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XLII.
Eine lustige Geschichte

Von Bensons hartnäckigem Einfluß beirrt, ließ sich Yatsuma trotz seiner Abneigung, für die er hundert Gründe wußte, in der Folge noch einige Male verleiten, einige kürzere und längere Reden zu halten, deren Texte leider verlorengegangen sind. Hätte er freilich ahnen können, daß Benson sich und ihnen beiden dadurch eine Einnahmequelle erschloß, so wäre er wohl lieber taubstumm geworden, als auch nur ein einzigesmal noch den Mund aufzumachen. Da die meisten dieser Predigten in Schwabing stattfanden, war er nun schon bekannt wie ein roter Hund. Meistens führte ihn Benson dahin, wo viele Menschen gingen und standen. Das Publikum lief dann scharenweise zusammen, denn für den Städter ist alles furchtbar wichtig und interessant, was sich auf der Straße begiebt. Vielen machte es Spaß, ihm zuzuhören, andere begeisterte es, andere lachten ihn aus, manche fürchteten ihn. So die Polizei, die ihn als Wanderprediger registrierte und einen politischen Agitator in ihm witterte. Er wurde einige Male wegen Übertretung des Versammlungsverbotes festgenommen, wie der selten schöne Ausdruck lautet, aber auf Grund geistiger Unzurechnungsfähigkeit mit einer Verwarnung wieder auf freien Fuß gesetzt. Benson wich ihm auch in solchen Zwischenfällen nicht von der Seite, legitimierte sich und gab sich alle Mühe, Yatsuma auf jede Weise in Schutz zu nehmen. Sah er doch außer dem Freund noch vielmehr das zinsenbringende Anlagekapital in ihm.

Bei den Reden saß er in der Nähe, immer so, daß man ihn für dazugehörig oder auch nicht dazugehörig halten konnte, und in der Regel erbarmten sich einige seiner und gaben ihm Almosen. Bei jedem Groschen, Pfennig oder Hosenknopf, der in seinen Hut fiel, sagte er etwas, je nachdem wie es paßte und wie der Geber ihm gefiel: Schönen Undank, Beehren's mich wieder, All right, Leben Sie unwohl, Sterben Sie wohl, Alles Schlechte, Habe die Unehre, Allheil auf Abzahlung, Gut Holz, Schlechte Erholung, Gutes neues Jahr, Good by, Küß die Füß, Prost, Guten Appetit, Ungehorsamster Diener, Habe die Schande, Mahlzeit, Auf Nimmerwiedersehen, Unheil, Fröhliche Pfingsten, Bleiben Sie krank, Weidmannsheil, Wünsche wohl geruht zu haben und Hals- und Beinbruch! Das war so ziemlich alles, was er aus Yatsumas Reden gelernt hatte. Mancher hätte das Almosen, das er ihm gegeben, nach solchem Gruß am liebsten wieder zurückverlangt, andere lachten und legten noch einen Fünfer drauf. Auch Bekleidungsstücke erhielt er mehr als einmal. Auf diese Weise war es ihm gelungen, auch Yatsuma mit einem neuen alten Hemd und ein Paar Hosen auszustaffieren, denn seine alten waren so dünn geworden, daß schon die Brennesseln durchbrannten. Auch einen anderen Flaus wollte er ihm aufoktroyieren, aber Yatsuma vermochte sich von seinem alten Gehrock nicht zu trennen. Er war verliebt in ihn, es war ihm, als würde er, wenn er ihn weggebe, seinen Persönlichkeitswert herabmindern, als wäre er nicht mehr derselbe, wenn die zerschlissenen und von Benson notdürftig geflickten Schöße dieses sehenswerten Kleidungsstückes nicht mehr melancholisch hinter ihm dreinwedelten.

