiß auch Schaden gestiftet, wenn er, zumal unter den Großen, eine Gleichgiltigkeit gegen das Wahre und Falsche, jene Halbphilosophie, die an festen Grundsätzen verzweifelt, weil sie solche nicht gesucht hat, endlich gar jene taumelnde Zweifelsucht genährt hat, die bei wirkenden Personen sehr schädlich werden kann, so liegt die Schuld immer doch nur halb an ihm. Schon Pilatus frug: »Was ist Wahrheit?« indeß er sich wegwandte, ohne die Antwort zu erwarten; und Pilatus lebte lange vor Bayle.

Die harten Vorwürfe, die Baylen gemacht wurden, und die er größtenteils nicht verdiente: »er sei ein Sittenverderber, ein Atheist, ein Spötter alles Guten und Edeln«, sogar daß eine Secte, die an Allem zweifelt, nach ihm benannt ward;Von Crousaz' großem Folianten gegen Bayle haben wir Deutsche einen Auszug, von Haller aus Formey's französischem übersetzt und mit seiner Vorrede begleitet: Prüfung der Secte, die an Allem zweifelt. Göttingen 1751. Leider aber ist Haller's Vorrede zu kräftig. – H. was lehrt uns dies? »Treibe Niemand mit der Wahrheit Scherz und wolle mit ihr auf halbem Wege spielen! Sie will ganz gesucht, innig geliebt sein, oder sie rächt sich.« Das Unrecht, das Bayle Andern that, ward ihm mit gehäuftem Unrecht vergolten.

Bayle's achtungsvollster Gegner war Leibniz, dessen »Theodicee« er aber nicht erlebte; schwerlich würde auch sie ihn überzeugt haben. Noch jetzt, wer Bayle liest, hat er auch Lust, die »Theodicee« zu lesen?


Ungerecht aber wäre es, wenn man diesen scharfsinnigen Denker blos als Zweifler oder als streitenden Dialektiker betrachtete; seine Fehler selbst weisen auf eine höhere Stufe des menschlichen Geistes. Einen neuen, einen Anti-Bayle rufen sie gleichsam mit Macht hervor. Schenke ihn uns das neue Jahrhundert, wie Jener als ein streitender Riese im vergangenen hervortrat und dasselbe beinahe ganz durchherrschte.

1. In der Geschichte menschlicher Bemühungen und Gedanken, was soll ein Wörterbuch, das an einige Namen nach Buchstaben des Alphabets geknüpft ist? Nach Zeiten und Völkern ordnen sich Wissenschaften und Sprachen, Erfindungen und Charaktere. Nicht anders als in dieser fortgehenden Haltung von Licht und Dunkel kann die Geschichte des menschlichen Verstandes, seiner Verdienste, Wirkungen und Hindernisse, nicht minder jedes Einzelnen an seiner Stelle geschätzt werden. Das Buch der Zeiten ist nicht nach Buchstaben des Alphabets oder nach Fehlern Moréri'sEine fast Jean-Paul'sche Anspielung auf das Wort des Menage über Louis Moréri's Grand dictionnaire historique: »qu'il y a beaucoup de fautes«. – D. geordnet. In Bayle blättern wir wie in zerstreuten Sibyllenblättern.

2. Mit jedem Denkenden über jede seiner Meinungen streiten, ist weder der Weg zu Erforschung dieser Meinung, noch zu Besitznehmung denkender Charaktere. In diese sich zu versetzen, als ob jede Meinung uns selbst gehörte, dies ist die unerläßliche Pflicht eines Geschichtschreibers, zumal der Geschichte der Menschheit; die Fähigkeit sowol als der Trieb und Wille dazu sind sein Genius, ohne welchen er nichts vermag. Wie sich der Dichter jeder Gattung, in welcher Charaktere sprechen und handeln, von Aesop an bis zu Sophokles und Homer in jeden dieser Charaktere setzt, ihn sprechen und handeln läßt, sich aber vergißt und verleugnet: so und noch angelegentlicher der Geschichtschreiber der Menschheit; denn er ist Richter. Er darf keiner Meinung Unrecht thun; nicht entzweien muß er die Streitenden wollen, sondern vereinen. Nie gab's eine redliche Meinung, die ganz falsch, vielleicht selten eine, die ganz wahr war; im Sinne Derer, die sie hatten, war jede wahr; sie drückten sich nur unrecht aus oder waren getäuscht. Diese Täuschungen aufzulösen, nicht zu vermehren, ist Zweck der wahren Weltweisheit; Secten zu vereinigen, in allen das Wahre zu finden, das sie gedacht haben mochten, wenn sie es gleich nicht sagten, dahin ging Leibniz' große Absicht. Die künftigen Jahrhunderte müssen diese Absicht fördern; denn alle menschlichen Meinungen belebt ein Geist der Menschheit.

