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30.

London, 8. Aug. 1879.

Die vierte Seite des Obelisken hat höchstens seither eine Zeile ergeben, und wieder eine rechte Insolenz, von welcher Kleopatra wahrscheinlich glaubte, es werde kein Mensch sie dechiffrieren können, aber ä ä! Mit Hilfe der Weisen des British Museum ergab sich folgender Sinn: »O du Eselsnachwelt, es braucht einer nur recht undeutlich zu schreiben, so hältst du ihn für weise!« – Auf diese Ohrfeige hin sind mir Lichter aufgegangen über die sogenannte Weisheit der alten Ägypter. Hätten wir uns bisher etwa in Sachen geirrt?

Heut abend bei der Rückkehr von Southkensington schlenderte ich wieder in der Nähe des Obelisken und geriet in die prächtige Promenade am sog. Embankment. Dort führte einst, als dies noch Ufer war, ein altes barockes Wassertor aus der Zeit etwa Jakobs I. an den Fluss hinab, und dies hat man nun, scheinbar tief versunken ins neue Gartenniveau, stehen lassen, und nun wirkt es mit seinen massigen Skulpturen ganz herrlich, und ich kann das Ding nicht genug ansehen. – Heute bei Westminster sah ich zum erstenmal genauer das erst seit meinem ersten Besuch erbaute, ganz riesenhafte Gesamtministerialgebäude, government office, wogegen Palazzo Farnese an Masse noch eine Hütte ist. Der Hof ist so gross als der des Louvre, und alles hat die pomphaftesten Renaissanceformen, und dies auf allen vier Seiten, Die dreifachen Seiteneingänge haben einen solchen Durchmesser, dass es sich gelohnt hat, Oberlichter über der Mitte zu konstruieren, deren Hallenbau das Auge aufwärts mit Staunen verfolgt. – Um was einer die hiesigen Architekten beneiden kann, ist: dass sie »alles derffen«.

Heute im Southkensington wieder einmal mit Michel Angelo heimlich Händel angefangen, wie fast immer, wo ich ihm begegne, unbeschadet allem Heidenrespekt, den ich vor ihm empfinde. Dieser echte, frühe, höchst merkwürdige Cupido ist eben doch auf der Motivjagd entstanden oder eingefangen worden. Höchst komisch ist ein etwa zweieinhalb Fuss hoher S. Sebastian, den er, wie fast alles, unvollendet liess, und dessen ganze unfertige Haut frappant aussieht mit den provisorischen Meisselhieben, wie der behaarte Mann, der sich vor einigen Jahren ums Geld sehen liess. – Dann denken Sie sich einmal: zu dem florentinischen Bacchus existiert hier, aus Draht und Wachs gefertigt, das von Michel Angelo vorläufig gemachte 1' hohe Skelett! – Es ist, als ob einem mit Gewalt die Illusion geraubt werden sollte; die flüchtigste Skizze einer lebendigen Figur kann man mit Vergnügen sehen, aber dieser Knochenmann als Kern zu einem künftigen Gott der Trunkenheit wirkt allegorisch schrecklich.

Nachts.

Ich war wieder im Majolika-Kaffeehaus Spiers and Pond. Der etwa 60' lange Schenktisch (bar) wird bedient von sechs dames du comptoir, welche als Uniform sämtlich schwarze Kleidung und die Haare à l'enfant tragen. Diesmal sah ich auch den Dining-room, charmant, aber das Schönste bleibt doch das Vestibül zwischen dem Café und dem Dining-room. Ein freundlicher Souschef gab mir auch den Namen des Architekten und buchstabierte mir denselben auf französisch vor; er heisst Werity. – Ich dachte gleich: das lautet flämischbelgisch, und gleich wie ich heimkam, fragte ich meinen Hausherrn und erfuhr, dass wenigstens von den Eigentümern der eine, nämlich Pond, ein Belgier und die wahre Intelligenz ist, während Spiers eine Null sein soll (er wird wohl die Kapitalien mitgebracht haben).

Beide haben nun ausser diesem prachtvollen Café, welches für sie bloss eine Bagatelle ist:

1. eine der grössten Weinhandlungen von England,

2. eine enorme Metzgerei,

3. die Büfetts auf der ganzen Linie bis Edinburg und Aberdeen, und

4., 5., 6. noch enorm viel anderes, so dass man verblüfft fragt: wer soll neben diesen Leuten überhaupt noch Geld verdienen können?

Aber ich komme wieder auf die dames du comptoir zurück. Wenn man die Haare à l'enfant trägt und dabei mächtig entwickelte Kinnladen oder Kauwerkzeuge besitzt, so zieht der obere Teil des Gesichtes den kürzeren gegen den untern. Dies habe ich auf dem Herzen gehabt. Eine einzige strich die Haare aus der Stirn und sah plötzlich sehr viel schöner aus.

Das Elend von London – ich spreche jetzt nur von uns Fremden – besteht in der Seltenheit solcher Lokale, wo man die Füsse unter den Tisch strecken und nach Belieben verweilen kann. Diese grosse Eigenschaft besitzt obiges Café, und wenn die grosse Menge an der Bar stehen bleibt, so sind auf der andern Seite köstliche Divans nach Belieben.