Benson hatte sich sein neues Leben allmählich praktischer eingerichtet und nachdem er den stabilen verloren, sich eine Art transportablen Hausstand auf Reisen zugelegt, bestehend aus einer Schachtel, wie man sie beim Schuhkaufen mitbekommt. Sie enthielt zwei Bürsten, eine für die Schuhe und eine für die Kleider (was auf seinen stark entwickelten bürgerlichen Ordnungs- und Reinlichkeitssinn hindeutet), ferner Nadel und Faden, Flickflecke und Heftpflaster, einige verrostete Sicherheitsnadeln und Hosenknöpfe, Streichhölzer, Zeitungen (nicht zum Lesen), Salz, Zwiebel, Maggiwürfel und meist auch einige Stücke Brot. Außerdem hatte er einen kleinen Kochtopf erworben, wie ihn die Wandervögel sich an die Hüftknochen hängen, die ihnen herausstehen wie Kleiderhaken. Yatsuma ließ diese Besitztümer seines Freundes um des lieben Friedens willen schließlich unbeanstandet, um so mehr als alles »gefunden« war, und er gab sich mit der Zeit auch darein, daß Benson Reparaturen an seiner Garderobe vornahm, wenn auch nur widerstrebend und ungeduldig, nur weil ihn die Sorge des Freundes rührte, und um ihn nicht zu verletzen.

Sie befanden sich nicht weit von Schwabing. Die genauere Ortsangabe möchte ich dieses Mal wegen der Kriminalität der Begebnisse vermeiden. Die Schwabinger Polizei ist sehr streng, ich bin schon einmal beinahe eingesperrt worden, nur weil mich ein Raubmörder überfallen hat. Eine oder zwei der drei Dutzend Krankheiten, die sein ausgedienter, europäischer Leib beherbergte, zwang Yatsuma, eine längere Rast einzuschalten. Am liebsten, wäre der Boden nicht zu kalt gewesen, hätte er sich lang hingelegt, denn er hatte einstmals auch irgendwo gelesen, daß das Liegen eine der obersten orientalischen Gesundheitsregeln sei.

Benson, der währenddem in der Gegend spazieren gegangen war, tauchte auf. »Nur Mut, Junge, es geht schon wieder besser, da schau her!«

Er zog ein totes Huhn aus der Manteltasche und warf dürre Äste und kleine Holzstückchen auf den Boden. »Der Mensch kann so gescheit sein, wie er will, wenn er sich nur zu helfen weiß! Das ist ein japanischer Goldfasan, mein Lieber! Wenn es auch gegen deine Philosophie ist, dein Magen denkt nicht schlecht darüber!«

»Aber wozu solche kostbaren Speisen,« sagte Yatsuma schmerzhaft wehmütig, »wenn eine Handvoll Reis oder ein Stück Maisbrot genau dasselbe tun? Wo hast du das her?«

»Wo?« Benson schichtete das Brennholz übereinander. »Das werde ich dir gleich sagen! Sollen wir das Vieh braten oder kochen? Nudelsuppe mit Huhn wäre nicht übel, aber bis ich wieder Wasser herbeihole, ich meine, wir braten den Vogel gleich, ein bißchen Fett habe ich noch!« Er machte sich ans Rupfen. »Das war also so: ich gehe an einer Wirtschaft vorbei –«

»Wirtschaft? Ein unangenehmes Wort. Es erinnert an die modernen wirtschaftlichen Mißstände des Altertums!«

»Na ja, so eine Art, wie soll ich sagen, ein arabisches Kaffeehaus –«

»Ich verstehe. Eine Schenke oder Bar, in der sich die Menschen sogenannte Drinks in den Hals gießen. Eine chinesische Teestube mit tanzenden Geishas!«

»Ganz richtig! Und sehe im Garten Hühner –«

»Hühner?«

»Japanische Goldfasanhühner! Unglück macht Diebe und eine Gelegenheit kommt selten allein: ich setze mich auf die Bank und streue Brotkrümchen auf den Boden –«

»Das ist aber doch nicht wahr?« unterbrach ihn Yatsuma.

