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XXXVII.
Ein Weihnachtsabend

Wenn Weihnachten naht, hat jeder Mensch viel zu tun und viel zu besorgen. Schier ins Grenzenlose aber steigen die Verpflichtungen bei einem Mann, der im Geruche der Wohltätigkeit steht, wie Mendone. Alle erdenklichen Wohltätigkeitsanstalten, Stiftungen, Säuglingsheime, Fürsorgeinstitute, Schulen, Krankenhäuser und ich weiß nicht noch was alles, wandten sich an den bekannten Geber.

Eli, die so viele Postschecks geschrieben, Pakete gemacht und Gänge besorgt hatte, wollte dafür gern einmal einer der Kinderbescherungen, zu denen er beigesteuert, beiwohnen. Ihr zuliebe, so ungern er sich bei einem solchen Anlaß sichtbar machte, und weil sie ihn »mein kleiner Weihnachtsmann« nannte und hartnäckig schmeichelnd auf ihrem Wunsch bestand, gab er nach und führte sie am heiligen Abend in das alte Schulhaus an der Haimhausenstraße, nicht weit von seiner Wohnung. Der kahle Raum, ein ausgeräumtes Schulzimmer, von Gaslampen kalt erhellt, die kleinen, rötlich brennenden Tannenbäumchen, die auf langen, weißgedeckten Tischen geordneten Paketchen und Geschenkteller und die fröhlich herumwimmelnden Kinder, das alles hatte etwas Rührendes und Freundliches, aber auch etwas Trauriges.

»Ich komme nicht, um mich an dem Triumph meiner Wohltaten zu berauschen!« sagte Mendone zur Vorsteherin. »Meine Frau wollte gern mal die Kinder sehen!«

Eli konnte sich kaum losreißen. Sie war still und nachdenklich geworden.

»Komm Kind,« sagte er, »wir wollen gehen! Ich bin müde wie ein Briefträger. Ich habe jetzt wirklich genug. Wir gehen früh schlafen. Da fällt mir ein, ich habe doch noch den zweiten Winterüberzieher! Er ist noch gut, aber ich trage ihn ja doch nicht mehr. Den will ich doch gleich noch zur Bergwirtschaft rüberbringen, wenn wir nach Hause kommen. – Das Schenken im allgemeinen ist gewiß beglückend, aber ebenso unbefriedigend! Das Unrecht, das die Welt überschwemmt, ist ein Meer: wenn man jemand hilft, dann schöpft man dieses Meer mit dem Teelöffel aus. Und doch ist die einzige Möglichkeit, sich in dieser Welt nicht grenzenlos zu langweilen, die, hin und wieder einem armen Teufel eine Freude zu machen.«

In der Wirtschaft am Kirchberg, drei Schritte von seinem Haus, fand auch alljährlich am Weihnachtsabend eine Verteilung von Lebensmitteln, Kleidern und dergleichen an Stellen- und Arbeitslose, kinderreiche Familienväter und andere Handwerksburschen und vom Schicksal verfolgte zweibeinige Erdenwürmer statt. Der ungenannte Stifter war Mendone. Außerdem, nebenbei, lieferte er seine abgelegten Kleider, Schuhe, Wäschestücke und was sonst im Haushalt von Zeit zu Zeit überflüssig wird, an den Wirt ab, der die Verteilung besorgte.

Er ging hinüber, den vergessenen Mantel abzugeben. Die hellen kleinen Fenster leuchteten auf die Wasserpfützen im Wirtsgarten. Es war Föhnwetter, sehr warm. Der zur Weihnachtspoesie erforderliche Schnee war ganz unpoetisch zerschmolzen und vom Regen weggeschwemmt worden.

Er mußte in die Wirtsstube, einen anderen Eingang gab es nicht, hängte den Mantel an den Haken und setzte sich unscheinbar in die Ecke, ein Glas Bier zu trinken. An der Hinterwand war ein langer, magerer Christbaum aufgestellt. Von den beschenkten Elendsfiguren hatten sich einige, die nicht nach Hause gingen, bei Gratisabendessen und Freibier zum Kartenspiel zusammengesetzt. Fast alle schmauchten ihre nagelneuen Pfeifen, die zwar nicht gut, dafür aber billig und weihnachtlich feierlich schmeckten.

