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XLVII.
Dem Mann kann nicht geholfen werden

Alle Wunden heilen einmal.

Auch an Krankheiten gewöhnt man sich mit der Zeit ganz schön. Daß Yatsuma, wenn auch sehnige und zähe, aber etwas sehr dünn geratene Beine besaß, muß ich schon einmal erwähnt haben. Daß er keinen Wert auf Bügelfalten und Halskragen legte, muß auch schon irgendwo vorgekommen sein. Sonstige Kleinigkeiten sind rasch aufgezählt: er hinkte ein wenig, das kam von den wunden Fußsohlen. Sein abgezehrtes Gesicht war nicht von Wind und Wetter gebräunt, sondern farblos gelb und von Mücken zerstochen. Es war wohl, wie bei manchem, der der Literatur nahesteht, etwas zu wenig Blut in ihm. Sein Bart wucherte seit dem Brandunglück noch unordentlicher als vorher; Zähne besaß er nicht mehr viel, aber doch noch genug, um sich noch von Zeit zu Zeit mehr Zahnschmerzen leisten zu können, als einer, der den ganzen Mund voll gesunder Zähne hat. Frostbeulen, entzündete Augen, erfrorene Ohren, Darmkatarrh, Schnupfen, Husten, Stechen, Rheumatismus, das sind nur Kleinigkeiten; er war, nehmt alles nur in allem, ein Museum aller irdischen Mängel. Um jedes einzelne seiner Leiden und Gebresten, jede seiner Besonderheiten würdigen zu können, müßte man einen Führer durch ihn wie durch eine medizinische Ausstellung herausgeben.

Aber wie steht es im übrigen mit ihm?

Ausgezeichnet! Seine neue Idee, er hatte ja schon einige Male Andeutungen über sie gemacht, war die: daß es für ihn, dem schon soviel, ja fast alles gelungen war, ebensowenig ein großes Kunststück sein könne, nun überhaupt aus der Erde hinaus und in andere Welten und auf andere Gestirne zu gehen. Wie eine Erleuchtung hatte ihn dieser Gedanke überfallen, so daß er sich wunderte, warum er nicht schon längst auf diesen einfachen und naheliegenden Einfall gekommen war. Doch war er nun, da er eben die Lösung in der allereinfachsten Weise vor sich sah, begreiflicherweise so glücklich und begeistert, als hätte er den Haupttreffer der süddeutschen Staatslotterie gewonnen.

Augenblicklich störte ihn nur ein wenig, daß ihn hungerte. Eine dumpf unklare Unbehaglichkeit, aus dem Innern des Leibes kriechend wie ein scheußliches Unwohlsein, hinderte ihn, seiner Idee sich sofort mit ganzer Ausschließlichkeit hinzugeben. Auch Benson war nicht mehr da, wo war er geblieben? In seiner Gesellschaft war das Leben trotz mancher Unbehaglichkeit vielleicht doch leichter gewesen. Nun, nach seinem Verschwinden, mußte sich Yatsuma, welche Pläne ihn auch immer bewegten, von den natürlichen Instinkten getrieben, erst wieder die unbewußte Gewohnheit der Nahrungssuche aneignen, was ihm jetzt, wenigstens anfänglich, schwerer fiel als einst, da er ausgewandert war. Bis er, oder vielmehr derjenige Teil seines Wesens, der sich ohne sein Mitwissen damit befaßte, mit der Zeit wieder gelernt hatte, darin zu leisten, was möglich war.

Wo ist Benson? dachte er. Hat er sich verirrt? Oder nimmt ihn eine andere Aufgabe in Anspruch? Vielleicht führt er meine Mission zu seinem Teil und nach seinen Kräften auf der Erde fort, während ich weiterreise? In solchem Fall scheiden persönliche Rücksichten aus. Um einer großen Aufgabe willen ist der Egoismus Pflicht und, wenn es nicht anders geht, Rücksichtslosigkeit oder Grausamkeit eine ebenso hohe Tugend wie sonst ihr Gegenteil!

