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XXIX.
Allzuviel ist ungesund

Es war schlechtes Wetter, Yatsuma fühlte sich lahm und matt. Er trabte dahin mit so schwankenden Knien, daß ihn ein Kriegsinvalide mit zwei Stelzfüßen in Grund und Boden gerannt hätte. Ein kaltes Brennen und Reißen in den Gliedern, die aufgesprungenen Hände, die Blasen an den Fußsohlen, das eisigklebrige Gefühl in nassen Kleidern, Übernächtigkeit, Übermüdung und Schlaflosigkeit, es war kein angenehmer Zustand. An diesem Tag war es ihm wirklich gleichgültig, wo er war. Im Gegenteil, ein ganz neues, quälendes Gefühl, so eine Art Sehnsucht oder Heimweh kam über ihn. Es war die Schwäche.

Manchmal blieb er stehen, zog ein Bein hoch wie ein Storch, als wäre er in eine Glasscherbe getreten, und versuchte ein wenig aus den Lidern, auf die der Regen trommelte, herauszuspähen. Aber es war immer dasselbe: Schneewehen und Regenschauer, durcheinandergepeitscht, verfinsterten den Nachmittag, als fegten Rußwolken über die Ebene. Der Schnee zerrann im nassen Brei der Straße, die schwarz wie ein schmutziger Bach durch die weißgrauen Felder schnitt.

Mit geschlossenen Augen tanzte er dahin. Er sah Hitze und Staub, die brütende Sommersonne auf der heimatlichen Straße, die Stille im Wald. Die Telegraphendrähte brummten, der Heuduft wehte von gemähten Wiesen, zwischen Getreidefeldern schoß der Bahndamm, über dem die heiße Luft stand, schnurgerade in flimmernden Dunst davon. Plötzlich löste sich an dem entfernten Punkt, wo die Gleise zu einem blassen Strich verschwimmen, ein leiser Schatten träge vom Boden und hing als winziges Wölkchen in der Luft. Und als Yatsuma einem Falter nachsah, der schwerfällig über den Bahndamm taumelte, donnerte schon der Schnellzug heran, glitt lautlos vorbei und war schon weit weg, während die Gräser auf dem heißen Kies noch schwankten, die Schienen leise zitterten, der Falter von einer Kornblume aufflog –

Yatsuma machte die Augen auf: es hatte zu regnen aufgehört, der Himmel war mit rosig durchleuchteten Dampfschwaden umballt, Rauchgebirge, in die ein abgründiger Feuerschein sprang. Das Regenwasser in den Radspuren blinkte rot wie die Wolkenränder, einen Augenblick lang war die Luft illuminiert wie ein kühler Raum, den geheimnisvolle Lampen hinter durchscheinenden Vorhängen feierlich erhellen. Dann war alles mit einem Schlage blaßgrün und stahlblau verfärbt. Im Westen stand wie ein letzter Schrei und verlöschender Seufzer ein grellgelber Streifen knapp über der Erde. Ein paar Bäumchen, winzige Häuser, der Kirchturm und die Gasanstalt von Moosach schnitten schwarz hinein. Es wurde finster.

Wieder verfolgte Yatsuma ein Bild: der Schatten der Kastanienbäume lag wie mit der Scheere ausgeschnitten auf dem weißen Rasen. Schulkinder wateten barfuß im Staube, liefen zu den Himbeerstauden und dürren Reisighaufen am Waldrand. Aus dem Dorf zirpte das einschläfernde Hühnergegacker, schwamm das melancholische Summen der Dreschmaschinen – beinahe wäre Yatsuma eingenickt …

Um sechs Uhr, es war schon fast ganz dunkel geworden, sah ein Bauernbursche, der mit einer Fuhre Torf nach Schwabing hereinfuhr, ungefähr beim früheren Ludwigsbad einen Kerl am Baum sitzen, der sich nicht rührte und regte, weder schlief noch wach war. Er gab keine Antwort, atmete nicht, war eiskalt, Arme und Beine wie aus Holz. Verletzung war keine an ihm zu sehen. Kurz fertig packte der Knecht den stummen Bruder, wickelte ihn in eine Pferdedecke und legte ihn obenauf über den Torf.