»Wo denkst du hin, Mensch! Ich mache doch Scherz! Hast du das nicht gemerkt?«

»Doch, doch!«

»Man darf sich doch manchmal ein bißchen aufheitern –«

»Gewiß, dazu ist der Scherz erlaubt, mag er auch unsinnig sein. Also erzähle weiter!«

»Ich sitze also auf der Bank und locke die Hühner zu mir her. Wenn der Magen knurrt wie ein Hofhund, Übung macht Diebe und Gelegenheit macht den Meister –«

»Weißt du, Benson,« sagte Yatsuma, »manchmal muß ich wirklich über deine Witze lachen, wenn sie auch noch so albern sind! Hahahaha! Zu komisch! Nur zu, erzähle nur weiter!«

»Sitze also da, ganz ruhig, die rechte Hand am Stiebel, und wie eines von den Biestern ganz nahe da ist und mich in die große Zehe gepickt hat – schwupp! Das muß nämlich verstanden sein! Habe ich das Luder am Kragen, richtig zugedrückt gleich, verstanden, damit es nicht mehr piepsen kann, drehe ihm den Halskragen um –«

»Aber doch nicht in Wirklichkeit? Es ist doch hoffentlich nur ein Scherz von dir? Du erzählst nämlich so plastisch, daß man fast meinen könnte –« Yatsuma sah etwas ängstlich aus.

»Aber wenn ich einmal sage! Ich mache doch nur ein paar Witze, damit man auch wieder einmal lachen kann! Du sagst doch selbst, man muß immer heiter sein!«

»Doch, das ist sehr lobenswert, Benson! Hahahahaha! Also nur zu!«

»Wuppdich, ein Schnapper und in Nullkommafünf sitzt der Vogel in meiner Tasche. Wer den Taler nicht ehrt, ist den Pfennig nicht wert!«

Benson mußte eine Pause einschalten, bis Yatsuma sich einigermaßen ausgelacht hatte.

»Es kommt aber erst! Ich also mit dem Vogel in der Tasche in das Haus hinein –«

»In die Teestube?«

»In die Teestube. Und frage nach dem Weg –«

»Nach dem Weg soll man nie fragen!«

»Weiß schon, ich sage doch nur –«

»Ja, ja, ich meine nur. Nur zu!«

»Das muß man nämlich immer machen, zur Sicherheit! Wenn man einen Fang gemacht hat, dann muß man zu den Leuten hingehen und sich überzeugen, daß sie nischt bemerkt haben. Was sie nicht wissen, ist mein sanftes Ruhekissen. Dann kannst du gemütlich weiterspazieren. So und jetzt werden wir das Tierchen ans Feuer hängen!«

»Unglaublich, Benson! Du hast manchmal unglaubliche Einfälle! Entschuldige, daß ich lachen muß, aber es ist wirklich wahnsinnig komisch! – Übrigens steckt ein gutes Stück Spitzbubenphilosophie in dir. Solange die Sache Scherz bleibt, wie jetzt, ist natürlich nichts dagegen zu sagen. Aber wo ist dann eigentlich dieses wirkliche Huhn her?«

»Ja, das ist doch das erzählte!«

»Ach so! Du kannst von Glück sagen, daß du eine so produktive Phantasie hat und dadurch von schlimmen Anlagen abgelenkt wirst! – Ich glaube, du mußt den Fasan drehen, sonst verbrennt er!«

Yatsumas böse Stimmung war überwunden, seine Schmerzen verflogen. Hernach aber mußte Benson lachen, als Yatsuma den Flügel, den er ihm reichte, mit den Worten: er sättige sich vom Hunger und verschmähe jeden Besitz, mit dem vorzüglichsten Behagen verzehrte. Seine Backen waren zwar so stark nach innen gebogen, daß er beim Kauen sehr vorsichtig sein mußte, sich nicht in die Wange zu beißen. Zum Glück hatte er so selten und wenig zu essen, daß er nicht oft in diese unangenehme Lage kam.

Nachdem der Braten verzehrt war, holte Benson einen Zigarrenstummel vor und steckte ihn an einem glühenden Stück Holz an. Fehlt nichts als ein Gläschen Bier, dachte er. Es trieb ihn mächtig in die Stadt.

»Ich denke,« begann er, »wenn ich meine Havanna geraucht habe, gehen wir nach Jerusalem hinein, eine kleine Rede loslassen!«

Yatsuma wehrte sich verzweifelt.

