Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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5. Früchte
aus den sogenannt goldnen Zeiten
des

achtzehnten Jahrhunderts.

Fortsetzung von oben S. 699.


15.In der Adrastea steht irrig »10«. – D.

Von der komischen Epopöe
als einem
Correctiv des falschen Epos.

Ein Fragment.

B. Von der komischen Epopöe halten Sie also nicht viel.

A. Wenig, wie von Allem, was den Geschmack am Großen mindert und dies selbst herabwürdigt.

B. Wenn das Große aber eine falsche Größe und der Geschmack daran ein falscher, ja ein schädlicher Geschmack wäre? Bedenken Sie, wie viel schuldloses Blut die Raserei der Kreuzzüge gekostet, wie abscheuliche Verfolgungen und Verwüstungen der blinde Religionseifer angerichtet!

A. Den überzeuge man, man belehre ihn eines Bessern!

B. Ja, belehre! überzeuge, dem es um Belehrung gar nicht zu thun ist, der in Höhlen des Betruges, hinter Wällen alter mißverstandner Worte, mit heiligem Schild' und Speer der Bosheit, der Verleumdung gerüstet, mordet und tobt! Keiner Pfeile achtet er mehr als etwa des Spottes oder der Verachtung.

A. Kaum auch dieser; mich dünkt immer, die Besserung müsse von der Belehrung ausgehn, entweder in Worten oder durch Beispiele, am Sichersten durch beide. Hätte Fénélon gegen das falsche Epos, das zu seiner Zeit, unter Ludwig XIV., im höchsten Brauch war, holländische Scherze oder englische Sarkasmen entgegensetzen wollen, was hätte er gefruchtet? wie viel mehr hätte er sich und der guten Sache geschadet? Statt dessen, wie es sein großes und edles Herz gebot, setzte er für seinen Prinzen, den künftigen Thronfolger Frankreichs, den »Telemach« auf, gleichsam ganz auf seinen Leib gegossen, den Schwächen seines Temperaments, den Lastern seines Zeitalters angemessen und angeeignet. Er schrieb ein Buch, das, als es im Jahr 1701 wider seinen Willen und zu seinem großen Verdruß öffentlich erschien, ganz Europa las. Das ganze vergangene Jahrhundert hat es gelesen, das Epos, das Terrasson mit Recht das nützlichste Geschenk nennt, das die Musen der Menschheit je geschenkt haben; »denn«, sagt er, »könnte das Wohl des Menschengeschlechts aus einem Gedicht entspringen, entspränge es aus diesem.«

B. Könnte! Eben hieran liegt es. Das Jahrhundert hat den »Telemach« gelesen, bewundert, gepriesen, gute Menschen haben ihn mit Wärme empfunden; bis zum Lächerlichen dagegen setzten die Nachahmer Ludwig's ihre Staats-, Kriegs-, Hofgrundsätze fort und verharren in solchen, wenn jugendlich ihnen gleich der »Telemach« eingebläuet würde. Dagegen Salz eingerieben, werther Herr, beißendes attisches Salz!

A. Ich fürchte, es widert, es erbittert, ohne zu heilen.

B. So hilft es Andern. Sagen Sie, Freund, wenn in der ganzen Natur Alles an zwei Polen hängt und durch entgegenstrebende Kräfte besteht, wäre es in der moralischen Welt und im höchsten, feinsten Punkt derselben, der Tendenz im oder zum Epos, anders? Wenn so manches Heer Mörder, Räuber, Bösewichter nach Orient zog, um das heilige Grab zu erobern, einen Splitter des Kreuzes zu erhaschen u. s. w., sollte einem Hüon der Zug dahin nicht erlaubt sein, dem Sultan einige Zähne auszubrechen und von der Seite her ihm seine Tochter zu entführen? Bei jener Heldenthat waren Engel und Heilige interessirt, bei dieser erschien Oberon, und alle Welt tanzte.Im fünften Gesange von Wieland's »Oberon«. – D.