Bei diesem Gedanken zog er einen Gegenstand aus der Tasche, hielt ihn auf der Hand und betrachtete ihn nachdenklich. Es war eine Tabakdose besonderer Art. Benson hatte sie, als er noch Gefangenenaufseher war, von einem eingesperrten Landstreicher, weil er ihm ein freundliches Wort gegeben, geschenkt bekommen und sie Yatsuma später zum Andenken verehrt. 2m Gefängnis angefertigt, bestand sie ganz aus gekautem Gefängnisbrot, das mit der Zeit steinhart wird, und dem unter Verwendung von abgeschabtem Ziegelsteinmehl und etwas Stiefelschwärze zu dem Elfenbeingelb des versteinerten Brotes noch ein braunroter und ein blauschwarzer Farbton beigemischt war. Die Form und Ornamentik, auf der einen Seite einen Stern, auf der anderen eine Blume darstellend, war primitiv hübsch, der Stöpsel stellte eine Hand vor. Man hätte die Arbeit für eine Töpferei irgendeines Neger- oder Indianerstammes halten können, wie die ethnographischen Museen sie aufbewahren.

Er stand auf der Landstraße zwischen Berg am Laim und Trudering. Stand und betrachtete die Dose; so lange, daß er schon längst nicht mehr an sie dachte.

Frau Benson, alias Berger, stocherte in dem Gemüsegärtchen neben dem Hause, in dessen Dachgeschoß sie wohnten, in der Erde zwischen fleißig gesäter Petersilie, Rüben, Kohlköpfen, rotblühenden Bohnen, Zwiebeln, Sommerastern und Malven. Von Zeit zu Zeit erhob sie sich und spähte kopfschüttelnd über den Zaun: immer noch stand die verwahrloste Mißgestalt reglos wie eine Statue mitten aus der Straße.

Benson war in der Arbeit. Nach Feierabend pflegte er, wenn es nicht regnete und die Kinder zu Bett gebracht waren, in Hemdärmeln und gestickten Pantoffeln zwischen seinen zwei Beeten hin und her zu latschen. Eine lange Pfeife baumelte ihm auf den Bauch herab, der seit seiner reuigen Heimkehr sichtlich in gemütlich gedeihender Zunahme begriffen war, da er die zwei obersten Hosenknöpfe schon nicht mehr zubrachte.

»Die zwei Knöpfe, Leni,« pflegte er jeden Abend zu sagen, »hast du mir immer noch nicht versetzt!«

»Ja, wann denn? Wenn du die Hose die ganze Zeit anhast?«

»Anhast? Wer soll denn die Hose anhaben? Du vielleicht? Du kannst es doch im Anhaben auch machen!«

»Nein, das geht nicht, da nähe ich dir noch den Verstand an! Aber das schadet nicht, sonst verlierst ihn vielleicht noch einmal! Also erinnere mich hernach!«

» All right!«

Dann setzte er sich auf eine umgestülpte Zuckerkiste, die sein Mädchen zum Sammeln von Pferdemist benützte, den sie zum Düngen der Gemüsebeete brauchten. Und sein rundwangiges Antlitz leuchtete gesund zufrieden im rötlichen Abendschein.

»Was ich noch sagen will, Leni,« begann er dann manchmal, »wenn einmal ein Handwerksbursche oder ein Bettler vorbeikommt, daß du mir den nicht fortschickst. Das Stückchen Brot macht uns auch nicht mehr arm!«

»Das hast du mir schon hundertmal gesagt!«

» Well! Ich sage bloß. Denn ich muß immer an die Zeit denken, wo es mir auch so gegangen ist!«

Und dann erzählte er merkwürdige, ganz sonderbare und unglaubhafte Geschichten und Erlebnisse aus seiner Wanderperiode. Und das Knopfannähen war wieder vergessen. –

Als erinnere sich die Frau dieser Abende, erhob sie sich und spähte über den Zaun: endlich hatte sich die seltsame Figur auf der Straße in Bewegung gesetzt und kam langsam näher. Und richtig, als wüßte der Mann, daß es hier nicht vergeblich war, blieb er vor dem Zaun stehen und streckte seine Hand herein.

»Warten Sie einen Augenblick!«

Frau Berger ging ins Haus und kam mit einem großen Stück Brot zurück.

»Nein, behalten Sie das nur«, sagte sie, weil ihr der Mann etwas geben wollte, so eine Art Schnupftabakdose, oder was es war.

Schweigsam entfernte sich Yatsuma und aß das Brot. Es schmeckte wie italienische Salami.

*

Später, in der Stadt, blieb er abermals stehen. Wieder hielt er die Dose in der Hand, wieder oder noch immer betrachtete er sie. Es sah schon beinahe so aus, als überlegte er, ob er sie nicht verkaufen könne, was wenig Sinn gehabt hätte. So altmodisch-merkwürdiges Zeug, beschädigt und schmutzig, will niemand haben. Die Fabrikwaren sind neuer, blendender und billiger.