»Ich weiß seit langem,« sagte er unter anderem, »daß der Mensch etwas, das über seinen Horizont hinausreicht, niemals, um keinen Preis und unter keiner Bedingung fassen kann. Und wenn man es ihm wie einen Gegenstand in die Hand drücken oder in die Tasche stecken könnte, wäre es im gleichen Augenblick wie weggezaubert. Darum habe ich mich schon vor vielen Jahrzehnten entschlossen, meine Gedanken nur mehr den Lüften mitzuteilen und den unschuldigen, andächtig aufmerksamen Tieren, Pflanzen und Dingen. In ihnen allein ist unverdorbenes Leben. Der Mensch aber lernt nur durch das Leben: wenn er nicht begreift, dann geht es einfach über ihn weg! So ist die vollkommenere Welt entstanden, in der wir jetzt leben. Warum soll ich mich mit dem zurückgebliebenen Teil der Menschheit befassen, der sich noch an einzelnen Plätzen vorfinden mag, wenn die Entwicklung längst über ihn weggeschritten ist? Außerdem hindert mich meine neue Zahnlücke. Ein Redner mit einer undeutlichen Aussprache ist unmöglich!«

»Das wäre das wenigste,« sagte Benson, »aber ich versteh' dich ganz gut. Man kann nicht jedem Döskopp eine Ansichtskarte schreiben. Das Porto würde die Sache zu sehr verteuern. Hol doch der Deubel diese gottverdammten Hornochsen, die keinen Fortschritt begreifen! Aber was das betrifft –«

Sie waren zu Yatsumas Erstaunen in die Stadt gegangen, ohne daß er es im Eifer der Unterhaltung bemerkt hatte, und kamen auf den Odeonsplatz.

»Was das betrifft,« sagte Benson, schon ganz aufgeregt wegen der vielen Menschen, die da hin und her gingen, »zum Beispiel das hier sind ja keine Menschen. Es sind ganz unschuldige Tiere –«

Yatsuma blieb stehen und sah sich die Leute genauer an. Anfänglich hatte er sich weiter nichts gedacht, als daß er sich an einem Ort befinde, an dem noch ganz veraltete Zivilisationsformen herrschen.

»Tiere?« fragte er.

»Schau sie doch an, lauter Ochsen, Schafe, Kühe und Affen! Schau doch genau hin! Tiger, Schlangen, Chamäleons, Mücken, Kamele und Elefanten, aufgebundene Bären, Hunde, Eintagsfliegen und Esel!«

»Richtig,« sagte Yatsuma, »in der Tat, du sprichst die Wahrheit. Daß ich das nicht gleich gesehen habe! Ihr zivilisiertes Aussehen hat mich irritiert. Vielleicht habe ich mich schon öfter geirrt? Also gut –«

Er starrte versunken vor sich nieder, überlegend, was er sagen werde, während ihm Benson mit dem Eifer eines Menschen, der um jeden Preis vorwärts kommen will, den Rock ausbürstete, damit er beim Reden nicht allzuviel Staub aufwirble, und einen Wiesenkäfer wegschnippste, der ihm am Hals kroch.

»Soll ich die Tiere als Tiere anreden oder, nachdem sie bekleidet sind, als Menschen?« fragte der arme Yatsuma treuherzig. Aber es war ganz gut, daß er diese Frage stellte, bestand doch diese seine letzte Rede sowieso nur mehr aus lauter Anreden.

»Als Menschen wird es besser sein!« meinte Benson.

Dieser Auftritt, das Erscheinen der beiden wie aus dem Kino mitten unter das Straßenpublikum geratenen Groteskfiguren war allein schon eine Vorstellung und aufsehenerregende Sehenswürdigkeit. Die Leute blieben stehen, noch bevor Benson die Rede (»großer wissenschaftlicher Reklamevortrag, vollständig kostenlos«) ankündigte. Dann verkroch er sich und nahm auf den Stufen der Feldherrnhalle Platz. Seinen Hut stellte er wie einen Topf neben sich auf den Boden.