3. Vollends die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch setzen, ist ein kindisches Werk, so künstlich man es treibe. Ihr Amt ist ja eben, rein zu vernehmen, Alles zu vernehmen und nur dann zu richten. Das Non liquet (Es ist nicht klar) ist ebensowol ihr Ausspruch als das entscheidende Ja und Nein. Wer aber immer »Es ist nicht klar« aussprechen wollte, wäre kein Richter, wie eine Vernunft, die nimmer vernommen haben will, keine Vernunft ist. Zwischen ihr und dem Glauben einen ewigen Streit zu errichten, ist ebenso jugendlich gedacht; endlose Disputationen der Art sind nur Sachwalterkünste, nicht Aussprüche des Richters. Indem ich meinem Gesicht traue, muß ich ebensowol Vernunft gebrauchen, als wenn ich meinem Ohr glaube; in beiden weist mich die Vernunft auf Vernehmung des Sämmtlich-Vernehmbaren. Nur weil bei dem, was das Ohr mir bringt, die Harmonie des Ganzen schwerer zu finden, das Unsichtbare und Vergangene schwerer in die Gegenwart zu setzen ist, so wird, wie bei allen Gerichtsfällen dieser Art, das Urtheil zu finden schwerer. Welche Schwierigkeit aber nie die Wage des Rechts und der Wahrheit ändert, diese hangt über Jupiter's Haupt; wenn seine Rechte sie führt, ist auch er der Gerechtigkeit Diener. Sehr natürlich also, daß alle diese Disputen zwischen Vernunft und Vernunft, zwischen Vernunft und Glauben, die zu Anfange des Jahrhunderts viele Bände füllten, jetzt abgethan sind. Kein menschlicher Glaube schließt die Vernunft aus, aber die Vernunft, die als Richterin ohne vernommene Sache nichts ist, horcht dem Glauben.

Bei seiner Streitsucht von außen war Bayle in sich ein menschenfreundlicher, ruhiger Charakter, das größte Geschenk, das die Natur Denen, die sie zu Opfern der Wahrheit bestimmt hat, gewähren konnte. Bequemlichkeiten des Lebens genoß er wenig, und er vergaß sie. Nur über Kleinigkeiten können sich Menschen ereifern und außer Athem laufen; die großen Angelegenheiten der Menschheit, selbst wenn sie Streit und Verfolgung erregen, gebieten und gewähren Ruhe der Seele. Zu Duldung verschiedener Religionsmeinungen hat Bayle durch seine Schriften viel beigetragen; durch sie öffnete er nämlich das große Panorama der Welt, eine Wiese, auf welcher vielerlei Blumen blühen. Auf ihr ward das kleine Kräutchen, Bayle, außer den großen Stürmen des Schicksals von vielen, besonders nachbarlichen Disteln gereizt; er mußte also für die Duldung und Wartung vieler Kräuter auf Einer Wiese reden und schreiben. Ist keine Blume Amerika's, die nach ihm Bayliana genannt werde?


Beilagen.
Ueber Zweifelsucht und Disputirränke.