Nach einer Weile schien Yatsuma zu sich zu kommen wie jemand, der sich in Gedanken verlaufen hat und plötzlich sieht, wo er sich befindet. Das sah er zwar nicht, aber er bemerkte einen Jungen, der an einer Plakatsäule lehnte und lachte. Der Bursche hatte ihn die ganze Zeit beobachtet, seine regungslose Haltung, sein Gemurmel, sein starres Geschau auf die ausgestreckte Hand mit dem sonderbaren Gegenstand. Yatsuma hielt ihm die Dose hin:

»Da!«

Der Junge zögerte.

»Nimm's nur!«

Langsam, mißtrauisch griff er zu und wich, nichts Gutes erwartend, rückwärtsgehend aus. Als er sah, daß der komische Mensch ihm weder nachging, noch ihn weiter beachtete, rannte er davon wie ein Dieb.

Kam aber nicht weit. Die Szene war beobachtet worden. Ein Mann trat ihm entgegen: »Halt! Was hast du da? Zeig' her!«

Der Junge hielt ihm die Dose hin.

»Da hast du eine Mark!«

Der Mann steckte die Dose ein und entfernte sich. Er hatte einen staubgrauen, einmal schwarz gewesenen Hut mit schmierigem Band und weiter, schlapper Krempe auf, unter dem weiße Haarsträhnen hervorquollen. Am Arm trug er einen dunkelgrauen Lodenmantel. Halb sah er wie ein Kunstmaler aus, halb wie ein jüngerer Bruder von Lloyd George. Verblüfft schaute ihm der Bursche nach.

Die Tabakdose gelangte am selben Tag noch in den Besitz Doktor Mendones, der sie seiner Raritätensammlung einverleibte.

*

Eine Stunde später, Mendone wollte sich eben zum Abendbrot zu Tisch setzen, schrillte die Telephonklingel.

»Hoffentlich nicht wieder die übergeschnappte Baronin! Die bildet sich wohl ein, ich behandle meine Patienten telephonisch. Laß nur, Elichen, ich geh schon hin!«

Sie hörte nur: »Ah – jawohl! Ja, ich komme gleich! Gut! In zwanzig Minuten bin ich da!«

Was sie nicht hörte:

»Grüß Gott, Herr Doktor, hier Gluth. Ich bin mit Herrn Yatsuma im Café Noris, können Sie herkommen? Also, wir warten auf Sie!« –

»Ein Patient in der Leopoldstraße,« erklärte Mendone, »auf fünf Minuten kommt's nicht an, ich kann noch ganz gemütlich essen. Den Tee trinke ich hernach.«

Mit bemerkenswerter Gelassenheit aß er zu Abend, obgleich es ihm nicht recht schmeckte, schlüpfte in seinen senfgelben Sommerpaletot, es war ein ausnahmsweise milder Abend, stülpte den Strohhut auf und ergriff den Spazierstock.

»Ich bin gleich wieder da!«

Eli geleitete ihn zur Tür und horchte seinen Schritten nach. Als er um die Ecke war, schlug Mendone ein rascheres Tempo an. Im Café angekommen, mußte er seine beiden Genossen erst suchen, sie saßen unsichtbar in einem der verschachtelten Winkel, die eigentlich den Pärchen bestimmt sind, die es vor lauter Zärtlichkeit nicht mehr aushalten. Zuerst begrüßte er Yatsuma, der sich erhob und steif zeremoniell verbeugte. Er roch wie ein Bauer, der vom Pflügen heimkommt. Gluth hatte den bartlosen Doktor im ersten Augenblick fast nicht erkannt.

»Sie leben also noch? Ich habe erst heute zu meiner Frau gesagt, mit Gluth ist es natürlich wieder nichts. Monatelang hat er nichts von sich hören lassen!«

Gluth zuckte mit den Schultern. »Es ging nicht anders. – Wir haben inzwischen gespeist. Herr Yatsuma ist mein Gast. Es war ganz gut, aber etwas teuer.«

»Ja, es wird alles wieder teurer! Was haben Sie Gutes gegessen?« fragte Mendone, während er Yatsuma unauffällig betrachtete.

