Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLVI.
Im Krater des feuerspeienden Berges

Später, als Benson immer noch nicht kam, zog er den dicken Mantel an. Er war zwar recht heiß, aber das paßte ja gerade in seine Theorie, daß man den Unbilden der Witterung nicht ausweichen darf. Langsam entfernte er sich aus der Gegend, wo Wald und Wiesen wie von der Großstadt angeknabbert aussehen, turnte über aufgeweichte Äcker, weglose Felder, Hecken, Gräben und Bäche hin, und zog sich manche unnötige Fußverstauchung und Sehnenzerrung zu, immer getrieben von seiner unheilbaren europäischen Krankheit, hinter Strapazen und Gefahren dreinzujagen wie ein Lebemann hinter seidenen Unterröcken, und manchmal ging er sogar auf der Straße. Körperlich war sein Zustand erbärmlich, aber seine Gedanken waren heiter. Einer Idee sich hinzugeben verleiht bekanntlich übermenschliche Kräfte. Man darf aber auch nicht vergessen, daß seine erotische Enthaltsamkeit eine unerschöpfliche Kraftquelle bildete, die ihn immer wieder aufstellte, wenn er umfiel und zusammenhielt, wenn er im Begriffe war, sich in seine einzelnen Bestandteile aufzulösen.

Mittlerweile, nach unverschämten Stürmen, Hagelschauern, verrücktem Aprilwetter, gemeinem Schneetreiben und hundekaltem Regen bis tief in den Mai hinein, war es, man möchte es nicht für möglich halten, aber ich würde es nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre, war es Frühling geworden. Nicht nach Yatsumas Meinung, sondern tatsächlich. Ganz unschuldig, als ob es nie anders gewesen wäre, schaute die Sonne erhitzt stechend auf die frisch grüntapezierte Welt herunter. Und wenn sie das tut, das ist das Merkwürdige, dann wird diese Hölle, die wir zum Unterschied von der anderen Erde nennen, augenblicklich und wahrhaftig ein Paradies. Wenigstens in Romanen und Gedichten.

Himmlisch war die Stelle des frühen Morgens, das erste Zirpen der erwachenden Vögel, die noch nicht ausgestorben sind, die langen taukühlen Schatten über besonnten Wiesen, die alle an den Meistbietenden verpachtet werden, köstlich der Genuß der würzigen, von Blüten- und Kräutergerüchen wie von narkotischen Golfströmen durchzogenen Luft, wenn kein Fabrikschlot und keine parfümierte Dame in der Nähe war. Yatsuma legte sich irgendwo hin. Vollgesogen von der Frische der strömenden und summenden Erdkraft erneuerten und vertieften sich seine Gedanken – mancher Sommerfrischler hat es beinahe auch nicht schöner, nur daß er eben nicht zu denken braucht. Yatsumas Blick aber hing durstig an den Grenzen des Horizontes, die Ungeduld des Unersättlichen trieb ihn immer wieder vorwärts, der fernsten Ferne nach, wenn er dabei auch im Kreis herumging, die sich aber doch jeden Tag neu aus dem Dunst hob, wenn die Sonne endlich herauskroch, Nebel und Feuchtigkeit aufsog und, um sich für die lange Verbannung gründlich zu rächen, mörderisch aus wolkenlosem Blau herunterbrannte.

Dieses Herumlatschen an den wenigen schönen Tagen, die uns nordischen Nebelmenschen beschieden sind, gefiel Yatsuma noch mehr, wenn er zufällig niemand begegnete und in dem Genuß seiner Einbildung schwelgte, daß er sich in Gegenden befinde, die vielleicht noch nie eines Menschen Fuß betreten hat. Und wen die umhergestreuten Sardinenbüchsen, Schokoladepackungen, illustrierten Zeitungen und anderen Käspapiere, die den deutschen Wald schmücken, nicht weiter stören, der hat ganz recht, wenn er sich seinen Eichendorffschen Gefühlen rückhaltslos hingibt. Das Übernachten machte Yatsuma keine Schwierigkeit, er legte sich ins dichte Jungholz oder unter eine mächtige Tanne, die das schlagbare Alter noch nicht ganz erreicht hat, und erwachte mit einem chronischen Darmkatarrh, oder errichtete sich, wenn es regnete, von den Fichtenrinden, die die Holzfäller abschälen, ein kleines Dach über seinem bleichen Haupte. Was hilft aber die schönste Wildnis, wenn es nichts zu essen gibt. Das deutsche Quellwasser, wo es entspringt, ist zwar hervorragend und in der ganzen Welt nichts Gesünderes zu finden, aber von Eicheln, Bucheckern, giftigen Pilzen und den paar Brombeeren, die die Beerenweiber und Sonntagsausflügler übersehen, wird nicht einmal ein Philosoph satt, wenn er auch die Tollkirschen noch so sicher für melanesische Hülsenfrüchte hält. Wenn er darum soviel Tannennadeln (die in der Tat ähnlich wie Eukalyptusbonbons schmecken) gekaut hatte, daß er für alle Ewigkeit gegen Bronchialkatarrh gesichert war, trieb es ihn langsam wieder den oberbayerischen Ansiedlungen, Kampongs, Pfahldörfern und Kartoffelfarmen zu.