Der Zustand des Zweifels spricht sich in seinem Namen aus; ein zwiefacher Fall liegt vor, der so und anders sein kann; zwischen beiden steht der wählende Geist mitten inne und ist gleichsam getheilt. Entschließt er sich, so giebt er Beifall; der Zweifel ist verschwunden. Im Erkennen und Handeln tritt dieser Zustand täglich, ja augenblicklich ein, ohne daß wir ihn bemerken. Offenbar ist er aber nur ein vorübergehender Zustand. Die Wage schwankt, damit sie in Ruhe sicher zeuge. Gehend heben wir den Fuß, damit auch der andre sich hebe; nur so kommen wir weiter. Mit aufgehobnem Bein, wie der Kranich, zweifelnd an einer Stelle zu stehen oder zu drohen, daß wir das andre wol auch niedersetzen möchten, wenn wir nur dürften, ist ein peinlicher Zustand. Und auf einem Fuß stehen wir doch. Auch der entschlossenste Zweifler besitzt sein Ich, aus und mit welchem er entschlossen zweifelt, wenn er es auch seiner Meinung nach nur träumend besäße. Sein Traum hat Wirklichkeit in sich, sonst könnte er nicht zweifeln.

Die also, was seiner Natur nach vorübergehend ist, zum Zweck der Menschheit, zu ihrer letzten Permanenz machen, täuschen sich und Andre. Die hohe Gemüthsruhe, die sie dem Zustande des Zweifelns aneignen, ist Gleichgiltigkeit, Untheilnehmung an Einem und dem Andern, die nur bei höchst gleichgiltigen Dingen Seligkeit sein kann. Sobald ich Theil nehmen muß und nicht weiß, woran ich Theil nehmen soll, wird Zweifeln ein quälender Zustand. Zuerst zerrt er hin und her; er zerreißt die Seele, bis er sich in jene ohnmächtig verzweifelnde Schwindsucht, einen Mißglauben an aller Wahrheit, oder in einen tollen Entschluß endet. Ungeduldig fahren die langen, bangen Zweifler am Ende blind zu und werfen sich dem Ersten dem Besten, d. i. dem Schlechtesten, in die Arme. Das ängstige Vieh rennt ins Feuer; der Schwindler stürzt in den Abgrund hinunter. Der übertreibende Pyrrhonismus hat sich meistens mit dem albernsten Dogmatismus gepaart oder in ihn verloren.

Eben die Unbehaglichkeit, die die Natur an den wankenden Zweifelzustand geknüpft hat, soll uns antreiben, ihn zu enden. Wer mag sich ewig rütteln, schaukeln, zwicken oder gar prellen lassen, hieher und dorthin, auf und nieder? Oder wer wollte immerhin ein Kind bleiben, das unter dem Wiegenliedchen »Lullabei hin! Lullabei her!« die Aeuglein schließt, bis es einschläft?

Außer wenigen ächtruhigen Menschen, die Weise, nicht Zweifler genannt werden sollten, waren die permanenten Endzweifler, wenn sie diese Profession nicht Disputirens halber oder aus stolzer Keckheit trieben, zarte, schwächliche, kranke Leute. Sie ließen die Wahrheit nicht an sich kommen; auch in die Ferne riefen sie wol, wie jener Zärtling Dem, der ihn sonst gekitzelt hatte und jetzt in der Ferne Bewegungen machte: »Weh! Du kitzelst mich!« Oder bei ängstlichem Gemüth, über welche Kleinigkeiten des Zweifels haben sich Menschen nicht lang und immer oder in wiederkehrenden Paroxysmen mehr als zu Tode geängstet! Lese man Adam Berndt's »eigne Lebensbeschreibung«,Leipzig 1738–1745. – H. [Drei Bände. Berndt, wegen seiner Neigung zum Katholicismus als Prediger suspendirt, starb 1748. – D.] Haller's »Tagebuch«, und so viele Tag- und Stundenbücher geprüfter Kinder Gottes, die Satan bald hier, bald dort zupfte. Denke man an die Zweifel- oder Angstzustände seines selbsteignen Lebens. Oft lag uns ein Strohhalm im Wege, über den wir nicht hinaus konnten; ein Bächlein dünkte uns der Ganges. Oder unser Rücken war von Glas, daß wir uns nirgend anlehnen konnten. Plötzliche Nothumstände allein sind vermögend, den kranken Weichling aus seinem unseligen Mißtrauen zu wecken; nur durch Thun kann der Mensch von der unglücklichen Nichtsthuerei, die man Vernünfteln, Grübeln, Zweifeln nennt, befreit werden. Im Geschäft selbst sind ewige Zweifler die beschwerlichsten Geschöpfe; in der Unterweisung zum Geschäft sollte man sie ebenfalls meiden. Eine leere Wiege zu wiegen, hält der Landmann für Unglück bringend; gewiß ist es Unglück, seinen eignen und fremde leere Köpfe ewig zu wiegen. Nur vornehmen, reichen, müssigen Menschengestalten ist's erlaubt, von dem, was wahr und auch nicht wahr sein möchte, zwiefach zu träumen, nachdem sie sich auf die eine oder die andre Seite legen. Nur Buridan's Esel ist's erlaubt, zwischen zwei gleich reichen und blühenden Wiesen als ein philosophischer Zweifler für Hunger zu sterben.