A. Während der Kreuzzüge hätte das Märchen gesungen werden mögen, dennoch hätten sie fortgedauert. Die Wuth zu ihnen erlosch durch andre Mittel als durch Märchen.

B. Ganz verächtlich, bitte ich, doch diese auch nicht zu halten. Wer brachte, nach dem einstimmigen, selbst bedauernden Geständniß der Spanier, den Geschmack an Ritterromanen nieder als der Spiegel aller Ritter und Ritterromane selbst, »Don Quixote de la Mancha«? Was keine Belehrung würde ausgerichtet haben, richtete ein Buch aus, das ich für die erste aller komischen Epopöen Europa's halte. In Don Gerundio, im Guzman d'Alfarache, Lazarillo u. s. w. hat man dies Salz an andern Gegenständen versucht; leider aber war Cervantes gestorben!

A. Arm und elend, wie es der komischen Epossänger fast gewöhnliches Schicksal war.

B. Leider! und doch nicht aller. Rabelais, Scarron, Boileau, Voltaire, in England Pope, Swift, Arbuthnot, Garth u. s. w. starben doch eben des Hungertodes nicht, dem zuweilen nahe die verdientesten Epossänger lebten und starben. Erinnern Sie Sich der Schicksale Camoens', der letzten Umstände Ercilla's, des Lebens Ariosto's, Tasso's! Jene starben wenigstens mit dem Bewußtsein, die von ihnen gesungene nutzreiche Wahrheit mit dem Hungertode besiegelt zu haben. Aber was thun Schicksale, Verfolgungen, Belohnungen zum Werth einer That? Lasset ein Werk verbrannt, seinen Urheber gespießt werden, wenn es, und wäre es erst nach hundert Jahren, Frucht bringt, so segnen wir die Asche beider!

A. Welcher beiden? Der Werke und Dichter haben Sie zu ungleichartige genannt, als daß wir alle sie segnen sollten.

B. Jeden in seiner Maße. Um Rabelais' »Pantagruel« zu schätzen, müßten wir die Pantagruels seiner Zeit kennen, und noch kennen wir gnug davon, um diesen verlachten Dunst zurückzuwünschen. Die französischen Travestirer der Alten gebe ich, und doch nicht ganz, auf; denn hat nicht, ihnen entgegen, blinde Autorität, pedantische Großsprecherei nach Mustern der Alten lange, zu lange vorgewaltet? Die Scriblerusse, sind sie denn ausgestorben? werden sie aussterben?

A. Und doch ist Scriblerus längst geschrieben.Schon 1783 und 1784 erschien »Matth. Scriblerus' Leben, Werke und Entdeckungen, eine Satire über Mißwendungen in der Wissenschaft«, aus dem Englischen. – D.

B. Kein Wald fällt von einem Streich. Kühne Männer arbeiten weiter. Die Intoleranz, den schwärmerischen Verfolgungsgeist, gegen den Voltaire anging, halten Sie doch für kein geringes Uebel?

A. Wenn er nur reineren Gemüths daran gegangen wäre!

B. Was Gemüth? Wer die Blase aufsticht, unter der es eitert, er sei Freund oder Feind, hilft dem Kranken, wenigstens lindert er seine Schmerzen, wenn die Wunde auch noch so lang eitern möge.

A. Voltaire! Nun, so gebe ich Ihnen Swift und Pope, geschweige Garth und den guten Arbuthnot, gar, wenn Sie wollen, Churchill und Peter Pindar gern zum Besten. Was kümmern uns Deutsche überhaupt die fremden Thorheiten und Laster?