»Ich habe seit vierzehn Jahren nichts gespeist«, sagte Yatsuma. »Wir aßen gedörrte japanische Birnen oder Pfirsiche und Gefrorenes. Es war vorzüglich.«

Yatsuma war, seit ihn der Doktor zum letztenmal gesehen hatte, sehr gealtert. Der tolle Bart machte natürlich auch viel aus. Es war unheimlich, ihn anzusehen. War er damals, als sie ihn ins Krankenhaus brachten, schon ein Gespenst gewesen, so war er jetzt nur mehr der blasse Schatten eines solchen. Und doch schien eine undefinierbare elektrische oder radioartige Kraft von ihm auszugehen; man hatte den Eindruck eines strahlenwerfenden Elementes, das in einer mehr als unscheinbaren Hülle unsichtbar aber unbesieglich verkörpert ist, und dieses Gefühl versöhnte mit seinem wenig anziehenden Äußeren. In meiner vierzigjährigen Praxis, dachte Mendone, ist mir so etwas nicht vorgekommen. Alle Menschen sterben wie gemäht, vorsichtige, gepflegte Leute kratzen in den besten Jahren ab, wenn man es am wenigsten erwartet, gesunde, kraftstrotzende Naturen fallen um, wie vom Blitz erschlagen – und dieser ununterbrochene Selbstmörder zieht sein Leben in die Länge wie eine Gummischnur. Er fällt tagtäglich in ein frisch geschaufeltes Grab, seufzt ein wenig, steht auf und geht vergnügt weiter! Andere hängen mit verzweifelter Inbrunst am Leben, wollen lieber alle Leiden der Welt auf sich nehmen, wenn sie nur dableiben dürfen (statt ihnen zu entsagen), da sticht sie ein Luftzug und beendet ihren Herzschlag. Ihm, der sein Leben jeden Tag von sich wirft, fällt es immer wieder zu, wie ein Los, das immer gewinnt. Ich finde keinen Ausdruck für das Gesetz, das diesen fadenscheinigen Knochenbau beseelt, der brennt und doch nicht verbrennt, wie Asbest –

»Was ich sagen wollte,« wandte sich Mendone an Gluth, »ein Patient von mir hat eine Farben- und Lackfabrik. Er wäre bereit, obwohl die Zeiten schlecht sind, einen Mann, den ich ihm empfehle, einzustellen. Hätten Sie keine Lust, Herr Yatsuma, den Versuch zu machen? Soviel ich weiß, handelt es sich um eine ganz leichte Tätigkeit.«

Steif, reglos wie eine ägyptische Holzplastik, saß Yatsuma da, den Blick seiner kindlichen Augen unverwandt auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, als erblicke er da ein freundliches und sehr interessantes Gefilde irgendwo außerhalb dieser Welt.

»Mit meinem Auftauchen ist eine neue Zeit angebrochen«, sagte er.

»Daran zweifle ich nicht«, meinte Mendone. »Aber –« er überlegte, wie er fortfahren sollte, »finden Sie nicht, daß die Menschen im allgemeinen nur da sind, um sich gegenseitig das Dasein zu erschweren? Es gibt beglückende aber seltene Ausnahmen. Die Wahrheit zu sagen ist der Gipfel der Waghalsigkeit. Sie ersehen es schon daraus, daß die Polizei Sie des Aufruhrs beschuldigt, wenn Sie Ihre Ansichten aussprechen. Die Entwicklung der Welt hat das Genie in die Verbrecher- und Irrenhausabteilung gedrängt. Für Begabungen ist kein Platz mehr, sonst wären wir alle mit zwanzig Jahren schon Minister geworden; und hätten dann mit fünfundzwanzig unser Amt niedergelegt, weil wir eingesehen hätten, daß uns unsere Persönlichkeit wertvoller ist, als irgendein Posten. Darum heißt es, die Arbeit nicht ansehen, die die Hand verrichten muß. Das hundertköpfige Ungeheuer Kapitalismus, gegen das die Drachen des Altertums stubenreine Haustiere waren, zwingt uns zur Entscheidung: auf der einen Seite die Idee, das Ideal, auf der anderen das wirkliche, tägliche, brutale Leben. Auch ich arbeite nicht, um zu verdienen, ich verdiene nur, um arbeiten zu können. Warum denn absolut den Ehrgeiz haben wollen, ein Leben fortzusetzen, von dem erlöst zu sein Lebende und Tote froh sind? Deswegen ist ja nicht gesagt, Herr Yatsuma, daß Sie Ihre innere Laufbahn aufgeben müssen. Sie haben Ruhe, niemand stellt Ihnen nach, Sie erneuern Ihre Kräfte und werden Ihr Wirkungsfeld vielleicht vergrößern und befestigen!«

Yatsuma schwieg lange.