Gehe man die Lebensgeschichte der berühmtesten Zweifler durch; wenn es nicht scherzhafte Gleichgiltige, wie Montaigne, oder muntre Disputanten, wie Bayle, waren, so ist bei ihnen ein überzärtliches Gefühl für Ehre, Ruhm, Auszeichnung, Pünktlichkeit oder ein hypochondrisches Mißtrauen auf sich und Andre, zuletzt auf den Menschenverstand selbst Symptom ihrer Krankheit. Weil sie so oft betrogen wurden und öfter noch sich selbst täuschten, trauten sie zuletzt Niemand. Bei Andern hingegen war Zweifelei der unseltne Zufall, den man »Verrückung des Verstandes in einem Punkt« zu nennen pflegt. Den größten Männern, auch Schriftstellern, ist dieser bekannte Zufall begegnet; oft war dieser Punkt der Verrückung sogar die Seele ihrer Werke, ihr Stachel zu den größten Thaten. Andre hatte eine übelverdaute Belesenheit um ihr Urtheil gebracht; über den vielen Meinungen vieler Köpfe, die sie lasen, hatten sie den ihrigen verloren. In allen diesen Fällen ist der Skepticismus nicht als eine Heldentugend auszurufen, sondern als eine menschliche Schwachheit zu bedauern. Wer preist den Kranken glücklich, der sich vor dem gesunden Menschenverstande scheuen zu müssen glaubt?

Descartes empfahl das Zweifeln als die erste Stufe und Probe eines philosophischen Geistes; was hieß ihm Zweifel? Entsagung ungeprüfter Autorität, sorgfältiges Forschen, eigne ernste Ueberlegung. Nichts weiter; denn er selbst behauptete viel. Alles Ueber- und Zerlegen hat endlich Darlegung, dargestellte Wahrheit zum Zweck, sofern sie sich dem menschlichen Geist, begabt mit menschlichen Organen, darstellt. Der Natur eine Täuscherei mit unsern Sinnen und unserm Verstande Schuld geben zu wollen, ist selbst eine müssige Täuschung, die Alles zuletzt zum ekelhaften Spiel macht. Statt Deine Sinne in ein Spielgefecht gegen einander, die Vernunft in einen Kampf mit ihr selbst zu verflechten, lerne Vernunft und Sinne gebrauchen, d. i. diese durch jene miteinander zu verständigen, menschlich zu ordnen. Außer- und übermenschliche Wahrheit finden zu wollen,

To fly at Infinite, and reach it –»Zum Unendlichen aufzufliegen und es zu ertappen«. – H.

ist eine Ekstase, die, wie jede Ueberspannung, Schwäche nachläßt – eine Schwäche, die man denn (die Philosophen geben auch ihren Krankheiten gewöhnlich Ehrennamen) philosophische Kälte, Apathie des Weisen u. s. w. zu nennen pflegt, gebaut auf die Vernunftverzweiflung.