Der Leser weiß, daß Yatsuma noch nicht tot sein kann, weil er noch kaum in der Mitte des Buches ist. Der Bauernbursche aber erschrak, als sich ihm, er war noch keine hundert Meter weiter gefahren, eine Hand auf die Schulter legte, sprang vom Wagen und sah sich den Kunden an, den er da aufgeladen. Es kam damals öfter vor, daß ein Fuhrwerk oft ganz nahe einer Ortschaft mit List oder Gewalt überfallen und der Fuhrknecht ermordet wurde.

»Da ist er ja wieder lebendig geworden!« sagte er, als Yatsuma vom Wagen kletterte. »Du hast höchste Zeit gehabt! Wenn ich eine halbe Stunde später komme, bist erfroren!«

»Im Sommer ist noch keiner erfroren!«

»Ah, so, ist's jetzt Sommer! Das hab' ich nicht gewußt!«

»Ich danke Ihnen, lieber Ureinwohner,« sagte Yatsuma, »daß Sie mich wieder zum Leben erweckt haben, ich tue im Verfolg meiner Aufgabe auch nichts anderes. Wenn ich mich nicht täusche,« er sah sich um, sein Blick hing eine Weile an dem engen Horizont, eine naßkalte Gruft, in der von allen Seiten schwarze Vorhänge zusammenschlugen, »wenn ich mich nicht täusche, muß ich nach der entgegengesetzten Richtung weiter! Also,« er drückte ihm die Hand, »herzlichen Dank! Wünsche guten Morgen! Schlafen Sie wohl!«

Der Knecht war froh, daß er ihn los wurde. Die Sache war nicht ganz geheuer.

»Gut Nacht!« rief er. »Hüh!«, ließ die Peitsche knallen, die Pferde zogen an und verschwanden im Dunkeln.

*

Eine Stunde später wurde Yatsuma unterhalb Freimann zum zweitenmal gefunden. Nicht vom Maler Gluth, sondern von der freiwilligen Sanitätskolonne, die irgend jemand verständigt hatte und die den Erschöpften im Schwabinger Krankenhaus ablud.

Doktor Mendone, der ihn sofort erkannte, war nicht überrascht. Im Gegenteil, er schien etwas Ähnliches erwartet zu haben. Und da er es liebt, mysteriöse Beobachtungen zu machen, so fand er, daß der Verfasser von Yatsumas Geschichte sich erfreulicherweise immer mehr Mühe gibt, die Sache mit seiner, Mendones, Person zusammenzukomponieren, und ließ den Kranken ohne Säumen auf seine Abteilung bringen.

»Vorläufig,« sagte er nach der ersten Untersuchung und Anordnung zur Schwester, »nichts als Ruhe.«

Er blieb noch einen Augenblick stehen, ihn zu beobachten.

»… große Aufgaben –« faselte Yatsuma unzusammenhängend, »außerhalb der natürlichen Gesetze stehen – ununterbrochene Steigerung – rascher als Licht und Gedanken – Körpergewicht geringer als alle schwebenden Gegenstände – von Kräfteverbrauch frei – gewöhnliche Gesetze menschlicher Hinfälligkeit, der träge Schneckengang irdischer Bedingungen – alles aufgehoben, kein Begehr, keine Schwere – unirdisch beflügelte Schritte – Erlösung der Menschheit – frisch und schwebend im schattigen Sykomorenhain –«

Er schlug die Augen auf und erblickte eine weiße, weiße Fläche. Sah zur Seite: eine gespenstisch reglose Figur steht an seinem Bett, hält seine Hand in der ihrigen und betrachtet ihn aufmerksam.