Yatsuma hatte sich gesammelt, sein Auge blitzte feurig, eine hitzige Röte überflog seine eingefallenen Wangen. Leider aber sind von dieser Rede, der unweigerlich letzten, die er, noch dazu nicht ganz freiwillig, gehalten, nur Bruchstücke erhalten geblieben. Der erste Teil, da er annahm, er spreche mit bekleideten Tieren, die er als Menschen anreden mußte, handelt von den vielen Gegenständen, die sich in den Kleidern befinden. So sagte er unter anderem:

»In euren Taschen wimmeln die Mikroben der Zivilisation: Taschentücher, Uhren, Notizbücher, Zahnstocher, Füllfedern, Taschenmesser, Zigarrenabschneider, Haus- und Geldschrankschlüssel, Geld, Brieftaschen, Papiere und Ausweise, Spiegel und Zigarettenetuis, Puderdosen, Lippenstifte, Parfümgläschen, Abführpillen, Bonbons, Pulver, Haarfärbemittel, Fußbälle und Bartwichse! Ich wollte noch nichts sagen, liebe Zeitungsphrasen und Philosophen, wenn diese Dinge in euren Taschen verblieben wären, aber sie sind euch längst ins Hirn gewandert! Eure Hirne sind Aktenmappen, Reisekoffer, Möbelhallen, Maschinensäle, Kücheneinrichtungen, Apparate und Dynamos, Patente und Paragraphen, Konstruktionen und Explosionen. Wenn man euch die Hand drückt, gibt es Kurzschluß, wenn man mit eurem Hirn in Berührung kommt, wird man von der Transmission erfaßt! Euer Wissen, ihr zertrümmerten Atome, ist nicht mehr wissenswert und euren Erfindungen fehlt nur noch eine: wie man sie alle zusammen am besten vernichten kann. Oh, ihr Gepäckträger der Zivilisation! Ich sage euch nur das eine: fort mit dem Plunder, sobald als möglich, vorwärts ohne Zaudern und Wanken zur Erde, zum Leben, zur Barberei! Macht euch bereit, ihr chemisch gereinigten Kommerzienräte, macht euch frei, ihr Helden auf dem Geschäftsfelde der Ehre, wir sind auf dem Weg zur Wildnis! Morgen schon, oder auch erst vorgestern, der Tag ist nicht wichtig, wird es sich zeigen, wer noch lebensfähig ist! Zurück zur majestätischen Größe der Natur und ihrer wilden aber ehrlichen Urkraft, ihr Parlamentsbäuche und Stimmzettel! Wer keine Wohnung hat, braucht keine Genehmigung und kein Patentschloß, das nie funktioniert, wer kein Geld braucht, hat keine Brieftasche, wer selbst Zeugnis ist dessen, was er ist, der braucht kein geschriebenes. Wozu, ihr goldbronzierten Ehrenmänner, eine Uhr bei sich tragen? Habt ihr schon einmal auf dem Zifferblatt nachgesehen, zu welcher Stunde ihr Menschen geworden seid? Mit dem Chronometer in der Brust zwischen Geschäft und Amüsement auf und nieder gehetzt, eurem Glück die Minuten vorschreibend und über euer Unglück verwundert, werdet ihr trotz aller Pünktlichkeit und entgegen aller Berechnung zu früh ins Grab fallen! Der Mensch aber geht seine Bahn wie das Gestirn, ohne Kompaß und Manometer –«

»Seit dem Krieg gibt es mehr solche Kranke!« sagte einer.

»Der ist von der Heilsarmee oder von den Bibelforschern!« ein anderer.

»Ah, gar keine Idee!« sagte der Dritte. »Der ist aus Schwabing!«

Yatsuma stockte, er spürte, daß kein einziger der Zuhörer ihn verstand. Warum war er seinem Vorsatz untreu geworden, warum war er nicht konsequent geblieben? Drückende Trauer senkte sich auf ihn.