Es war ein Juninachmittag. Yatsuma schlich ermattet durch ein Dorf. Es war ziemlich weit von München, so an die fünfundzwanzig Kilometer, aber auf irgendeine Weise muß er doch hingelangt sein. Der blendend weiße Staub lag wie verlorenes Mehl auf der Straße. Die Hitze preßte seinen Schädel, saß ihm mit Zentnerlast im Nacken, als ritte ihm ein lästiger, alter Kerl, der sich immer schwerer auf den Rücken hängt und die Schultern in die trocken brennenden Gelenke preßt. Nichts rührte sich. Doch, hinter einem Zaun kläffte ein wütender Hund. Wäre er frei gewesen, er hätte den Wanderer zerrissen. Einige Kinder, nachdem sie ihn zuerst angegafft hatten wie das Vieh auf der Weide einen Vorübergehenden, liefen hinter ihm drein, die größeren warfen ihm Steine und Roßäpfel nach. Yatsuma hielt sie für Menschen, entweder Dakotas oder Comanchen. Er ließ es unentschieden; es konnten ebensogut Oregon- oder Detroitindianer sein. Es wäre zwar nicht nötig gewesen, daß er seine Phantasie so weit spazierengehen ließ. Die Oberbayern sind mindestens so interessant wie die Chippewas, Oskainas und Huitotos zusammengenommen, wenn nicht mehr. Der einzige Nachteil, den sie haben, ist, daß sie so nahe da sind, wodurch sich mancher, der nur Fernliegendes schätzt, irreführen und desinteressieren läßt.

»Werte Krieger!« wandte er sich an die Kinder, »ich bin erfreut, daß ihr mich so freundlich begrüßt, aber mir liegt nichts an äußeren Ehren und Umständen. Ich liebe das Unauffällige und Unscheinbare! Begebt euch in eure Wigwams und erwartet den kommenden Tag, der euch das Sonnenlicht wiederbringen wird! Empfehle mich! Gute Nacht!«

Ein wildes Geheul und ein Hagel von Steinen folgte seinen Worten. Er schleppte sich noch einige hundert Meter über einen Himbeerschlag, wo lichte Birken auf braunen Moosinseln standen und die Kerzen der Heideröschen in rotglühenden Büscheln flammen, bis sie von Ausflüglern gesammelt und in geschmacklose Blumenvasen gesteckt werden, und legte sich dann nieder wie zum Sterben. Aus einem kleinen Sumpfwasser knarrten schläfrig die Frösche.