Eine böse Brut hat der Zweifel erzeugt, die Disputirränke. Wo sie Redekünste, wie zu Athen, oder Spiele des Witzes sind, wie in der gesellschaftlichen Unterredung, mögen sie gelten; da zeigen sie sich wenigstens in sinnreich-lustigen Gestalten. In ernsten Dingen aber, zumal in Religionsstreitigkeiten, sind sie unförmliche, obwol vielgelenkige, schlaue Zwerggeschöpfe, dem Kessel der Hekate entronnen, oft mit Zähnen und Klauen gewaffnet. Ihre grausamen Scherze hatte Bayle in Frankreich erlebt; er sah sie um sich, und er verzieh sich selbst manche Fechterstreiche im Felde der Wahrheit. Die Fechtkunst mag ein gutes, Manchem ein nöthiges Studium sein; nur werde Niemand aus Profession und lebenslänglich ein Fechter. Ränke gehören nicht ins Gebiet der Wahrheit; wer sich an sie gewöhnt, verliert zuletzt jeden reinen Begriff des Verstandes.

Komme jedem Viertheil-Jahrhundert ein kleiner Bayle zu Hilfe, der das Fuhrwerk des menschlichen Wissens entstäube oder, wo sich der Unrath festgesetzt hat, entklumpe; nur mögen diese kleinen Bayles sich nicht Herrschaften im Fuhrwerk selbst dünken. Des großen Bayle Schriften wollen wir, wie Ulysses einst die Welt, durchwandern. Dieser lernte vieler Menschen Sinn und Gebräuche kennen, wußte eine Kalypso und Circe, Alcinous' Hof und den göttlichen Schweinhirt zu schätzen und zu gebrauchen; immer aber war sein Blick auf Ithaka gerichtet. Dies war eine kleine felsigte Insel, aber sein Vaterland, sein Eigenthum, wo Vater und Sohn und Gemahl seiner harrten. Unser Ithaka sei ein kleines Ländchen fester, errungner Wahrheit!


                        Entschlüsse.

Wolan, mein Geist! Jetzt, da Du munter bist,
Bestimme, was Dir werth und nützlich ist;
Laß Blöde sich im Alter erst befragen!
Kehrt doch der Tod auch bei der Jugend ein;
Ein Tag kann Dir so werth als Jahre sein;
Was ist ein Jahr bei mißgebrauchten Tagen?

Entflieh dem Streit, der sich am Glauben nährt,
Der fürs Gesetz sich dem Gesetz empört,
Sich viel vermißt, um gar nichts auszuüben.
Vertraue fest, daß ein wahrhafter Mann,
Den Ordnung führt, nur selten irren kann;
Wer Frieden liebt, wird nie verkehrt getrieben.

Dem Schönen, das die ganze Welt Dir zeigt,
Geh spähend nach, bis es Dein Trieb erreicht.
Vornehmer Geiz! So muß man Schätze häufen!
Schwingt sich zu Gott Dein tiefes Lob empor,
Dann stelle Dir erst alles Schöne vor;
Nie kannst du Gott Dir allzu schön begreifen.

Verlasse nie die Kette der Natur;
An jedem Ring strebt jede Creatur
Zum Allbestand mit andern um die Wette.
Doch schlummre nie bei einzeln Ringen ein;
Dein Ruhplatz soll nur bei dem letzten sein,
Den Gott selbst hält, der Herr der ganzen Kette.

Die größte Pein fließt aus uns selber her.
Zufrieden sein, ist lange nicht so schwer,
So schwer es ist, zufrieden werden wollen.
Kein träger Wunsch macht blöde Krämer reich;
Des Menschen Kraft ist seinem Willen gleich,
Im Fall er sucht, was Menschen suchen sollen.

Muth wohnt nicht nur da, wo man blutig kriegt;
Wir kämpfen All'; wer nie verzagt, erliegt,
Kann leicht so viel und mehr als Cäsar leisten.
Da wahre Treu' die Tugend ganz verehrt,
Und Tapferkeit zur Tugend mitgehört,
So stehe fest; denn Hoffnung stärkt den Dreisten.