»Ich weiß,« sagte er, »daß wir uns nicht ganz verstehen, ihr Wechselzieher von Kentucky –« Sooft er aber eine solche Anrede gebrauchte, mußte Yatsuma selbst lachen. Das steckte die Zuhörer an, sie fanden den Ulk nur noch lustiger; »es ist eine Störung im Apparat, wir sind unterbrochen worden! Wenn ihr mich nicht verstehen sollt, dann ist mein Reden spielend leicht. Wenn ihr mich aber verstehen sollt, dann weiß ich nichts, dann habe ich euch nichts zu sagen. Vielleicht bin ich wahnsinnig, ich will es gerne zugeben, denn wer heute bei Verstand bleibt, der ist schon irrsinnig geboren. Wenn ich Ihnen aus diesem Laternenkandelaber eine gebratene Gans und eine Flasche Märzenbier herauszaubere, so würden Sie für ein Wunder halten, was nur ein Varietékunststück sein kann. Nun, wenn ich auch kein so plumpes Wunder verrichten kann, so kann ich doch ein feineres. Es fehlt mir nicht an dem groben Beweis, den der grobe Verstand braucht: warum bewundert ihr nicht, ihr Museumsdiener und Schriftsteller aus Kalkutta, daß ich außerhalb eures Lebens lebe? Warum ihr Zeißgläser und Membraneohren, verachtet ihr, was Bewunderung verdient, und warum bewundert ihr, was Verachtung verdient? Ich habe alles von mir geworfen, was euch am Leben erhält, ich esse nicht und schlafe nicht, spiele nicht Tennis und habe kein Geld außer Fersengeld, das ich nicht gebe. Ist das nicht wunderbar? Wer von euch macht es nach? Und doch ist es weit einfacher als alle Neune treffen, einen Prozeß gewinnen, ins Schwarze schießen, die Volte schlagen, an der Börse spekulieren und den Gegner schachmatt setzen! Beeilt euch, meine lieben Ordensbrüste und Kriegerdenkmäler von Sansibar! Ihr seid ein ganz klein bißchen zurückgeblieben! Der Baum der Zukunft wächst auf eurem Grab, köstliche Früchte reisen in seinen Zweigen – frisch auf, ihr Leichen, hinauf zur Ernte! Wenn ihr es nicht macht wie ich, wenn euch nicht vor Hunger nach dem kommenden Leben das Skelett aus dem Leibe schaut, was wollt ihr dann noch erhoffen, worauf noch warten? Was kann euch noch retten, wenn nicht die vollkommene Barbarei? Bevor ihr nicht mit Steinbeil und Keule herumgeht wie die Ureinwohner Australiens, die heute noch so bewaffnet sind, wenn sie nicht inzwischen ins Bureau gehen, bevor ihr nicht Menschenfresser werdet, werdet ihr keine Menschen werden! Die Zeit, in der ihr lebt, ist längst abgelaufen, warum also noch in ihr herumlaufen? Seid mutig und froh, lebt, als wäre die Zukunft überall und sie wird auch bei euch sein!«

Mit diesen Worten beendete Yatsuma seine letzte Rede und gab kein Komma mehr drein. Obwohl ihn von den Zuhörern auch nicht ein einziger verstand, denn er war ja nicht, wie er annahm, in Bagamojo, sondern in München, und außerdem ist es auch viel verlangt, solches rechtschaffen wahnsinnige Zeug auch noch verstehen zu sollen; trotzdem kargten sie nicht mit fröhlichem Beifall, denn sie fanden ihn immerhin originell; nur einige, die erwartet hatten, es werde ein neuer Massenartikel angepriesen, waren enttäuscht. Yatsuma hatte eben bei allem Glück. Wenn ich zum Beispiel eine solche Rede an die Münchner hielte, würden sie mich mit Bierkrügen steinigen. Gott sei Dank, daß mich die hervorragende Meinung, die ich über sie habe, niemals in eine so unangenehme Situation bringen kann.

Ein Mann drängte sich zu ihm hin: »Treten Sie in unsere Partei ein!« sagte er. »Nehmen Sie eine Sekretärstelle an, Sie werden rasch vorankommen!«

»Nimm's an, Mensch!« flüsterte Benson und puffte ihn in den Rücken.

Aber Yatsuma achtete auf niemand, ging schweigsam weg und verschwand im Hofgarten.


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