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XXXIV.
Yatsuma lernt einen treuen Freund kennen

Eine geschlagene Stunde lang, nach normaler menschlicher Zeitrechnung, stand Yatsuma in dem kleinen Gefängnis aufrecht da. Dann fingen seine fadenscheinigen Beine zu wackeln an. Er mußte zu Boden, ob er wollte oder nicht, aber nun wollte er erst recht nicht, nun grade. Sein Leib zitterte wie der eines Epileptikers und auf einmal sauste er hin, steif, hart und unnachgiebig wie eine gefällte Tanne. Zum Glück fiel er mit dem Kopf auf das Bund Stroh, welches noch unausgebreitet dalag. Einmal auf der Erde angelangt, streckte sich der geschundene Körper automatisch aus so lang er war, oder noch länger, der Besitzer der ruhedurstigen und schlafhungrigen Gebeine war nicht mehr Herr über sie. Ein stoischer Seufzer entfuhr seinem Mund, ein ächzender Jammerlaut, in dem alle Inbrunst der ruhenden Erlösung, alle tröstliche Dankbarkeit, daß es einen Boden unter den Füßen gibt, enthalten war. Noch drei Sekunden, und er wäre in einen Schlaf gesunken, aus dem ihn nicht einmal der physikalische Weltuntergang geweckt hätte, geschweige der nur seelische. Seine Augendeckel klappten müde zu, ein friedlicher Ausdruck verklärte sein kantiges Gesicht, das immer magerer und dessen Nase immer länger wurde, noch einmal drehte er sich um, denn er konnte nur auf der rechten Seite liegend schlafen. Da fuhr von außen ein Schlüssel ins Schloß mit einem Gerassel, Scheppern und Krachen, als würde eine Fuhre T-Träger auf einen Hieb abgeladen. Dazwischen fauchte und brummte es sonderbar. Yatsuma zog es kalt an die Füße, die Tür war wohl auf. Und: »So! da! Gute Nacht!« sagte einer und die Tür fiel zu wie ein Donnerschlag.

»Guten Abend zu wünschen – au! Dunnerkiel!«

Der unsichtbare Ankömmling war gestolpert und lag auf Yatsuma wie ein Sack Kartoffel, der nach Alkohol, Schnee und Nachtluft roch.

»Das waren entweder Füße oder Beene – hast du dich weh getan. Junge? Gottverdimmich, tuts weh?«

»Bitte, nichts geschehen!« antwortete Yatsuma etwas gepreßt. Endlich rollte der Sack weg.

»Mach' das Stroh breit, Junge!« hörte Yatsuma wie im Traum. »Wir kommen schon miteinander aus! Ich habe schon manchen Pflasterstein als Kopfkissen gemietet, nur zum Niedersitzen sind mir die Randsteine zu niedrig. Ah – hu – krrrch – puh – ka –«

Ein Hustenanfall unterbrach den Monolog. Dann ging es wieder lustig weiter!

»Ich glaube, der Giftmischer hat mir Himbeerlimonade in den Nordhäuser gemacht! Die Wirte sind unbarmherzige Samariter! Wirte und Gefängniswärter, da hab' ich schon genug! Minderwertige Menschen sind das, Seeräuber! Haifische! All right, ich will keinem was tun, aber das sind Menschenfresser! Höllenschlangen! Die aus dem Gemütsleben des Menschen ordinären Profit ziehen! Hoffentlich habe ich dir nicht weh getan, Kamerad, ich bin über deine Gardinenstangen gestürzt. Kein elektrisches Licht, keine Zentralheizung, es ist ein Elend!«

So ging es ohne Unterbrechung fort. Der Vorgang war zu merkwürdig, als daß Yatsuma noch hätte schlafen können.

»Die sibirischen Gasthöfe lassen noch viel zu wünschen übrig!« meinte er.

»Ha, du gefällst mir, Junge!« antwortete der Unsichtbare. »Dich muß ich mir morgen mal bei Licht besehn! Ich bin geborener Australier, verstehste, Australier vom Scheitel bis zur Sohle! Mein Unglück ist nur, daß ich Gefängniswärter war!«

»Aus welcher Stadt?« fragte Yatsuma.

