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28.

London, 1. Aug. 1879.

Da ich gestern abend zu hundsmüde war, muss ich jetzt aus meinen Erinnerungen noch etwas nachtragen. Die Fassade der Gare du Nord in Paris ist und bleibt ein Skandal; die jonischen Pilaster von verschiedener Grösse, die Dachschrägen, welche von den Aufsätzen der kleinern zu denjenigen der grössern emporsteigen, und die grossen Bogenfenster, welche hopopop in die dazwischen liegenden Mauerflächen einschneiden, machen zusammen eine der grössten architektonischen Infamien unseres Jahrhunderts aus, was doch etwas sagen will.

Das Innere der Kathedrale von Amiens ist einer der sublimsten Atemzüge, und wo bliebe der Kölner Dom ohne dieses ganz nahe Muster? Der Schrägblick aus dem Langhaus in das sich gewaltig in Nebenschiffen ausweitende Chor gibt einem das Gefühl, als erweiterte sich Brust und Lunge, und dazu dieser Wille, alles in die Höhe zu treiben.

Auf der Eisenbahn zwischen Amiens und Calais war ein Mann, welcher mit wohlhabenden Bauern um Paris verwandt ist und einen sehr gescheiten Diskurs führte, so dass die Stunden bis Boulogne, wo er ausstieg, rasch vorübergingen. Als ich zu erkennen gab, ich sei Schweizer, bekam ich von Anno Bourbaki her die herzlichste Sympathie zu spüren. Ich habe auch schon sonst gemerkt, dass wir seit damals beim Volk einen Stein im Brett haben.

Sonst fuhr ich mit einer resoluten femme de chambre, welche für die Duchess of Newcastle in Dienst verschrieben ist. Die wird in England Karriere machen, glaube ich.

Das Boot von Calais nach Dover war eines jener neumodischen, welche eigentlich aus zwei Schiffen bestehen, mit den Maschinen in der Mitte, wodurch das Schwanken doch sehr verringert wird; wir spürten fast nichts und sahen doch neben uns kleine Schiffe sehr stark ballottiert. Vom Tunnel sousmarin spricht man als von einer völlig sichern Sache; es wird zwar gewiss sehr teure Fahrbillets abgeben, aber der Philister wird es bei der Abreise nach England seiner Frau versprechen müssen, nicht ein Schiff zu besteigen; er wird jammern ob dem hohen Preis, aber er wird zahlen. Weise Leute bedauern zum voraus, dass dann der jetzt so vorzügliche Bootdienst geringer werden wird.

In London nahm ich gleich einen Cab und fuhr von Gasthof zu Gasthof, bis ich es fand, wie ich es suchte. Der Cabman war quite a honest man und war mit einem ganz kleinen Draufgeld zufrieden; ich sah ihm in die Augen und glaubte etwas wie einen Methodisten oder sonst etwas strenger Denkendes zu erkennen. – Der Gasthof ist wesentlich französisch, aber mein Aufwärter ein Tessiner aus Aquila, Val di Blegno, von wannen der Kestenenföt Offenbar ein bestimmter Basler Strassen-Kastanienverkäufer. war. Gestern abend entdeckte ich, dass man im Erdgeschoss ganz gut einen französischen Rotwein zu 2 Shillings die grosse Flasche (beinahe ein Liter) trinken und dazu rauchen kann, was ich in den bessern wine-stores nicht kann. Kurz, ich bin zufrieden.

Wenn ich nur auch die vierte Seite des Kleopatra-Obelisken dechiffrieren könnte, die gibt aber enorm zu schaffen. Doch ist nicht alle Hoffnung aufgegeben.

2. August.

Gestern wollte ich ins Britische Museum, fand aber die Elgin marbles Die von Lord Elgin nach England entführten Parthenon-Skulpturen. und überhaupt fast die ganze griechische Abteilung geschlossen, sintemal Wednesday and Friday Schülertage seien, wo dort gezeichnet wird. Darauf entschloss ich mich kurz und fuhr outside auf einem Omnibus in die dickste City und besah S. Paul und einiges andere; mit Willen aber gehe ich schwerlich wieder in dies Gewühl. Dann nahm ich mein Zwischenfutter in einer der ältesten Kneipen der City, die ich schon vor neunzehn Jahren besucht (the Bell, old Bailey) und fuhr dann auf der unterirdischen Eisenbahn wieder ins Southkensington-Museum.

Da wuchs denn mein Staunen noch um ein Beträchtliches. Wo soll das hinaus mit unserer Kunstgeschichte, wenn auf diese Manier gesammelt wird und niemand die eigentliche Gesamtübersicht mehr macht? Hätte ich ein Jahr hier zu vertun, ich würde in die Hände spucken und mich mit anderer guter Leute Hilfe bemühen, die lebendigen Gesetze der Formen in möglichst klare Formeln zu bringen; soweit mit Worten etwas erreicht werden kann, würde ich es probieren.

Was mich einstweilen ganz konfus macht, ist, dass diese Sammlung ausser den dekorativen und als Schmuck angewandten Künsten so fürchterlich viele und wichtige künstlerische Originalsachen des hohen und höchsten Ranges enthält. – Die dekorativen Hauptfragen hat Semper in seinem »Stil« erledigt, aber es ist seither so unermesslich viel hinzugekommen, und die Parallelen wachsen und wachsen!

Einstweilen kann ich aber doch den Rest meines Lebenslaufes nicht um dieser Herrlichkeiten willen ändern. Und was hilft den Londonern alle die hohe ästhetische Anregung, wenn dann doch um der blossen Utilität willen eine kolossale Verscheusslichung des Stadtanblickes eintritt, wogegen unsere neue Die nicht horizontal laufende Wettsteinbrücke. Brücke eine wahre Unschuld ist! Man hat nämlich eine hohe, infame, gradlinige Gitterbrücke mitten durch den schönsten Hauptaspekt gezogen und eine Haupteisenbahn drauf gelegt und einen grässlichen kolossalen Damenkoffer (den Kopfbahnhof von Charing-Cross) dran gebaut. Als ich gestern abend im Vollmond auf der (unten dran liegenden) Waterloobridge wandelte und den frühern wunderbar malerischen Anblick der Parlamentshäuser, der Westminster-Abtei und des Lambeth Palace entzweigeschnitten fand, hätte ich wahrlich heulen mögen. Die Dämmerung und der aufsteigende Vollmond machten die Sache erst recht schmerzlich. Auch weiter unten, gegen London Bridge hin, liegt ein ähnliches Scheusal von Gitterbrücke, welches ebenfalls zu einer kolossalen Kopfstation führt. Ach Gott, was werden dem practical sense des 19. Jahrhunderts noch für Opfer fallen! Und wie wird es in hundert, ja schon in zehn Jahren in diesem London aussehen, wenn wegen Menschenzudranges immer schrecklichere Entschlüsse nötig werden? Mein tägliches Erstaunen ist, dass einstweilen die Menschen sich noch nicht erdrücken, und dass die Verproviantierung noch so ordentlich ihren Weg geht.

Morgen bei hoffentlich schönem Wetter geht's nach Hamptoncourt.

Die Königin Victoria hat's kommod: auf Münzen und Briefmarken hat sie das Gesicht ihres Regierungsanfanges beibehalten dürfen, während sie in Tat und Wahrheit jetzt eher gar wüst sein muss.


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