Zween meide so, wie man der Pest entweicht,
Erst einen Held, der vor dem Tod erbleicht,
Als Freigeist prahlt und Lastern sclavisch fröhnet:
Dann den Zelot, der jauchzend Ketzer macht,
Die Tugend rühmt und bei sich selbst verlacht,
Der nie dem Recht, als am Gerechten, höhnet.

Gelehrtheit ist stets schön, nicht immer gut;
Gut ist sie, wenn sie Gutem Vorschub thut;
Ihr höchster Ruhm hängt am gemeinen Nutzen.
Was blos ergetzt, laß für die Schwachen stehn!
Ist an sich selbst gleich jede Wahrheit schön,
Ein Tänzer nur mag sich beständig putzen.

Gebräuchen, die des Haufens Eitelkeit
Sich nöthig macht, entziehe Kraft und Zeit;
Wen könnte doch sein roher Tadel schänden?
Sein stärkstes Lob ist viel zu mangelhaft;
Des Menschen Zeit und seine Lebenskraft
Sind zu gering, um sie noch zu verschwenden.

Dir selbst geneigt, sei dem Gewissen treu,
Den Obern hold, doch ohne Schmeichelei,
Und lobest Du, so sei's nie unbedächtlich;
Sei hold der Kunst, noch mehr des Weisen Freund,
Dem Laster gram, sonst keines Menschen Feind,
Nur sei Dir Der, der Wahrheit drückt, verächtlich.

Verachte selbst des Frevlers Raunen nicht;
Doch wo Dein Herz für Deine Thaten spricht,
Da werde nie dem Neide niederträchtig.
Die Menschheit ist noch nicht so gut bestellt,
Daß ächt Verdienst auch allgemein gefällt;
Was Jeder rühmt, ist allemal verdächtig.

Wer meist gesund, bei Armuth nicht im Bann,
Sich selbst besitzt und Narren dulden kann,
Ist so beglückt, als Menschen werden können.
Wer Weisheit rühmt und gleichwol mehr begehrt,
Ist ihr noch fremd und ihrer auch nicht werth.
Wer wird bei Brod den Thieren Spreu mißgönnen?

Das Schicksal theilt die Gaben weislich aus:
Dem Fleiße giebt es Brod und Deck' und Haus,
Den Armen Kraft, den Schwachen Ehrenplätze.
Ein dankbar Herz ist nur des Weisen Theil;
Stand, Wollust, Gold sind oft für Thorheit feil;
O theurer Lohn für gar zu schlechte Schätze!

Stellt Dich das Glück auf einen Marmorgrund,
Wird Qual und Noth Dir nur an Andern kund,
So schau geneigt, nicht stolz auf sie hinunter!
Kehrt sich das Glück, so ist ein einfach Tuch
Dem, der sich lebt, für Andre gut genug;
Ihn macht sein Geist, ein Kleid die Thoren munter.

Bezwinge die zu starke Leidenschaft
Und lege dann die da gesparte Kraft
Dem Opfer zu, das Du gebückt entzündest,
Wenn Du den Geist, der alle Welten füllt,
Sich immer neu gestaltet und enthüllt,
Im Menschen ihn, in ihm am Schönsten findest.

Gieb jeden Tag der Welt den Abschied hin,
So wird der Rest Dir immer zum Gewinn
Und keine Zeit sich ungebraucht verlieren.
Aufs Leben sei, nicht auf den Tod bedacht;
Der Rath gewußt, als er Dich hergebracht,
Hat Rath genug, Dich weiterhin zu führen.

                                              Withof.Nach der ersten Ausgabe seiner Gedichte, Dortmund 1755. In der letzten (Akademische Gedichte, II. 112) ist das Stück sehr, doch nicht zu seinem Vortheil verändert. – H. [Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 456 f. Der dunkle Vers Strophe 7, Z. 6 heißt in der zweiten Ausgabe: »Dem Rechte dient und am Gerechten höhnet«. – D.]



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