B. Eben diese gleichgiltige Gutmüthigkeit, d. i. duldsam-träge Eselei, ist unser Grundfehler. Wir zeichnen an, womit sich andre Nationen beschäftigen, raisonniren etwa auch für und wider, und damit gnug. Zogen wir Deutsche denn nicht mit in den Kreuzzügen? Noch mehr, wir ließen uns von allen Mitziehenden narren und foppen, wir. Kein Dichter rächte die Schmach, am Wenigsten bis zum Siege; noch jetzt liegen unsre Kreuzzüge in der Asche begraben. Tobte unter uns der Verfolgungsgeist, die Bekehrungswuth, die Schwärmerei nicht? Wir erlitten den dreißigjährigen Krieg mit Wunden und Stößen von allen Seiten, in tiefer Erniedrigung gegen alle Nationen.

A. Soll ich fortfahren? Und in dieser niedrigen Unterwerfung, sogar über sie waren wir stolz! bettelstolz! Im spanischen Successionskriege, wie ward der Prinz von Asturien, wie Marlborough besungen! wie die Geschlagenen bei Höchstädt angefahren! angefahren und dennoch verehrt, nachgeäfft, gefürchtet! Bei einer vielgetheilten Nation wie die unsrige konnte es nicht anders werden. Alles Ausland verehren wir und machen komische Epopöen, Stadt gegen Stadt, Staat gegen Staat, nur gegen einander.

B. Und doch haben wir so wenig Secchia's rapita's.»Eimerraub«, das bekannte Gedicht von Tassoni. In der Adrastea stand fälschlich repata's. – D Die großen und kleinen Blasen unsers Vaterlandes, wer ist, der sie aufzustechen begehrt? Im schmerzhaften Torpor fehlt uns guter Humor; friedlich fressen ihre Geschwüre. Lesen Sie des Eremita,Von Daniel Eremita († 1613) gab Grävius zwei lange Briefe, von denen einer eine Reise durch Deutschland beschreibt, nebst zwei Reden und Anderm 1701 heraus. – D. lesen Sie Pöllnitz' Briefe,Lettres et mémoires avec nouveaux mémoires de sa vie et la relation de ses premiers voyages (1735). – D. wie es zu ihren Zeiten in Deutschland stand! Dagegen krähte kein Hahn, man lobte und rühmte. Deutschland schwamm im falschen Epos.

A. Den man damals den Lohensteinischen Geschmack hieß, ja aber bald würdigte.

B. Nicht eben bald. Und daß man nach Luther, Opitz, Logau in diesen Geschmack sinken, daß man so lange darin anbetend verharren konnte! Der Erste, der, obwol mit einer schartigen Lanzette, dies Geschwür tapfer angriff, war kein Deutscher, kein Professionsgelehrter. –

A. Wen meinen Sie?

B. Wernicke, seinen Vornamen weiß ich selbst nicht, seine Lebensumstände noch minder. Aber ein Preuße soll er gewesen sein, als königlich dänischer Resident und Staatsrath soll er in Paris gelebt haben.Christian Wernicke starb um 1720. – D. Sodann hat er in Hamburg gewiß gelebt; das zeigt sein Heldengedicht Hans Sachs,Es erschien mit seinen Gedichten 1704 zu Hamburg. – D. das er gegen den damals blühenden Postel machte. Vorbericht und Noten zu seinen sogenannten Überschriften zeigen, wie viel er zu überwinden hatte, wenn er gegen diesen Armseligen, geschweige gegen den allverehrten Lohenstein schrieb. »Lohenstein«, hieß es, »sei dennoch ein verdienter Mann, unendlicher Gelehrsamkeit, Belesenheit, von erhabnem Genie« –

A. Und von einem sehr verdorbenen Geschmack, der Punkt, worauf es hier allein ankam –

B. Und den Wernicke mühsam auskämpfte, zumal ihm das Mechanische der Versification äußerst schwer ward.Dies erhellt, wenn man die Ausgaben seiner »Überschriften«, Amsterdam 1693, sodann Hamburg 1701, endlich die vollständige, die Bodmer (Zürich 1749) wieder auflegen lassen, mit einander vergleicht. Mühsam arbeitet er sich immer tiefer in Härten und Wortzwang. – H. Hagedorn, der feinste Richter, der sich ausdrücklich von Nachahmung seiner lossagt, kann ihm das Zeugniß nicht versagen:

»An Sprach' und Wohllaut ist er leicht,
An Geist sehr schwer zu übertreffen.«Hagedorn's »Moralische Gedichte«, Hamburg 1752, S. 242. – H.

