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XXXIX.
Die Geschichte einer Liebe

Während Benson noch sprach und herumfuchtelte wie Advokat, umdüsterte sich Yatsumas Ausdruck mehr und mehr und seine Gesichtsmuskeln zuckten seltsam. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und hielt mit beiden Händen oben seinen Kopf, als schmerzten ihn die Gehirnpartien, auf die nach Dr. Mendone die geistigen Störungen lokalisiert waren. Die Sonne kam heraus (es muß ein Versehen gewesen sein) und wärmte ein wenig, wenn auch nur mit einem dünnen Schein, der aber so verheißungsvoll war, als müßten im nächsten Augenblick die Anemonen aus dem gefrorenen Boden schlüpfen.

»Was ist los,« sagte Benson, »hast du Zahnweh?«

Yatsuma schüttelte den Kopf.

»Mir taucht eine Erinnerung auf. Ich kann es nicht sagen, was es ist. Es kommt immer deutlicher. Warte nur. Störe mich nicht, bitte! Schon künftig, vor einigen Jahren, als du dich bei der Maroniverkäuferin wärmtest, zuckte ein ähnliches Gefühl wie ein Schatten an mir vorüber. Ja, setzt weiß ich es! Es war vor langer Zeit, in Europa. Ich sehe die Brücke aus Holzbalken über den Bach, und dahinter liegt der zugefrorene See, auf dem die Menschen Schlittschuhlaufen. An der Brücke stand eine alte Frau, die gebratene Kastanien verkaufte. Ich glaube, es war dieselbe. Dort habe ich ihr für zehn Pfennige Maroni gekauft.«

»Wem?«

»Dem Mädchen!«

»Du sagst doch immer, man darf nicht kaufen und verkaufen!«

»Gewiß, aber damals habe ich von dem grausigen Zustand der Welt noch nichts gewußt. Wir gingen Hand in Hand zum See hinüber. Ich schnallte ihr die Schlittschuhe an. Es war Konzert. Am Abend saßen wir oben im Restaurant, im ersten Stock, und tranken ein Glas Bier. Ich rauchte eine Zigarre, und in der Linken hielt ich ihre kleine Hand. Sie hatte zwei lange Zöpfe und eine rote Mütze –«

»Ich wollt', ich hätte was zu rauchen!« seufzte Benson.

»Dann sahen wir uns länger nicht«, fuhr Yatsuma fort. »Es wurde Frühling und eines Abends begegneten wir uns vor unserem Haus. Sie mußte Bier holen in einem Krug aus blauem Glas, und ich begleitete sie. Zuerst ging ich hinter ihr drein. Bei unserem Haus an der Zaunecke war eine Petroleumlaterne. Ich mußte achtgeben. Wenn diese vorsintflutliche Laterne angezündet wurde, dann setzte sich meine Mutter noch eine halbe Stunde ans Fenster um Licht zu sparen, und las in ihrem Gebetbuch. – Unter den dunklen Kastanien bei den Sieben Schwalben holte ich sie ein. ›Wollen wir nicht ein bißchen Schlittschuhlaufen!?‹ sagte ich. ›Ja!‹ sagt sie, ›aber ich muß erst das Bier heimbringen. Ich komme dann runter.‹ ›Nein,‹ sage ich, ›wir gehen gleich! Gib mir den Krug, ich trage ihn.‹ Wir gingen durch die Gärten hinaus und über die Wiesen. Es war ganz still und warm. Ein Glühwurm tanzte vorüber. ›Hast du den Krug noch?‹ sagte sie. ›Ja,‹ sage ich, ›ich habe ihn noch!‹ und werfe ihn über die Mauer in den Garten, daß es klirrt: ›Jetzt habe ich ihn nicht mehr!‹ Da legte sie beide Arme um mich. – Mit diesem Krug habe ich alle Familien hinter mich geworfen. – Es wurde sehr spät. ›Du darfst nicht mehr heimgehen!‹ sagte ich. Der Vater hat sie geschlagen. Er war Schneidermeister.«

Benson staunte, daß sein Freund auf einmal ganz vernünftig reden konnte. War er womöglich gar nicht mehr närrisch? Oder war er es überhaupt nicht?

»Wie hat sie geheißen?« fragte er.