»Na ja!« hört er eine weit entfernte undeutliche Männerstimme. »Der Mensch hat ja eine Bärennatur!«

Mendone griff seinen Puls und sah der Schwester abwesend in die Augen, als überlegte er etwas. Dann, weggehend, sprach er von Eispackung, Temperaturmessen, und daß er noch einmal nachsehen werde. Die Schwester begleitete ihn zur Tür.

In diesem Augenblick erhob sich Yatsuma, glitt aus dem Bett und taumelte einige Schritte vorwärts. Die Schwester hörte etwas, lief herbei, fing die wankende Gestalt auf, sie wog ja nicht viel, setzte ihn aufs Bett, schob seine langen, gipsweißen Beine, die wie Harpunen aus dem Hemd hervorstachen, unter die Bettdecke und deckte ihn sorgsam zu.

Mit fragendem Blick, als verstünde er das alles nicht, betrachtete Yatsuma sie, wie sie vor seinem Bett stand.

Dann kehrte eine lächelnde Heiterkeit auf seinem Gesicht, eine wohltätige Ruhe senkte sich auf seine Züge, er schlief ein.

*

»Bist du wieder auf den kleinen Antillen gewesen?« empfing Eli den Doktor, als er nach Hause kam.

»Das nicht gerade, Schatz, ich hatte etwas länger zu tun. Denke dir: mein Freund, der Jazuma, ist wieder zum Vorschein gekommen!«

»Ich hab' mir's doch gedacht, daß es so etwas ist, ich hatte schon so eine Ahnung! Und da hast du dich,« zupfte sie ihn am Bart, »natürlich wieder stundenlang mit ihm unterhalten, du Schlawiner!«

»Ich habe mich nur damit unterhalten, seine vierzig Grad Fieber vorläufig auf neununddreißigeinhalb zu reduzieren. Eben als ich gehen wollte, brachten sie ihn. Vollständig erschöpft.«

»Ach Gott, armer Kerl. Kannst du ihm helfen?«

»Vorläufig läßt sich nicht viel sagen. Im allgemeinen sind ja solche Leute gut zu reparieren. Ich werde mir jedenfalls Mühe geben, ihn nicht so rasch umzubringen wie meine gewöhnlichen Patienten.«

»Man müßte sehen,« sagte Mendone beim Abendbrot, »wie man ihm, wenn er wieder in Ordnung ist, irgendeine Stellung verschaffen kann. Es wird wohl nicht ganz leicht sein.«

»Nachdem er doch nicht normal ist!«

»Weniger deshalb. Unsere Berufsautomaten von heute sind überhaupt keine Menschen, geschweige normale, und darum fände sich auch für seinesgleichen leicht ein Unterkommen. Sondern die Frage ist die, wie er sich dazu stellt! Ich werde sehen, was ich tun kann. Ich muß nach dem Abendbrot noch einmal weg, Elikind, nochmal nachsehen. Werde aber gleich wieder da sein!«

»Es ist ja richtig,« meinte sie, »daß du den Menschen hilfst, das sollst du und mußt du tun. Aber du hast mit anderen Menschen schon bald mehr zu tun als wie mit dir!«

»Das ist noch dazu das einzig Befriedigende, das Beste von allem! Man wird zwar nicht Geheimrat auf diese Weise, aber wozu auch?«

»Wenn du nur mich nicht vergißt, Gilbert!«

»Du bist ja auch ein anderer Mensch, Dummkopf! Gehörst du nicht auch zu meinen Patienten? Einen Menschen kenne ich allerdings, den ich tagtäglich einige Stunden lang vergesse. Er nennt sich Doktor Gilbert Mendone. Menschen, die nur mit sich zu tun haben, sind heute sehr überflüssige Möbel. Darum Mädchen weine nicht und bringe mir meinen Hut, in einer halben Stunde bin ich wieder da!«.

Eli löste sogleich ihre zärtliche Umklammerung, denn wenn sein Beruf ihn beanspruchte, verstand der Doktor keinen Spaß.


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