Und dennoch mußte Wernicke gegen den Lohensteinischen Schwulst seinen Stachel fast dransetzen.

A. Was folgt daraus?

B. Nation- und zeitmäßig folgte daraus wenig. Als man Lohenstein und Hofmannswaldau verspottete, mußte derselbe Hagedorn bald sagen:

»Allein wie Viele sind von Denen, die Dich schmähn,
Zu metaphysisch schwach, wie Du sich zu vergehn.«Hagedorn's »Moralische Gedichte«, Hamburg 1752, S. 299. – H.

Erinnern Sie Sich des schlaffen, sinnlosen Geschmacks der Neukirch-, Besser-, Königischen Zeiten! Und dennoch waren diese Reimer gegen einander so grob; man wähnte die Poesie der Deutschen so hoch auf dem Königsthron, über alle Völker erhaben.

A. Das war von je her der Fall, schon zu Büchner's, zu Weise's, zu Uhsens Zeiten,August Büchner 1591–1661; Christian Weise 1642–1708; Erdmann Uhse gab 1742 seinen »Wohlinformirten Poet«, 1760 seinen »Wohlinformirten Redner« heraus. – D. und es urtheilten so selbst Die, die Griechen und Römer auslegten. Was folgt daher?

B. Daß uns Deutschen Geschmack zu haben sauer angehe und fast, den Meisten wenigstens, höchst gleichgiltig sei. Wir lieben den wasser- oder luftreichen Schwulst, vor Allen das selbstzufriedne, gedankenlose Epos. Von Stoppe's Fabeln zu Schönaich's »Hermann« – –

A. Setzen Sie noch hinzu, daß uns von dieser Wind- und Wassersucht weder Witz noch Spott heilen möge! Liscov spottete des Philippi, Lessing Gottsched's; wie manchen Philippi und Gottsched giebt es noch, hochverehrt! Wie 1700, so fand das Jahr 1801 den schwülstigen Lohenstein'schen oder jenen nervlos-schlaffen Geschmack, den ich den hundsföttischen nennen möchte, und befestigte ihn in Sonetten, Dramas, Epopöen, Romanzen auf dem Blocksberg-Parnaß der Deutschen. Seiten hinab kann man Wernicke abdrucken lassen, als hätte er gestern für heut geschrieben. Mit seinen komischen Epopöen, was hat Zachariä bewirkt? Ihretwegen hat sich gewiß kein Renommist, kein Stutzer geändert.Zachariä schrieb das erste komische Epos im Deutschen. Sein »Renommist« erschien 1744, dem sein »Phaëthon« und »Das Schnupftuch« folgten. – D. Also, dünkt mich, beweisen Sie mit dem Beispiel unsrer Nation selbst, wie wenig das komische Heldengedicht bessere.

B. Die Deutschen freilich. Wir bleiben, die wir waren; wenn man uns verlacht und auslacht, ja, wenn man uns verspottet und verachtet, danken wir unterthänig und lachen mit. O, kehre zurück, Geist Luther's, Waser's, Liscov's, Lessing's, oder darf ich Euch freundlich einladen, Cervantes, Butler, Swift, Fielding, vereinet Euch, unsrer Unempfindlichkeit wegen thut Eure Kräfte, Eure Launen zusammen, um uns den Lohenstein und Hofmannswaldau, die neuen Postel und Stoppe aus den Gliedern zu treiben!