Als er erwachte, stand über der dunklen Waldschlucht ein flackernder Feuerschein. Es war durchaus nicht der Awatschavulkan bei Petropawlowsk auf Kamtschatka, wofür er sich hätte köpfen lassen, sondern nichts als ein Johannisfeuer, das die Dorfbevölkerung nach uraltem Brauch, der von den Gelehrten entdeckt und wieder erneuert worden war, auf einem kleinen Hügel am Dorfrand angezündet hatte. Das schaurige Bild der finsteren Gestalten der Ureinwohner, die das Feuer umsprangen, ihre wilden Schreie und Gesänge ängstigten ihn nicht im mindesten. Selbst als ein Herr aus der Stadt, der die Gelegenheit der Feier zur politischen Agitation benützt und einige Fässer Bier gestiftet hatte, eine Ansprache hielt, als alle betrunken waren, sogar dann ergriff Yatsuma nicht die Flucht, obwohl er der Meinung war, daß man das Reden, wenn es schon sein müsse, lieber ihm überlassen sollte. Diesen übertriebenen Mut sollte er aber teuer büßen müssen: ein Spaßvogel wandte sich an ihn und forderte ihn auf, gleich den anderen über das Feuer zu springen. Jeder Anwesende, sagte er, müsse den Brauch mitmachen. Yatsumas Eifer zur Beteiligung war so gering wie bei jemand, der gewohnt ist, die Sitten und Feste der Bewohner aller Erdgegenden zu respektieren, ohne sie mitzumachen. Denn wenn man viel dergleichen kennt und gesehen hat, und sei es selbst nur in der Einbildung, dann ist die Lust mitzutun nicht mehr sehr groß. Doch glaubte er sich der Aufforderung nicht entziehen zu sollen, sowohl aus Höflichkeit, um die Kamtschatken, Tschuktschen, Kalmücken, oder wofür er sie hielt, nicht zu verstimmen, wie auch in der Absicht, vielleicht doch bei Gelegenheit, wenn der Taumel des Festes verrauscht war, etwas vernünftiger mit den Leuten zu reden als jener agitatorische, zweifellos gut bezahlte Agent. Er nahm sofort einen Anlauf und sprang über das Feuer, aber nicht ganz hinüber, das heißt hinübergekommen wäre er schon, denn seine Beine waren lang genug dazu, aber er hatte seinen Kräften zuviel zugemutet, bekam das Übergewicht und stürzte zurück statt nach vorwärts, mitten in die prasselnden Scheite hinein. Zu seinem Lobe muß gesagt werden, daß er auch nicht einen einzigen Ton des Schreckens von sich gab, der zwar bei dem fürchterlichen Gelächter auch nicht gehört worden wäre. Einige besonnene Männer aber, die die Ansicht vertraten, daß es nicht angenehm sei, bei lebendigem Leibe geröstet und gebraten zu werden, zogen ihn rasch heraus, wälzten ihn im Gras, gossen, wenn auch ungern, einige Liter Bier über ihn und erstickten seine glimmenden Lumpen mit ihren dicken Joppen. Yatsuma war dank seiner Magerkeit noch nicht ganz verbrannt. Er biß die Zähne zusammen und sah sich um, ob Benson noch nicht komme. Er hätte seine Hilfe gut brauchen können.

Zum Glück, das er ja immer hat, war aber ein Arzt zugegen, der Tierarzt der Nachbargemeinde, der zur Untersuchung einer kranken Kuh im Dorfe war. Er befahl, den Verbrannten ins Wirtshaus, das einzige der Ortschaft, zu tragen, und verlangte Verbandzeug und Salatöl.

Yatsuma war ganz hübsch zugerichtet. Seine langen Locken und sein Bart waren verbrannt. Benson hatte sie schon immer abschneiden wollen, aber keine Schere gehabt. Nun war ihm Rasieren und Haarschneiden erspart. Zwar waren auch einige Quadratzentimeter Haut mitgegangen, aber sehr viel schmerzlicher wäre eine Behandlung durch einen oberbayrischen Landbader auch nicht gewesen. An seinem Kopfhaar war nicht viel verloren, übel verbrannt aber waren seine Hände und am schlimmsten der Rücken, mit dem er ins Feuer gestürzt war. Sein alter, moosigschillernder Gehrock hatte ein so großes Loch, daß, als man ihn zum Verbinden auszog, die zwei von ihm so geliebten Flügel abfielen, so daß ein zwar unsymmetrischer aber doch ein Rock daraus geworden war.

Die Wirtin verweigerte die Abgabe von Salatöl, da es ja nicht für eine kranke Kuh, sondern nur für einen Menschen gehörte. Sie habe nur mehr eine halbe Flasche im Haus behauptete sie, die sie am Sonntag, wenn die Ausflügler aus der Stadt kommen, notwendig brauche, weil sie nicht wisse, wo sie am Sonntag eines herbekommen soll.

In diesem Fall, sagte der Tierarzt, müsse man sich eben behelfen. Der Verband müsse rasch angelegt werden, oder sonst solle ihm einer wenigstens ein Stück Butter bringen.

Die Bauern, die herumstanden, schienen diese Sprache nicht zu verstehen. Keiner rührte sich.