Die Tür sprang auf und schlug krachend an die Wand.

»Hehe!« sagten die Spieler. »Nur langsam!«

Der Hereingepolterte, ein breiter, weißhaariger Kerl mit einer Nase, die aussah wie eine junge Ananas, stapfte schwer durch die Stube, griff unsicher nach einem Stuhl und ließ sich hinplumpsen, daß es knallte.

Der Wirt machte die Tür zu.

»Wo hast denn du heut schon aufgeladen?« fragte er den Betrunkenen. »Magst was essen?«

Unverständliches Gebrumme antwortete ihm. Später richtete er ein Paket zusammen, Kinderkleidchen, Schuhe, Strümpfe und dergleichen. »Daß du's aber nicht verlierst, Fritze! Das ist für deine Kinder, verstehst!«

»Soo – Kinder – warum?« Er nestelte das Paket auf und betrachtete jedes einzelne Ding lange und ausführlich von allen Seiten. Einen Taschenspiegel hielt er in der linken, ein Paar Hosenträger krampfhaft in der rechten Hand. Schließlich rutschte ihm das Paket von den Knien, alles fiel hinunter. Sie halfen ihm und legten die Sachen wieder ordentlich zusammen.

»Ein Taglöhner, Herr Doktor«, sagte der Wirt. »Neun Kinder! Es muß halt einer mitgehen, sonst verliert er alles.«

Der Alte stand auf und raffte das lose zusammengelegte Paket unter den Arm, daß es wieder auseinanderfiel. »Was willst denn – mit dem Packl – Lebkuchen da!« brummte er.

»Jetzt halt nur mal dein Maul, damischer Hund!«

Der mit ihm ging, um ihn nach Hause zu bringen, steckte ihm Nüsse und Äpfel, ein Paar wollene Handschuhe und ein Päckchen Tabak in die mächtig weite Rocktasche, wo alles unten wieder herausfiel. Endlich war alles zusammengesucht und das Paket ordentlich verpackt und verschnürt. – – –

Mendone blieb viel länger sitzen, als er wollte und beabsichtigt hatte. Er dachte an Eli, die allein vor ihrem kleinen Bäumchen zu Hause saß. Warum kam sie nicht herüber? Vielleicht schlief sie schon.

Er war müde; diese Stunde war seit Wochen die erste ruhige, von nichts und niemand gestörte, nur dem gelassenen Alleinsein, dem gedankenlosen Dasitzen ohne Bürde und Schwere gewidmet. Der melancholische Weihnachtsabend hielt ihn gebannt, ein trauriger und doch schöner Zauber. –

Nur einer fehlt, dachte er, wo wird Yatsuma sein? Selbstverständlich hat Gluth ihn vollständig vergessen!

*

Am zweiten Weihnachtsfeiertag, abends um halb zehn Uhr natürlich, kam Gluth, wie von diesem Gedanken telepathisch herbeizitiert, mit einer Mappe so groß wie eine Schultafel unterm Arm, polternd angeturnt. Er entnahm ihr zwei Radierungen.

»Ich habe mir erlaubt – zu Weihnachten.«

»Was? Machen Sie keinen Unsinn, Herr Gluth! Haben Sie etwas zu verschenken? Das Schenken ist eine Angelegenheit des Besitzes. Und soviel ich weiß –«

»Von Geschenk kann da keine Rede sein,« sagte Gluth, »das wäre zuviel gesagt. Nur prinzipiell, nur um der Psychologie willen, muß ich Ihnen widersprechen, Herr Doktor: das Schenken ist eine Eigenschaft!«

Mendone nahm die Blätter.

»Herrlich, herrlich! Famos! – Na ja, gut. Schön. Aber: meinen Auftrag, mein lieber Gluth, haben Sie noch immer nicht ausgeführt? Ich hatte Sie doch gebeten, mir einige Blätter zum Kauf anzubieten. Wo sind sie?«

»Hier! Darf ich die Mappe auf den Tisch legen?«

Er schlug sie auf.

Es ist doch merkwürdig, dachte Eli, immer, wenn wir einmal recht früh zu Bett gehen wollen, dann kommt er im letzten Augenblick daher, regelmäßig!