A. Vergesset aber nicht, den weisen Horaz, den weisern Shaftesbury mit Euch zu bringen! denn ohne Grundsätze wird der feinste und gröbste Stachel nutz- oder kraftlos.


16. Das Drama.Als Fortsetzung von oben [Früchte etc. / Drama] von Herder's Sohn bezeichnet. Aber es sind die Blätter, welche Herder in das vierte Stück der Adrastea über den am Anfange des Jahres 1802 von Goethe auf die Bühne gebrachten »Ion« von A. W. Schlegel hatte einrücken wollen, jedoch zurücknahm, weil er mit Goethe und der Theaterdirection nicht in Streit kommen mochte. Vgl. die Briefe von Herder's Gattin an Gleim vom 1. März, an Knebel vom 6. Januar und 18. März 1802. – D.

Ein Fragment.

»Wie also? wenn wir das ganze griechische Theater hinüberpflanzten?« Wie? Mit Wurzel und Stamm? oder aus Sprößlingen und Zweigen? Auf die letzte Weise haben es alle gebildeten Nationen versucht, Franzosen, Engländer, Italiener. Leset sie, bemerkt die Schwierigkeiten und ihre darauf gewandte Mühe, lernt! Denn mit Wurzel und Stamm es hinüberzupflanzen, wäre ein Wunderwerk, wie noch keins geschah. Uns in jene Jugend der Welt, als wäre sie noch da, hinüberzusetzen, als lebten wir eben in Athen, als stünden Tempel und Götter noch vor uns da, dazu gehörte ein Wunderglaube.

»Wir schaffen Athen. In unsrer neugriechischen Dichtkunst pflanzen wir das altgriechische Theater aus dem Kern hinüber.« Glückzu! Aber

1. Das griechische Theater war Gesang. Dazu war Alles eingerichtet, und wer dies nicht vernommen hat, der hat vom griechischen Theater nichts gehört. Gäbe uns nun Jemand ein Stück, worin vom melodischen Silbenbau der Griechen und dessen Wirkung nichts zu vernehmen wäre, worin der Verfasser die Worte, die Klänge, selbst des Chors, die allein für die Musik eingerichtet waren, uns in langen Reden, in der taumelndsten Sprache, in der der Sprechende nie zu Athem, der Hörende nie zum Vernehmen kommt, zu hören gäbe: machte das Stück wol einen andern Eindruck als der Tanz Tolltrunkner, die ohne Musik tanzen und sich in mächtigen Perioden, in dithyrambischen Phrasen die Brust zerarbeiten?Die Aeußerung ist gegen Schiller's »Braut von Messina« gerichtet. – D. »Sprachen die Griechen wirklich also?« Glaube nichts davon! Es ist des Schriftstellers zusammengeraffte, der Musik entwandte Phrasensprache, eine Schulübung.

Wer kennt nicht die gänzliche Verschiedenheit des Gesanges und der Rede? Wer weiß nicht, wie Töne die Stimme erheben? wie Melodien den Ausdruck verständlich machen und umbilden? Roh also, unserm Organ zuwider in die tragische Gesangesart der Griechen tappen und sie zu einer widersinnig-deklamatorischen Rede machen, hieße dem Apollo in seine Leyer greifen, ihre Saiten zersprengen und mit den übrig gebliebenen Fäden umherrasen.

2. Das griechische Theater war ursprünglich gottesdienstlich. Aus Gesängen dieser Art erwachsen, behielt es seine alte Verehrung gegen Orakel, Götter, Heroen und alles Heilige bei. Mit Ehrfurcht wurden ihre Fabeln behandelt, mit Schonung die Flecken und Fehler darin entweder umgangen oder groß und mild ausgelegt. In Euripides' »Ion« z. B. der vom Apollo begangne Jugendfehler. Der Gott selbst schämt sich desselben; er getraut sich nicht, in dem ihm eigensten Tempel zu erscheinen; aufs Zarteste will er Alles gut machen und sendet die strengste, jungfräuliche Göttin, ihn mit den Sterblichen, die alle stark gegen ihn reden, anständig und über die Maße wohlthätig auszusöhnen. Sein Tempel, seine Pythia, sein Ion, Alles erscheint in angemessener Wohlanständigkeit und Ordnung.