»Aus Neu-Ulm!«

»In Minnesota, U. S. A. Oder sollte es in Australien auch eine Stadt dieses Namens geben? Ich wüßte nicht.«

»Die Gefängniswärter«, fuhr der Neuankömmling fort, »sind tiefstehende Geschöpfe! Ich weiß Bescheid, ich war selbst einer. Aber sie können nichts dafür. Ich habe drei Eigenschaften: erstens war ich Gefängniswärter, zweitens ist mir meine Frau davon, und drittens kann ich es nicht sehen, wenn es einem schlecht geht, so wahr ich Tschäk Bensn heiße! Was ich sagen will, hast du meinen Hut gesehen? Oder habe ich keinen gehabt?«

»Sehen konnte ich ihn nicht,« sagte Yatsuma, »weil es zu dunkel ist. Er wird wohl in die Ecke gekollert sein, wo er liegen bleiben mag. Wozu soll der Mensch auch einen Hut brauchen? Ich habe keinen Hut und keine Obhut. Auch dieses Dach habe ich nicht freiwillig gewählt, die gastfreundlichen Kirgisen meinten mir damit eine Gefälligkeit zu erweisen. Viele Jahrzehnte war ich in allen bewohnten Teilen der Welt. Nachdem dort meine Mission beendet ist, werde ich von vorgestern an nur mehr überirdische Landschaften aufsuchen. Das Leben ist kein Programm, denn die Macht des lebendigen Geistes ist unvorstellbar. Wenn in dem Augenblick, da ich nachdenke oder debattiere, sich der Tod einstellen würde, so müßte er wohl oder übel ein wenig warten: in diesem Augenblick bin ich so lebendig, daß er mir nichts anhaben kann. Und wenn er so ungeschickt wäre, sich immer wieder einen solchen Moment auszusuchen, so könnte ich nie sterben, das Spiel müßte tausend und abertausend Jahre so fortgehen! Darum ist der Mensch unsterblich, dessen Geist immer und ununterbrochen lebendig ist. – Wen meinten Sie übrigens mit den Höllenschlangen, lieber Freund?«

Yatsuma wartete auf Antwort, aber es kam keine.

Ein unangenehmer Wind schnaubte und winselte um die Mauern des kleinen Hauses, als wären alle bösen Geister der Ober- und Unterwelt, oder, was noch schlimmer ist, von Ober- und Niederbayern losgelassen worden. Wenn man im Reden draußen den Wind hört, so hält man inne und horcht. Es war nur der Wind! sagt man dann und fährt wieder fort. Als Yatsuma aber einige Zeit horchte, merkte er zuletzt, daß es nicht der Wind war, sondern ein unheimlich starkes, abgrundtiefes Schnarchen, Sägen und Raspeln, das aus dem aufgesperrten Mund des Mannes kam, der sich Jack Benson nannte und der während der ersten Worte Yatsumas eingeschlafen war.

Fast stimmte es ihn betrüblich. Er war so wach, frisch und munter und hätte sich allzugerne noch ein bißchen unterhalten. Denn es schien ihm, als wäre er nach langer Zeit wieder einmal einem Menschen begegnet. Warum er zwar gerade von dem Mann, der betrunken und bei seinen ersten Worten schon eingeschlafen war, ein solches Gefühl und eine so gute Meinung hatte, wußte er selbst nicht. Er tröstete sich aber. Es war ja ebenso schön, allein seinen Gedanken nachzuhängen, wobei ihn überdies und auf jeden Fall niemand ablenken oder unterbrechen konnte.

Das kratzbürstige Pfeifen und Gurgeln des guten Jack störte ihn nicht, es erregte ihm nur mitleidige Gedanken über die Hinfälligkeit, Schwäche und Armut des Menschen. Er stand auf, tastete das Stroh ab, machte das Bund auseinander und kehrte das verstreute mit den Händen im Dunkeln zusammen. Dann richtete er sein Lager, so schmal und dünn, als es für ihn notwendig war, und ein zweites, breites und ausgiebiges für den anderen. Auf dieses hob und schob er den nicht leichten Mann, der sich dabei nicht weiter stören ließ. Einen Bauschen Stroh hatte er ihm unter den Kopf gebaut. Dann suchte er nach dem Hut; beim Schlafen über das Gesicht gelegt, wärmt er doch ein wenig; konnte ihn aber nicht finden. Endlich legte er sich hin, so schmal er war, gewissermaßen auf die Bettkante.

Bei dem kleinen Gitterloch über seinem Kopf staubte und zog es kalt und feucht herein. Jack stöhnte manchmal.

Yatsuma konnte lange nicht einschlafen.


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