»Für andere Menschen war sie die Lina. Für mich war sie ein vollkommener Engel, der im Paradies meiner Phantasie spazierenging.«

»Ja, ja! Ich hab' die meine auch unterm Sonnenschirm kennengelernt! Lina? Und meine Alte heißt Leni! Habt ihr euch geheiratet?«

»Wir waren im Himmel, weil jedes von uns den gefunden hatte, der seiner Liebe wert war. Je mehr wir uns aber näherkamen, desto mehr fanden wir, daß unsere Vorstellung vom Vollkommenen besser war als wir selbst. Wir liebten uns glücklicher als andere, weil wir dem Vollkommenen näher waren als andere. Und doch trennten wir uns, um unserer Vorstellung treuzubleiben. Der Vater ist gestorben. Sie ist Näherin geworden.«

»Das versteh' ich, versteh' ich! Wir haben uns auch getrennt und trotzdem bin ich ihr treugeblieben.«

»Die Geliebte muß imaginär sein,« sagte Yatsuma, »dann dauert die Liebe ewig.«

»Fällt mir gerad ein,« sagte Benson, »warum hast du neulich von mir Papier und Blei verlangt? Wolltest du ihr schreiben?«

»Nicht ihr, sondern der großen Geliebten, der unsichtbaren, unwirklichen, der schönsten und höchsten von allen – aber es hat keinen Sinn. Es sind doch nur Spielereien. Eigentlich, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich nur einmal wirklich geliebt: ich sah eine junge Dame, es war auf dem Bahnhof. Wir betrachteten uns und wurden verlegen. Sie stieg ein und winkte mit dem Taschentuch, so lange der Zug sichtbar war. Ich habe sie nie wieder gesehen.«

»Vielleicht hat sie dich gar nicht gemeint mit dem Winken?«

»Kann auch möglich sein. Seien wir froh, Benson, daß wir nicht mehr in Europa sind, daß wir uns, da die ganze Welt europäisch geworden ist, übernatürlichen Gegenden zugewendet haben. Meine Bahn durchläuft die irdische und die kosmische Welt. Die Erde ist groß, aber größer ist das Universum. Ich werde mich, ob es nun übermorgen ist oder gestern, der Tag ist unwichtig, auf einen anderen Stern begeben. Laß uns vergessen und fröhlich sein, Benson! Ich war reich und angesehen, von einem königlichen Weibe geliebt, von irdischen Ämtern und Würden umgeben und erhöht, von den Menschen geachtet und geehrt! Das Beste an diesen Besitzungen war, daß sie mir nicht geschadet haben. Meinem Stande zum Trotz bin ich in schäbigen Kleidern gegangen, denn auf die Würde, die vom Sonntagsanzug ausgeht, habe ich verzichtet und dem Respekt des Publikums und seiner lächerlichen Ehrerbietung, die nur Äußerlichkeiten gelten, habe ich einen Tritt gegeben. Ich trug keinen Titel und verkehrte mit armen leidenden Menschen, die kein Ansehen genießen. Meine Gelder und Papiere, Häuser, Güter und Besitzungen verschenkte ich wie einen Besenstiel –«

»Die Häuser auch? Das hätte ich nicht gemacht!«

»– und bin von meiner Frau fortgegangen. Denn sie hat sich meiner dann am meisten geschämt, als sie am meisten Grund hatte, mich zu lieben.«

»Ja, wie die Weiber sind! Wenn ich mal um elf, zwölf heimgekommen bin, dann war der Teufel schon los! Man begreift es einfach nicht!«

»Das ist es eben, was ich an dir schätze! Wer für alles einen Begriff hat, mußt du dir merken, dem fehlt das Wesen. Wer aber das Wesen hat, dem fehlen alle Begriffe!«

»Und trotzdem bist du immer fidel und kreuzvergnügt. Du kommst mir genau so vor wie ich. Mir ist meine Alte davon –«

»Nicht trotzdem,« sagte Yatsuma, »sondern gerade deswegen. Das ist ja der Sinn der Heiterkeit!«

»Ich versteh' dich schon, aber ihr habt doch nicht geheiratet?«

»Wie?« sagte Yatsuma.

»Du sagst doch, ihr habt nicht geheiratet?«

»Wer?«

»Du!«

»Wann?«

»Vorhin doch!«

»Du meinst morgen?«

Auweh, dachte Benson, schon wieder vorbei mit dem lichten Moment! Dann war vielleicht auch das mit den Häusern und Grundstücken nicht wahr! –

Die Sonne war in einer Sintflut von Wolken ertrunken. Es fing zu regnen an, sie erhoben sich.

»Gehen wir in die askanische Stromniederung hinab,« sagte Yatsuma etwas spöttisch, »wo die langbeinigen Wasservögel herumstehen wie eine Konferenz von Gelehrten, und gravitätisch auf und ab promenieren wie Hochschulprofessoren. Einer steht auf einem Bein nachdenklich abseits und starrt in eine schlammgrüne Pfütze. Er grübelt, wie man den hochprozentigen Schwefelgehalt des Wassers am lukrativsten verwerten kann!«

»Nein,« sagte Benson, »gehen wir lieber in die Stadt!«

Yatsuma blieb stehen und sah seinen Freund an.

»Ich weiß nicht, Benson –« sagte er, »mir ist auf einmal, als hätte ich ungeheuer viel Zeit verloren –«

»Haben wir auch, Freund, haben wir auch! Mit dem Reden wird es heute wieder nichts, das seh' ich schon! Das geht nicht so weiter! Wir müssen vorwärtskommen, wir müssen viel mehr Energie aufbringen!«

Yatsuma gab ihm stumm die Hand und drückte sie lange und innig.


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