Träte uns nun ein Verpflanzer vor Augen, der, dieses anständigen Gefühls ganz unkundig, uns den Gott selbst vorschöbe, wie er mit der frechsten Stirn in einer Glorie hervorspringt: »Me voici! l'auteur de ce charmant ouvrage bâtard; moi, le Dieu Phébus, grand génie! génie exemplaire!« während daß Vater, Mutter, Sohn auf Knieen vor ihm liegen und ihre Beschimpfung andächtig anhören – »König,« rufen wir Alle, »das erträgst Du? machst Dich nicht auf und packst den Unverschämten, der dies Dir vorsagt, Dir eine Frucht, wer weiß wessen, aufhänseln will und Dein Weib Dir als eine Entehrte verleidet? Mache Dich an die Behorcherin Pythia, die unächte Kinder hier im Tempel pflegt, reinige den Tempel!« Bei Euripides, selbst bei Euripides, Alles wie anständiger, sittlicher, schonender, Alles wie anders! Pflanzt Ihr so die griechischen Götter zu uns herüber, ihre Tempel werden leer bleiben und den Namen erhalten, den sie verdienen.

3. Die griechische Bühne, die wir kennen, feierte Athen. Dort war sie entstanden, dort blühte sie, bearbeitend in attischem Geschmack am Liebsten attische Fabeln, die sie, wie alles Fremde, auf die Herrlichkeit Athen's zurückführte. Wie hoch steht in ihnen Pallas Athene, der Areopag, Athen's Verfassung, Ruhm, Macht! u. s. w. Würde Euripides eine Fabel wie »Ion« gewählt haben, wenn er nicht damit einen Flecken ihrer alten Geschichte, daß Fremde über Athen geherrscht, mit dem glänzendsten Licht hätte überstrahlen und die Abkunft aller gebildeten Colonien der Welt, der Ionier, Dorier, Achäer u. s. w. aus Athen in dies glänzende Licht hätte stellen wollen? Dazu erscheint, dazu spricht seine Pallas Athene.

Gäbe uns nun Jemand einen »Ion«, wo der Fabel diese ganze Volkes-, Stadt- und Gebietsherrlichkeit entnommen, in ihr mißkannt wäre, an deren Statt aber eine unzüchtig-gehässige Tempelbetrugsgeschichte widerlich nackt da stünde, welch ein unattisches Schauspiel!

4. Die tragische Bühne der Griechen nahm ihre Fabeln aus vorhergegangenen harten und rohen Helden- und Königszeiten, mit stiller Freude der Zuschauer über ihr gegenwärtiges Glück, frei von solchen Tyrannen, Bürger Athen's zu sein. An diesen abgelebten Königsgräueln, Menschenopfern u. s. w. konnten sich die Leidenschaften wohlgefällig (μεϑ' ἡδονῆς) läutern. Auch die harten Begriffe vom Schicksal, das verhaßte Geschlechter unerbittlich bis zum letzten Umsturz verfolge, von Rachgöttinnen u. s. w. waren zur Zeit der blühenden Bühne sehr gemildert: als entfernte Donner hörte man sie jetzt, feierlich tönend, aber unschädlich.