»Wär' er nicht hineingesprungen,« schimpfte und lamentierte die weit und breit unbeliebte, bauchige Wirtin, deren Kopf allein schon so groß war wie eines anderen Menschen Leib, »wär' er nicht hineingesprungen, dann hätte er sich nicht gebrannt. Muß man's halt bleibenlassen, was man nicht kann. Wenn ich da jedem wildfremden Menschen helfen müßte, da hätt' ich viel zu tun, da würde man das ganze Jahr nicht fertig! Ich brauch' meine Sachen selber, wo alles so teuer ist!«

Der Tierarzt, gewohnt mit Tieren umzugehen, verlor die Geduld immer noch nicht. Mit beherrschten Worten aber bestimmt verlangte er das Öl gegen Bezahlung und verpflichtete sich außerdem, eine neue Flasche für den nächsten Tag zu besorgen. Das Öl soll ihr teuer zu stehen kommen, dachte er. Nicht nur, daß ich es ihr auf die Rechnung hinaufsalze – – –!

Yatsuma wimmerte anfänglich leise, dann, als er verpackt war wie eine Mumie und nur mehr seine Nasenspitze aus den weißen Lappen heraussah, verstummte er: bei seinem Sturz in den Krater des feuerspeienden Berges war ihm nämlich eine neue Idee aufgestiegen, die ihn so lebhaft beschäftigte, daß er alles andere darüber vergaß. Am liebsten hätte er sich sofort erhoben, um unverzüglich an die Ausführung seines neuen Gedankens zu schreiten, aber das war leichter gedacht als getan. Die geringste Bewegung verzehnfachte die brennenden Schmerzen.

Ein Bauernbursche brachte ein in grüne Blätter eingeschlagenes Stück Butter. Der Veterinär brauchte es nicht mehr, aber er sagte nichts, wickelte es in ein Papier und steckte das Paket Yatsuma in die Rocktasche.

Er hatte nach der Sanitätskolonne des nächsten Marktes telephoniert. Als er zurückkam, war sein Patient nicht mehr in dem Zimmer, in das sie ihn gelegt hatten, er war nicht mehr da. Er suchte und fragte herum – Yatsuma war verschwunden. Kopfschüttelnd ging der Doktor, nachdem er das Krankenhaus noch einmal angerufen und den Wagen abbestellt hatte, hinaus. Die Wirtin trat ihm, aus der Küche kommend, in den Weg.

»Sie entschuldigen schon, Herr Doktor, wissen's, es war nicht so gemeint, ich bin mit den Nerven so herunter, wir haben zuviel Arbeit, den ganzen Tag in der Küche stehen und jetzt kommt die Feldarbeit –«

»Da können Sie froh sein! Es gibt Leute genug, die keine Arbeit und nichts zu essen haben!«

»Es ist halt zuviel, ich weiß schon, daß Sie gern helfen, Herr Doktor, ich bin ja genau so. Soviel Sorgen hat man mit dem Vieh die ganze Zeit, das glaubt kein Mensch, was das ist, bald fehlt dies, bald fehlt das, alle Augenblicke ist ein anderes Stück Vieh krank, da macht sich kein Mensch einen Begriff, was das heißt, was man da die ganze Zeit für Sorgen und Aufregungen hat –«

Ohne eine Miene zu verziehen ließ der Tierarzt den üblen Schwall über sich ergehen.

»Ich helfe auch wo ich kann,« ging die Klappermühle fort, »vorige Woche war ein armer Reisender da, der hat umsonst bei uns übernachtet und hat auch sein Glas Bier gekriegt –«

»Das gehört sich auch! Von wem soll denn ein armer Teufel etwas bekommen, wenn nicht von denen, die etwas haben?«

»Haben, ja mein Gott, da meinen die Leut immer, was man hat! Wir haben nix als ein Haufen Leut und Arbeit, Schulden haben wir, ja, Schulden und Steuern zahlen, wenn man auch Haus und Hof und Grund hat, aber wir haben kein Geld, wir sind ärmer wie andere. Wissen's, Herr Doktor, wenn man da jeden unterstützen würde, da gibt es zu viele, da würde man so ausgenützt, daß es ganz aus ist –«

Der Doktor hatte genug. »Das können Sie halten wie Sie wollen,« sagte er ganz ruhig, »da kann Ihnen niemand Vorschriften machen. Was mich betrifft, wenn Sie wieder einen Tierarzt brauchen, dann wenden Sie sich bitte an meinen Kollegen. Ich habe heute Ihr Haus zum letztenmal betreten. Guten Abend!«


 << zurück weiter >>