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LX.
Er hat Glück gehabt

Ach, ja,« sagte Yatsuma, »man muß leider auch einmal wieder haltmachen!«

Er griff um sich, klammerte sich an einen Baum. Seine Füße waren bleiern, der nasse Wind schlug ihm abscheulich ins Gesicht. Die Knie zitterten ihm wie einem Kalb, dem der Schlächter den betäubenden Hieb auf den Schädel gegeben hat.

Wie sonderbar ist die Finsternis. Nichts zu hören. Nur der Wind keucht. Oder ist es sein eigener Atem? Es fegt wie mit hundert Besen, es zieht, als ob irgendwo eine riesengroße Tür offen stünde. Das Brausen wird zu einem furchtbaren Lärm.

Schimmert da nicht etwas aus der Dunkelheit, unbestimmt, kaum mit den Augen zu fassen? Was mag es wohl sein? Ein Haus? Wasser? Schnee? Vielleicht war er viele Tagemärsche weit von jeder menschlichen Niederlassung entfernt, vielleicht aber lagen gewaltige fremde Städte da, an denen er im Finstern vorbeigeirrt war.

Nichts, das man sieht, ist so schrecklich, daß man nicht Zeit fände, irgendein Verhältnis dazu zu gewinnen. Das Auge sieht Gefahren, Nähen und Weiten und nimmt es mit ihnen auf. Die Finsternis aber ist die Unendlichkeit. Sie ist aussichtslos wie die Dummheit. Man tappt auf einer Stelle, immer auf demselben Fleck, kommt nicht weiter, höchstens im Kreis herum, geht im Nichts und ins Nichts hinein.

Es regnet nicht mehr, aber der Sturm wird wütender. Er pfeift ihm entgegen. Wenn er sich aber umdrehen würde, würde er sofort von der anderen Seite herjagen.

Er zieht die Schultern hoch, die Kälte schneidet wie tausend stumpfe Rasiermesser. Seine Lumpen sind gefroren, blechern hart, der Rock kratzt am Hals, als wäre er mit Eisschollen ausgefüttert.

»Ach, was –« murmelt er und setzt sich wieder in Trab, etwas unsicher, ein wenig schwankend. Aber die Vorwärtsbewegung stärkt das Gleichgewicht. Er nahm alle Willenskraft zusammen und schlug einen ganz zarten Laufschritt an. Er hatte das Gefühl, daß er rückwärts laufe. Er merkte, daß es irgendwie mit ihm zu Ende ging, er merkte es daran, daß er sich den Mut, den er sich einreden wollte, nicht mehr glaubte, es war nur die Angst, die seine Schritte noch ein bißchen beflügelte. Wie eine Ameise, die man mit dem Spazierstock berührt hat, in unglaublicher Hast über alle Hindernisse klettert. Nach einiger Zeit war die Erstarrung tatsächlich überwunden, es wurde ihm warm, sogar heiß. Er brannte vom Kopf bis zu den Füßen wie mit einer Drahtbürste bearbeitet, wie mit glühenden Nadeln gespickt. Dann fröstelte ihn wieder trotz des Feuers auf der Haut.

Aber die Natur, die übergewaltige, kümmert sich nicht um ihn. Sie zehrt ihn auf, reiht ihn unter gleichgültige Geschöpfe ein, behandelt ihn wie alles andere und alles andere wie ihn. Er ist ihr weniger als ein Felsbrocken, den der Frost sprengt, er erweist sich schwächer als eine dünne, windumtoste Gerte, die sich biegt und standhält.

Ist das ein Licht, das ihm vor den Augen tanzt, verschwindet, auftaucht, wieder verschwindet? Oder eine Sehstörung? Vielleicht ein Wassertropfen, der ihm an der Wimper hängt?

Eine eigentümliche Leichtigkeit befiel ihn. Es war, als hoben sich seine Beine von selbst in die Höhe, ohne wieder niederzufallen, als höbe er sich von der Erde weg und schwebe.

Eine dünne, eisige Stimme, wie Hundegewinsel, rief weit hinten, wo der Wind herkam: Yat – su – ma!

Jetzt sah er auch ganz deutlich die Landschaft unter sich, den Irawadi, die Stadt Mandale, die birmanischen Tempel. Langsam zog er dahin, langsam senkte er sich herab wie ein niedergehender Freiballon. Er trieb auf ein steinernes Gitter zu, an dem er sich festhalten wollte, erreichte es aber nicht.

»So was,« murmelte er, »ich habe es doch ganz genau gesehen …«

*

Eine Schar Schulkinder stand um einen Mann, der einige hundert Meter vor dem letzten Haus von Freising auf der Landstraße lag.

Yatsuma macht sich langsam eine Gewohnheit daraus, sich einfach hinzulegen und von irgend jemand aufklauben zu lassen, der Zeit und Lust dazu hat. Oder sollte er doch endlich einem Auto zum Opfer gefallen sein? Lange genug war er den Beförderungsmaschinen mit nachfolgendem Tode wie durch ein Wunder entgangen. Aber es nützt ja doch nichts, einmal kommt jeder dran.

»Ob er tot ist?« fragten die Kinder. »Vielleicht überfahren. Wenn man nur das Gesicht sehen könnte!«

Die Mädchen wagten kaum hinzublicken.

»Holt doch jemand!« sagte ein kleiner Dickkopf mit blonden Zöpfen. »Steht nicht immer herum da!«

»Wir müssen in die Schule!« sagten die Buben.

»Dann geht halt! Macht, daß ihr weiterkommt!«

Endlich lief einer weg, um den ersten besten, dem er begegnete, herbeizuholen.

