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III.
Begegnungen

Auf der obersten Stufe der Ziegelsteintreppe, die an der Hofseite des Häuschens in den Keller hinabführt, zögerte Deschl einen Augenblick und ging dann hinunter. Es versteht sich von selbst, daß die Treppe genau so zerfallen war wie das Haus. Gelbe Grasbüschel standen aus den Fugen, allerlei Unrat, Papierfetzen und die ausgebröckelten Ziegelsteine lagen unten, wo sie hingekollert waren.

Er schloß die Kellertür auf, ging einen Schritt hinein und blieb stehen, ohne den Türgriff aus der Hand zu lassen. Auf dem altersgrauen Holztäfelchen, das an die Tür angenagelt war, stand, allerdings kaum noch lesbar, »Schreinerwerkstatt«. Außer den rohen und bearbeiteten Hölzern, die man in jeder solchen Werkstätte sieht, standen und lagen mehrere Aeroplanmodelle und andere halbfertige Gegenstände umher, deren Bedeutung ohne Erklärung nicht verständlich war. Da war ein aus Holz gebautes Instrument, das fast wie eine Orgel aussah, ein anderes wiederum glich dem Mechanismus einer Baggermaschine. Auf einem bemalten Bauernschrank in der Ecke stand ein Globus, an die Wand daneben war eine Erdkarte genagelt, und auf der Hobelbank lagen unter Holzspänen und Werkzeugen einige verstaubte Bücher, Romane, geographische Werke und Atlasse, wie z. B. der »Bilderatlas zur Geographie der außereuropäischen Erdteile«, der einst eines seiner Lieblingsbücher gewesen war. Beinahe die Hälfte der Werkstätte aber füllte ein aufgehäufter Berg, ein wahres Ballenlager von zusammengebündelten alten Zeitungen aus. Wenn er die alle gelesen hatte, dann allerdings war kein Wunder, wenn er ein klein bißchen übergeschnappt war.

Deschl, nachdem er mehrere Minuten lang starren Blickes seine Werkstätte betrachtet hatte, ohne sie zu sehen, ließ den Türgriff fahren, als löse er sich von allen materiellen Dingen los wie die Seele aus dem Körper, ging hinauf und entfernte sich in der Richtung nach der Feilitzschstraße. Die Werkstattür stand offen, den Schlüssel hatte er stecken lassen.

War sein Gesichtsausdruck im Keller unten in jenem melancholischen Ernst erstarrt gewesen, wie er einen Menschen anfällt, der sich an einer Lebenswende befindet und von seinen bisherigen Plänen und Arbeiten, von denen er sich längst getrennt hat, noch einmal quasi pro forma Abschied nimmt, so sah er nun zufrieden und erleichtert, ja vergnügt aus. Ein frohes Lächeln war auf seinen schmalen, bartlosen Lippen. Sein Blick hing an einem fernen Gedanken, an einer erhabenen, kaum noch greifbaren Idee; über alles Sichtbare glitt er unberührt weg.

Sein Gang war eigenartig. Dadurch, daß er das Körpergewicht ganz nach vorn legte, sah es aus, als berühre er mit den Absätzen den Boden kaum. Seine Freunde nannten ihn deswegen auch den Tanzbär. In der Tat hatte diese Gangart etwas Tänzerisches, nur war seine Figur eher einer Giraffe vergleichbar als einem Bären.

Ein Mann in der bespritzten Kleidung eines Bauarbeiters kam daher. »Servus Georg!« sagte er freudig.

Deschl, ein irrlichthaftes Flattern im Blick, hörte und sah nicht. Er ging vorbei, als ob außer ihm niemand auf der Welt wäre. Kerzengerade und hocherhoben.

Der Maurer stutzte und wäre beinahe an eines der dünnen Ahornbäumchen angeprallt.

»Spinnt er schon wieder!« brummte er halb belustigt, halb ärgerlich im Weitergehen.

Es kommt aber noch jemand.

Aus einem Laden nahe der Feilitzschstraße kam ein Fräulein, den Einkaufskorb am Arm, in der Hand einen irdenen Topf haltend. Sie sah Deschl und lachte. Es freute sie, daß sie ihm begegnete, und außerdem kam es ihr sehr komisch vor, wie er so steil aufgerichtet, erhobenen Hauptes daherstieg wie ein General, der die Front abschreitet. Freudestrahlend, ein Scherzwort auf den Lippen, wie: was sinnierst denn schon wieder in aller Früh, Girgl?, wollte sie auf ihn zugehen, aber was ist denn das? Herr Deschl geht vorbei, steif, ernst, sieht sie nicht! Bevor sie sich von ihrem starren Staunen erholt hat, ist er um die Ecke verschwunden.

Fräulein Lina, die seit zehn Jahren jeden Morgen um diese Zeit die Milch holt, hatte so etwas Ähnliches noch nicht erlebt. Trotz der ziemlich kalten Morgenluft stand sie noch lange vor dem kleinen Auslagefenster des Ladens, aus dem sie gekommen war. »Milch- und Molkereiproduktenhandlung« war mit weißen Ölfarbenbuchstaben auf die Scheibe gemalt. Sie starrte die Schrift an, als hätte sie sie noch nie gesehen. Und hinter dem Glasfenster war wahrhaftig auch nichts Besonderes zu sehen. Ein großer Efeustock, unter dem sich eine kleine, verlassene Kuh aus Gips augenscheinlich arg langweilte. Und doch blickte Fräulein Lina eine ganze Weile nachdenklich in dieses Fenster.

»Warte nur,« murmelte sie, »dir werd' ich schon kommen. So an einem vorbeizurennen! Das gehört sich doch wirklich nicht! Nein, das gehört sich einfach nicht!«

Mit diesen Worten gab sie sich einen Ruck, als wollte sie sagen, was der kann, das können wir auch! Und schritt energisch gestrafft hinweg.

Allerdings dachte sie noch ziemlich lange über diesen Vorfall nach. Fräulein Lina Obermeier.


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