Brächte man uns nun das alte rohe Schicksal, die Menschenopfer, die Erinyen, die Mutter- und Sohnsmorde unverständig wieder, Atreus kochte sein blutiges Gericht, Kalchas, Klytämnestra, Orest u. s. w. verübten die gräuelhaftesten Morde; oder man lobte gar das Tyrannenleben, »wie herrlich es doch sei, willkürlich gebieten zu können, reich zu sein, prächtig zu schmausen«, vorschmeckend, schmeichelnd lüstete man nach diesen Mahlen und priese diese Tyrannenschmeichelei an, gefällig führte man einen königlichen Vater auf, der seinem gefundnen Sohn, einem reinen heiligen Ion, sogleich den Königsrath gäbe: »Junge, jetzt bist Du ein Prinz, verzeihen mußt Du nicht mehr, sondern rächen, verfolgen, schmausen!« u. s. w.; und dies Alles nicht, den verderbten Stand zu charakterisiren, sondern in dumpfer Einfalt: wahrlich, eine treffliche Reinigung der Gesinnungen und Leidenschaften, dem Zweck der griechischen Bühne gerade zuwider, ebenso niedrig als verderblich!

5. Die griechischen Sitten sind nicht die unsern, zumal im Verhältniß der Geschlechter gegen einander. Sophokles brachte nach seiner bekannten Antwort über EuripidesΑὐτὸς μὲν ἔφη ποιεῖν (γυναῖκας) οἵας δεῖ, Εὐριπίδης δὲ, οἷαί εἰσιν. – H. [Arist. Poet. 25, wo aber nicht von Frauen, sondern von Charakteren überhaupt die Rede ist. – D. Weiber aufs Theater, wie sie sein sollten, Euripides, wie sie waren. Sein aber oder nicht sein, Weiber in einem gewissen Grad von Versunkenheit, mit solchen und solchen Flecken bedeckt, solche und solche Gräuel verübend, wollen wir nicht auf dem tragischen Theater; wir wollen das schwache Geschlecht in einer Häßlichkeit von Entschlüssen oder Erinnerungen nicht sehen, die uns alles Mitgefühl raubt. Brächte man uns nun Giftmischerinnen, Rachsüchtig-Tolle, Entehrte u. s. w. vor Augen, diese dazu mit einer eklen Nachschmeckerei gepflogner Wollüste, und sagte mit freier Stirn: »Das sind griechische Weiber!« – ohn' alle Schonung, deren Euripides selbst sich nicht entbrechen konnte, stellte man einen Sohn der Mutter gegenüber, die ihm Gift sandte, und die jetzt sein Bogen treffen soll: kein Grieche würde dergleichen Auftritte dulden! Ueberhaupt kann ein Ungeschmack, der, statt sie zu reinigen, Grundsätze und Gefühl verdirbt, mit welchem Namen man ihn auch falsch ehrend belege, bei ehrbaren Menschen beiderlei Geschlechts nichts bewirken als den alten Mönchsausspruch: »Ist das griechisch? So wird's nicht gelesen!«Graeca sunt, non leguntur. – H. Bewirke es ihn bald bei diesem neuen, unwissend- und frech-taumelnden Gräcismus!

»Aus Leidenschaften wird die Tugend geboren«, sagt Archytas;Die dem Archytas zugeschriebenen Schriften sind unächt. – D. »wiederum besteht sie auch mit ihnen, wie eine wohlklingende Modulation aus scharfen und tiefen Tönen, wie ein gefundes Temperament aus Hitze und Kälte, wie das Gleichgewicht aus dem Schweren und Leichten. Man muß also nicht Leidenschaften aus der Seele ausrotten wollen! dies wäre auch nicht nützlich; harmonisch zuordnen muß man sie dem Verhältniß dessen, was sich gebührt, dem Mittelmaße

Den meisten Neuern, scheint es, ist diese Wage entrückt, dieser Maßstab verschwunden; sie dichten, um Leidenschaften zu empören oder gar zu verunreinigen, nicht aber sie zu läutern und diese Läuterung zu vollenden. Wie hoch steht ein Drama, das in der kleinsten und größten Gemüthsbewegung diesen hohen, festen Punkt erreicht! Höchst befriedigt gehen wir aus demselben; wir fühlen, wie nach einer vollkommenen Musik. in unsrer Brust weise Stimmung, thätige Ruhe, Vollendung.

