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59.

Basel, 19. Nov. 1881.

Ich habe Sie ewig lange warten lassen, aber teils lag auf mir das Peso jener Rektoratsvorlesung, teils der stets beschwerliche erste Monat des Semesters. Nach abgetaner Schinderei Der Rektoratsrede. ging ich nicht etwa an das Rektoratsessen (das ich samt allen Toasten seit achtzehn Jahren meide), sondern heim, und nachmittags holte mich R. zu einem Bummel nach Frenkendorf, allwo er zu tun hatte; es war paradiesisches Wetter. Und nach kurzem Regen in den letzten Tagen ist es auch jetzt wieder wunderschön, wenn auch kühler; in Summa der schönste November, den ich jemals im Norden erlebt habe.

Es ist recht von Ihnen, dass Sie sich an Versailles gewöhnen; Sie werden dort mit der Zeit noch viel Merkwürdiges und sogar Schönes finden, u. a. in der Galerie der Gipsabgüsse das Prachtgrab des Ferdinand und der Isabel von Spanien aus dem Dom von Granada usw. Wenn wir zusammen dort wären, könnte unser Wissen sich beiderseitig ergänzen.

Die Matinées der Theater sind eine sehr vernünftige Kompensation der enormen Unvernunft, kraft welcher man ordentlichen Leuten den Besuch der Abendvorstellungen durch späten Anfang, lange Entr'actes und urspäten Schluss verleidet, selbst wenn man in einem sicheren Quartier wohnt, geschweige denn in einem exzentrischen und unsichern. – Im Fra Diavolo wusste Nachbauer so schön und täuschend zu stürzen, als dies Ihr Montaubry irgend vermocht haben wird. – Übrigens haben wir gegenwärtig hier, und bei nur mässigem Besuche, eine Oper, wie wir sie noch gar nie so gut gehabt haben.

Ich muss diesen Winter wieder Revolutionszeitalter lesen, und noch nie habe ich solche Mühe gehabt, mir und den Zuhörern den unwillkürlichen Eindruck der Aktualität fernzuhalten, den jene jetzt bald hundertjährigen Historien gerade heute hervorbringen. Mich überkommt bisweilen ein Grauen, die Zustände Europens möchten einst über Nacht in eine Art Schnellfäule überschlagen, mit plötzlicher Todesschwäche der jetzigen scheinbar erhaltenden Kräfte.

Einstweilen wird an der neuen Brücke bereits der letzte eiserne Bogen eingesetzt. Leider sind auf der Bläsi-Seite ein paar scheussliche Spekulationskasten entstanden; das läuft aber mit dem ganzen Rest unserer dermaligen Existenz. Wir leben vorläufig so weiter, als wäre alles beim Alten, aber es vergeht kein Tag, dass unsere Nase nicht an irgendeinen neuen Kerl oder eine neue Einrichtung oder an das Provisorischgewordensein einer alten stösst. Und in Eurem Frankreich ist's ja im Grossen ebenso, und die erwerbenden und geniessenden Franzosen sind fest entschlossen, sich auch ins Widerwärtigste zu fügen, solange sie sich selber noch weismachen können, der ökonomische Zustand werde im Ganzen unerschüttert bleiben. Dass dies unmöglich ist, wenn man ringsum alle übrigen Schutzwehren dem Boden eben machen lässt, gestehen sie sich nicht ein, weil es sie im Erwerb und Genuss stören würde. Wartet nur.

Mit welchen Gefühlen wir dann auf Reklamen, wie z. B. die 1883 bevorstehende grosse Zürcher Weltausstellung, hinblicken, können Sie sich denken – oder soll's gar schon 1882 sein? Ich weiss nicht recht, aber das weiss ich, dass es ein Wahnsinn ist, Ausstellungen abzuhalten, wenn die meisten Industrien am Boden liegen und Wehe schreien. – Hierbei fällt mir unsere neue phosphorlose Zündhölzchenindustrie ein; heute erfährt man aus Bern: 1. dass daselbst in dieser Sache eine Bundeskommission tage, 2. dass deren Majorität der Meinung sei, es müssten Zündhölzchen geliefert werden, welche auf jeder Reibfläche Feuer geben, denn die schwedischen pflegten »Klagen zu veranlassen« – d. h. die Bauern usw., welche gewohnt waren, das Hölzchen am Hosenbein anzuzünden, werden geflucht und gedroht haben, und nun müssen wohl die HH. Philanthropen beider Räte ihren abgeschmackten »Fortschritt« nächstens wieder zurücknehmen. So was ist ein kleines Aufleuchten von Freude zwischen so vielem Ekel, den wir dulden.

Ich sehe täglich F. auf der Lesegesellschaft und erfreue mich seiner oft ganz herrlichen Einfälle. Als neulich in der Entführung im letzten Akt der Pascha edelmütig war bis zum Übelwerden und Konstanze samt Liebhaber das Kartonschiff bestiegen, sagte F.: »Wenn sich die Tugend erbricht, setzt sich das Laster zu Schiff.« (Variante von Schillers Vers über Kotzebues Rührstücke: Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.)


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