Als sie dem Doktor über die Schulter guckte, der die Blätter, eins nach dem anderen, langsam umwandte, vergaß sie ihren Ärger.

»Das ist ja großartig –« murmelte er, »ich werde mir also gleich einige Sachen beiseitelegen.«

Gluth war niedergeschlagen. Wenn einer, dem es schlecht geht, sich auch das ganze Jahr nicht darum kümmert, zu Weihnachten wird es auch ihm ein wenig stärker fühlbar. Doch ließ er sich nichts anmerken.

»Ich habe neulich zehn Bilder in die Ausstellung geschleppt. Will sehen, ob sie etwas annehmen.«

»Es ist mit Ihnen nicht leicht«, sagte Mendone. »Vor einem halben Jahr sollten Sie mir die Sachen bringen. Habe ich Sie zu schlecht bezahlt, oder hatten Sie vergessen? Oder ist es Ihnen so gut gegangen, daß Sie nicht nötig hatten, etwas zu verkaufen?«

»Die Sache ist anders, Herr Doktor. Es kommt von unserer Arbeit. Wenn ich zum Beispiel ein neues Bild im Kopf habe, und das hat man ja eigentlich immer, oder mehrere, was ja auch vorkommt, dann habe ich eben schon vergessen, daß meine Tochter Schuhe braucht, und daß ich dem Redakteur Ypsilon versprochen habe, ihm Skizzen zu bringen. Meine Arbeit nimmt mich dann so in Anspruch, daß ich für nichts anderes mehr Zeit, Luft und Interesse habe. Wenn man irgend etwas erreichen und keinen Mist fabrizieren will, da hilft alles nichts, da heißt es ganz gewaltig schuften und das nimmt einen schon in Anspruch!«

»Was verständlich und doch verkehrt ist! Insofern: der Mann von heute, wir alle stecken zu sehr und zu ausschließlich in unserem Beruf. Man läßt sich viel zu sehr von ihm beanspruchen. Es ist eine Zeitkrankheit, eine miserable, vollkommen verrückte Gewohnheit. Man hat früher auch seinen Beruf, seine Aufgaben und Pflichten gehabt und dabei doch menschlicher gelebt, man hat noch Zeit gehabt: für die Familie, die Frau und für das Leben überhaupt. Man war keine Maschine. Wir tun alle so, als ob der Beruf der einzige Lebenszweck wäre. Es sollte genau umgekehrt fein!«

»Es steckt in der Zeit. Es liegt nicht an uns, sondern nur – und nur an den Verhältnissen. Was sollen wir denn machen? Entweder sich in eine Höhle verkriechen und Wurzeln essen oder den ganzen Zimt mitmachen, wer's kann. Ich kann's nicht, ich werde es nie lernen und habe auch gar keinen Ehrgeiz. Man muß sich auf das beschränken, was man kann. Ein Elend ist dies und ein Elend ist das! Zufrieden kann man nur sein durch den Inhalt, den man seinem Dasein gibt.«

»Das klingt schon beinahe wie Yatsuma! Von dem kann man sagen, daß er lebt! Er lebt miserabel, aber er lebt! Die anderen arbeiten und existieren nur. Sie haben ihn nie gesehen?«

»Ich habe mir alle Mühe gegeben! Tatsächlich! Ich habe viel von ihm gehört, aber wo der Kerl steckt, das möchte ich bloß wissen!«

»Sie sind mir ein Detektiv! Einen Kriminalroman könnte man aus Ihnen schon nicht machen! Erzählen Sie mir wenigstens, was Sie alles gehört haben, das interessiert mich sehr!«

Beim Abschied drückte er dem Maler einen Scheck in die Hand und lud ihm, aber erst, als er schon die Treppe hinunter war, ein Paket für seine Kinder auf, das schon seit acht Tagen bereit lag.

Er hätte es früher abholen können, er wußte es doch, dann wäre sein Weihnachtstisch doch nicht ganz leer gewesen.

»Er hat recht,« sagte Mendone, »er weiß alles, ist ein gescheiter und echter Kerl. Aber er ist wie ein Fahrradschlauch, man muß ihn immer wieder aufpumpen!«


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