Logiert werde ich von Franzosen, gespeist hauptsächlich von Italienern, indem ich am Strand 1. das Kleopatra-Café, 2. das Café Lombard frequentiere, wo alles, auch die herrliche Kost, all'italiana geht. Von der National Gallery habe ich nur hundert Schritte dahin und kann mein Zwischenfutter und abends mein Essen dort nehmen. An den Southkensingtontagen, wie z. B. gestern und heute, esse ich in der Museumsrestauration selbst, welche Sie sich folgendermaassen vorstellen mögen: ein Saal mit Majolikasäulen, dito Wänden, dito Decke, ins schönste Halbrund hinausgebaut, mit kolossalen Fenstern, welche lauter einfarbige Glasgemälde mit einzelnen vollfarbigen Feldern und Einzelfiguren enthalten. Es ist die angenehmste Tafelmusik, die man sich denken kann.

Fraglich ist nur, ob ich bei der Teuerung der Zigarren wenigstens für die Zeit, da ich auf dem Zimmer bin, mich wie fast jedermann endlich zu den brûle-gueules mit türkischem Tabak bequemen werde? Man hat bereits zyprischen Tabak, von der neuen Conquête her. – Den Hirnstössel von zyprischem Wein kenne ich von Venedig her und trinke keinen.

Wenn ich nur auch in den hiesigen Journalen Bescheid wüsste! Aber wo ich einen solchen voluminösen Wisch kaufe, ist es englischer Radikalismus, der darin das Wort führt. Es ist doch ein Elend, wenn man keinen gebildeten Londoner Menschen konsultieren kann, und auf die Länge muss ich irgendeine Bekanntschaft machen. Mein Übersetzer 1878 war eine englische Übersetzung der »Kultur der Renaissance« von S. G. C. Middlemore erschienen. wird auf Reisen sein, sonst suchte ich ihn in seinem Klub auf, wo seine Adresse zu haben wäre. Aber ich wiederhole, es war für mich die höchste Zeit, nach London zu gehen; im nächsten Jahr hätte ich es schon nicht mehr gewagt.

Samstag morgen.

Das schickt sich nun vorzüglich; eben wie ich abschliessen wollte, kam Ihr Brief von vorgestern. Glauben Sie nur, ich bin auch für kurze Briefe sehr dankbar, auch wenn ich nur erfahre, dass alles auf dem alten Fleck steht. Nun erfahre ich aber, wie weit Sie schon mit der Bramante-Perspektive gerückt sind, das wird eine prächtige Surprise für Geymüller! Schreiben Sie mir auch etwas von den Aussichten der Kornernte und ob das auf übermorgen aus Amerika angesagte Ungewitter auch Basel heimzusuchen vor hat; auch was Sie von den Reben hören. Ob da wenigstens noch etwas herausschaut. – Hier ist noch kein einziger Regentag gewesen, aber viel einzelner kurzer Regen. Heute ist es so schön, als es in diesem ewigen Steinkohlendampf sein kann. – In den Galerien haben selbst die grössten Bilder Glasscheiben; denen, welche keine haben, sieht man den Kohlendampf an, recht sehr z. B. der Auferweckung des Lazarus, von Sebastian del Piombo, welches zu kolossal für eine Scheibe, dabei aber das berühmteste Bild von England ist. Man wird ihm die Scheibe auch geben müssen.

Mit Photographienkaufen einen schüchternen Anfang gemacht (25 Stück englische Kathedralen usw.). – Im Southkensington hat man weniges (zum Glück, sonst würde ich mich ruinieren) und teuer.

 

Zacharias Biedermaier an Kleopatra.

Melodie: Will sich Hektor ewig von mir wenden usw.

Einst mit Cäsar, jenem Vielgeliebten,
Mit Antonius, dem Schwerbetrübten,
Triebst du es, die Götter wissen, wie!
Und bei all dem permanenten Wandern
Triebst du es wer weis mit wieviel andern,
Huldigtest der pursten Phantasie.

Mögen auch, trotz abgeschmackten Spähern,
Fünfe grade sein den Ptolemäern,
Die verderbt durch ihrer Schranzen Lob!
Mag, was allen Sterblichen verweigert,
Dir gestattet sein, und noch gesteigert –
Doch warum, o Königin, so grob?

Wehmutsvoll nun muss ich weiter prüfen
Deine insolenten Hieroglyphen –
Ach, wie fällt das Biedermaiern hart!
Ob dem Lesen wird mir immer banger;
Mir gefällt nur feierliches Genre,
Und die Königinnen mag ich zart!

Du jedoch, vor lauter langer Weile,
Setztest an den Obelisk die Feile,
Und nun liest's die Nachwelt ganz verblüfft.
Anfangs war es nur ein still Geflüster,
Dann ward's immer gröber, immer wüster,
Und nun fragt sich's nur noch, wen es trifft?

Von den vielen grossen römischen Tieren
Kamen dir die schrecklichen Manieren,
Raubten dich von lichten Lebenshöhn!
Wieviel edler wär's, im stillen Busen
Zuzurufen dir mit Schillers Musen:
»Königin, das Leben war doch schön!«


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