Bei den Kindern war ein kleiner gelber Hund, der den Daliegenden beroch, dann tänzelnd, als hätte er Stahlfedern in den dünnen Beinchen, zurückprallte und ihn mit dem kreischenden, sich überschreienden Gebell dieser winzigen Köter wütend ankläffte. Ein siebenjähriger Knirps hetzte das Schoßhündchen auf den Mann im Schnee und wagte ihn sogar bei den Hosen zu packen, indem er das Tier ermunterte: »Faß, Buzi, faß!«

Der Hund sprang und kläffte wie verrückt. Die Kinder lachten über das komische Tier.

Ein anderer Dreikäsehoch erkühnte sich, dem Mann einen großen Schneeball auf den Rücken zu legen. Nur die Mädchen beteiligten sich nicht an dem lauten Gelächter. Und der blonde Dickkopf schalt die Buben freche Lauskerle.

Bevor der Junge, der fortgelaufen war, wiederkam, waren einige Neugierige hinzugekommen.

»Erfroren!« sagte ein Herr mit einem Zwicker. »Armer Teufel. Oder verhungert. Wahrscheinlich beides. Kein Wunder. Man muß ihn wegschaffen, gleich ins nächste Haus hinein mit ihm!« Beinahe machte er Miene, seine Worte wahr zu machen und anzugreifen, aber dann beherrschte er sich. Er dachte daran, daß seine Manschetten schmutzig werden könnten. »Vielleicht kann man Wiederbelebungsversuche machen. Ich werde einen Arzt holen.«

Er entfernte sich mit raschen Schritten.

»Der ist höchstens besoffen«, meinte ein anderer.

»Eine Bierleiche«, sagte ein junger Bursche. »Wie der Kerl stinkt!«

»Man muß ihn wegtun! Hier kann man ihn nicht liegenlassen. Da vorn gleich ins erste Haus! Packt's an, der beißt euch nicht! Der beißt überhaupt keinen mehr. Die Kinder weg da, macht, daß ihr weiterkommt!«

»Mein Gott ist das ein Elend«, murmelte eine alte Frau.

»Ein Skandal!« wandte sich der Herr mit dem Zwicker zu ihr, der zurückkam, als zwei Arbeiter Yatsuma aufhoben. Einer gab dem Pinscher einen Tritt, daß er quietschend hinwegtänzelte. »Kein Arzt aufzutreiben! Habe ans Krankenhaus telephoniert. Der eine ist nicht zu Hause, der andere hat keine Zeit. Und da steht alles herum und niemand packt an. Wenn der Mann noch nicht erfroren war, dann ist er's jetzt sicher!«

»Was heißt da Skandal«, sagte einer der Arbeiter. »Der hat Glück gehabt! Es bleibt mancher liegen, den keiner findet.«

Ein Auto glitt heran.

»Halt!« rief Mendone und sprang herunter. »Natürlich! Selbstverständlich!« Er ergriff Yatsumas Handgelenk. »Sie gestatten,« sagte er zu den Arbeitern, »ich bin Arzt. Nur hinein ins Haus!«

Sie legten ihn in einer ärmlichen Stube auf ein Sofa. Deschl hatte Decken gebracht, die Instrumententasche und noch einiges. Er gab den Arbeitern ein Trinkgeld. Die Frau, die da wohnte, brachte eine Tasse heißen Kaffee. Mendone schüttete sie halb aus und goß sie mit Rum wieder voll. Die Flasche war schon halb leer, man hatte ihr während der kalten Nacht schon einigermaßen zugesprochen.

Inzwischen war auch ein Schutzmann erschienen.

»Bitte mich jetzt nicht zu stören!« sagte Mendone barsch.

Deschl nahm den Beamten mit hinaus und gab ihm die gewünschten Aufschlüsse.

Eli war sehr müde. Das ewige Hinausstarren während der langsamen Fahrt auf den von den Scheinwerfern grell beleuchteten Schnee hatte ihre Augen überanstrengt. Die Sonne schien, aber sie konnte kaum hinausblicken, es tat ihr weh. Es war auch so traurig: der kalte Morgen, der kranke, verunglückte Mann und die Neugierigen, die herumstanden und sich langsam verliefen, bis auf zwei alte Weiber, die diskutierend und schwatzend immer noch mitten auf der Straße standen.

Sie hatte sich das Verheiratetsein eigentlich anders vorgestellt. Was immer ein Fehler ist. Man soll sich nichts vorstellen.

Ein Ehemann hat viele Liebhabereien – dachte sie.

Als Yatsuma in Decken gehüllt gebracht wurde, lehnte sie in der Ecke und schlief.

Während der Fahrt wachte sie auf und schaute hinaus. Goldgelbe Schneeflächen, mit blauen Strichen und Schatten bemalt, glitten blendend vorüber.

»Ein Schluck Rum gefällig?« fragte Mendone. »Ist gut gegen kalte Füße!«

Lächelnd schloß sie die Augen.

Er riecht nach Bier! dachte Deschl auf seinem Führersitz, und zog die düstern Stirnfalten grimmig zusammen.

Als er dem Doktor half, seinen Bruder in einem Parterrezimmer seines alten Häuschens an der Biedersteiner Straße ins Bett zu legen, bat ihn Mendone, seine Frau nach Hause zu bringen.

»Ich komme bald nach,« sagte er, »aber jetzt muß ich allein sein. Geh gleich zu Bett, Eli!«

»Ist er sehr krank?« konnte Deschl sich nicht enthalten zu fragen.

»Nicht von Bedeutung! Auf Wiedersehn!«


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