[Fußnote aus technischen Gründen in den Text eingefügt. Re] Hierauf folgen die Stellen aus Young »Ueber Gedanken und Rede« (Werke, I. S. 71), das Gedicht »Sterne« (eine frühere Fassung des Gedichtes »Das Gesetz der Welten im Menschen«, Werke, I. S. 171, vgl. daselbst S. 575) und zum Schlusse des Heftes der Anfang eines Gedichtes »Der Kampf«, das sich »von unbekannter Hand und einem ungenannten Verfasser unter den Papieren Herder's gefunden«. Der erste Theil besteht aus 50 Alcäischen Strophen, und vom zweiten finden sich 210 fünffüßige Jamben. Wahrscheinlich waren die Verse Herder zugeschickt worden. Das zweite und letzte Stück begann mit vier Gedichten. Zuerst stand das Gedicht »An die Wahrheit«, von dem der Herausgeber gar nicht ahnte, daß es eine Übersetzung von De Thou und bereits überarbeitet im siebenundvierzigsten der »Briefe zu Beförderung der Humanität« gedruckt sei. V. 1 lautet in der Adrastea: »Des Himmels Liebling«, V. 2 »Verhaßt der Erde, Schreckbild Wahrheit, Du«, V. 4 »sichre Zuflucht«, V. 5 »meinen verscheuchten«, V. 6 »Schritt«, V. 8 »Drückender Wahn«, V. 9 »von dem unredlichen«, V. 15 »Die wo auch unser Tritt ersinket«, V. 18 »blendendem«. Nach V. 20 folgt noch die Strophe:

»Er, nicht ein blindes, regellos waltend Glück,
Er, nicht des Schicksals rollende grause Hand,
    Beherrscht der Dinge Wechselformen;
        Edel und fröhlich gehorcht der Weise.«

V. 25 steht »Dem Rumeswerthen reichst«, V. 26 »rufst Du zum Licht«, V. 28 »Redliche Lipp' in«, V. 29 »Unwiderruflich«, V. 30 »Drei Schwestern löset auf, was«, V. 31 »heil'ge Stimme«, V. 32 »Richtend entschieden, es bleibt besiegelt«, V. 36 »für Alle billig«. Nach V. 36 steht die Strophe:

»Kein Glanz des Purpurs blendet das Auge ihm.
Der Würden keine strebet er bettelnd an.
    Kein niedriger Gewinn von schnöden
        Hoffnungen brausend umfängt den Geist ihm.«

V. 39 f. heißt es: »Wird ihre leicht bewegten Ohren Nie mit verderblichem«. Dann folgt die Strophe:

»Die Luft des Hofes wehet ihn nicht herbei.
Er kennt des Hofes süßes Geschwätze nicht.
    Noch opfert er die angestammte
        Freiheit dem Winke des argen Höflings.«

V. 44 schließt: »Beruf, sein innrer Lohn ihm«, V. 46 steht: »O Wahrheit, mit Dir komme Gerechtigkeit«, V. 48 »Weißen Gewandes und Du, o Einfalt«. V. 52 »und entschläft in Wahnsinn«, V. 53 »wie hebet, Flammen und Schwerten selbst«, V. 60 »und das Schiff ersinket«. V. 62 »stürze des Unthiers Wuth«, V. 63 »Das süßes«, V. 64 »Täuschend verspricht in Gestalt des Goldes«, V. 65 »Herab vom Himmel senke Dich Königin«. Auf diese Gedicht folgen »Germanien« (Werke, I. S. 195–197), »Berühmte Namen« (Werke, I. S. 85 f.) und die »Zuneigung der Volkslieder« (Werke, V. S. 21 f.); mit der Anmerkung: »Der Verfasser wollte einen Aufsatz über das deutsche Volkslied und den Charakter der Deutschen schreiben, dem diese Zueignung vorangehen sollte«. – D



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