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80.

Basel, 12./13. Jan. 1885.

Ich will diesen Brief wenigstens anfangen, nur damit meine Antwort auf den Ihrigen von Anfang Dezember nicht noch länger liegen bleibe. Abend um Abend wollte ich schreiben, aber die Mühe um meine Kollegien hielt mich bis nach 9 Uhr an der Arbeit und nachher bin ich zu müde. Haben Sie Mitleid mit mir; die wachsenden Jahre und das anstrengende Amt gehen immer weniger zusammen, ich muss aber herhalten, solange es irgend möglich ist.

Neues gibt es hier nichts, das Sie nicht durch Ihre Verwandten schneller und genauer erfahren. In Sachen des neuen Modelles kommen Sie auf Ansichten, welche sich gar nicht richtiger aussprechen lassen, als in Ihrem Brief ganz wildgewachsener Weise geschieht: von dem auf individueller Auffassung beruhenden idealen Charakter, der sich jedem einzelnen verschieden darstellt. Hierin liegt nämlich das grosse Geheimnis. In der Vittoria von Albano sah jeder, der sie malte oder modellierte, etwas Eigenes oder Anderes.

Auch auf Ihr Sujet für den Salon bin ich höchst begierig, da es nun einmal in Paris damit eine Sache auf Tod und Leben ist. Melden Sie mir, ich bitte recht ergebenst darum, in einigen Worten das Sujet, den Massstab und was sonst noch mitteilbar heissen mag.

Unser hiesiges Privatleben geht seinen gewöhnlichen Trott, und einstweilen bin ich froh über diesen milden Winter, dessen kältester Tag bis jetzt der 1. Dezember gewesen ist; seither hätte es ja mordiokalt sein können wie im Winter von 1879/80. Und doch ist es nicht allzumild wie in den letzten Jahren.

Meine Sonntagsgänge sind jetzt nur etwa dreistündig; ich habe in der linken Ferse seit einigen Monaten eine Anwandlung, welche Dr. O. für eine leise erste Mahnung von Gicht zu halten geneigt ist. Auch eine nette Aussicht. – Auf alle Sommerreisen wird jetzt verzichtet, wer weiss, ob mir der Doktor nicht im Sommer ein Bad verschreibt? Sonst setze ich mich an einen See für die drei bis vier Wochen, da meine Damen Bei denen Burckhardt zu Miete war. in Ferien gehen und ich also auch fort muss.

Durch mein Haus am Mühleberg Das Burckhardt aber aus Gesundheitsgründen nie bewohnt hat. (wie durch eine ganze Reihe) hat neulich der Grosse Rat eine Baulinie gelegt, welche grade die Hälfte davon wegschneiden würde. G. meint, dies sei für mich eher günstig, indem man mich vorkommendenfalls ganz und zum vollen Wert expropriieren müsste. Es kommt aber in hundert Jahren nicht dazu, und jene Baulinie hat nur eine ästhetische, imaginäre Schönheit für sich. Dergleichen gehört jetzt zum »Fortschritt«; wir wollen nun sehen, ob man in Wirklichkeit die Courage haben wird, die Baracken zu expropriieren, welche die Einfahrt ins Dalbenloch Das sog. St. Albantal. bis jetzt so bedenklich machten.

In die Oper gehe ich nicht mehr, der jetzige Kapellmeister hat mich zu sehr vertäubt durch »geniale« Willkür in den Tempi, womit er mir u. a. das erste Finale in Kreuzers Nachtlager verhunzt hat; Hilfe ist gegen ihn keine. Das kann man noch brauchen, dass solche nervöse Wagnerianer die ganze vergangene Kunst auf ihre Weise revidieren!


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