»Soviel ich verstehe, Herr Präsident,« sagte er schließlich, »verjüngt sich die Welt augenblicklich. Entweder übermorgen oder vorgestern. So genau läßt sich das nicht sagen. Wenn aber nicht, dann bleibt sie wahrscheinlich die alte. Mich interessiert es eigentlich nicht mehr sehr stark, wenigstens augenblicklich nicht. Was hier zu tun war, habe ich geleistet. Aber selbst wenn ich keine Hand und keinen Fuß gerührt hätte: mein Vorhandensein allein hat genügt, die Menschheit einen herrlichen Schritt vorwärtszubringen. Wer ihn versäumt hat, verschuldet es selbst. Mein Weg geht unterdeß weiter, ich kenne keine Pausen. Und ich sehe nicht ein, warum ich ewig ausgerechnet auf der Erde bleiben soll, diesem,« er lächelte, »diesem Planeten fünfter Größe mit seinen schäbigen zwölftausend Kilometern Durchmesser und seinen fünf Kontinenten, die einem schon zum Hals heraushängen!«

»Dann beabsichtigen Sie also«, fragte Mendone, »andere Sterne aufzusuchen?« Das kommt davon! dachte er. Natürlich, wenn jedes Zeitungsblatt jeden Tag alle fünf Erdteile bespricht, dann kriegt man langsam genug davon. Nun sind die verschiedenen künftigen Ausflüge auf den Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun dran, und dann hat man auch langsam wie vom Zeitungs-, so vom ganzen Sonnensystem die Nase voll. Man ist dann nicht mehr nur lebensüberdrüssig, sondern weltallüberdrüssig –

Yatsuma aber sah so zufrieden aus wie einer, der weiß, daß er morgen zur Abwechselung an die Riviera fährt.

»Ja, es ist ja auch zum Aus-der-Welt-fahren!« sagte Mendone.

Das Schweigen, das sich hierauf breitmachte, war auf seiten Mendones von einiger Melancholie gesättigt. Er zog sein Zigarrenetui heraus und steckte sich gemeinsam mit Gluth (Yatsuma hatte verbindlich gedankt) eine seiner vorzüglichen Brasil an.

Auch Gluth blickte seinem Rauch nach, als ballten und lösten sich in ihm ganz besondere, ungreifbare Probleme.

Nicht einmal eine Zigarre nimmt er an, dachte der Doktor. Ein schwieriger Mann, hol's der Kuckuck!

»Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, Herr Yatsuma,« sagte er, »bitte äußern Sie ihn unverzüglich! Als unser Gast sind Sie dazu verpflichtet. Und welcher Sterbliche wäre wunschlos!«

Yatsuma schaute ihn an. Dann, als habe er kein reines Gewissen, auf die Tischplatte. Schließlich bedeckte er seine Augen mit der Hand.

Mendone nickte dem Maler bedeutungsvoll zu, als wollte er sagen: er hat schon einen! Nur werden wir ihn wahrscheinlich nie erfahren!

Dem war nicht so, nach einer Weile blickte Yatsuma auf.

»Allerdings,« sagte er lächelnd, »die bedeutendsten Menschen zeichnen sich in der Regel durch besonders lächerliche Schwächen aus. Diese Komposition nennt die Sprache der Poeten einen Helden. Wäre ich in Europa, dann hätte ich mir eine Prise Tabak gewünscht, ein im Inneren Asiens immerhin seltenes Erzeugnis. Es sind wohl mehrere Jahrzehnte vergangen, seit ich die letzte Prise zu mir genommen habe.«

»Ich werde den Gegenstand«, sagte der Doktor und gab Gluth einen Stoß mit dem Ellenbogen, »sofort besorgen lassen. In wenigen Augenblicken werden Sie das Gewünschte besitzen.«

Yatsumas Augen leuchteten dankbar. Und Gluth sann verzweifelt in die Luft, wo er mitten in der Nacht ein Päckchen Schnupftabak herbekommen könnte. Auf einmal kam ihm eine Erleuchtung: in der anderen Ecke des Kaffeehauses saß gewöhnlich eine Runde Spießer beim Kartenspiel. Er hatte sich nicht getäuscht. Bereitwilligst, mit gehäuften Versicherungen des Vergnügens, lieh ihm einer von den Hubern seine Tabakschachtel. Yatsuma, dem er sie triumphierend überreichte, nahm mit gutem Anstand nur eine schwache Dosis und fügte sie fast geräuschlos, wenn auch mit äußerstem Wohlbehagen, seinem ausgeprägten Riechorgan ein.

Dem Doktor fiel plötzlich ein, daß er nach Hause telephonieren müsse, er habe einen Bekannten getroffen und sich etwas verspätet. Eli war noch wach und über sein Ausbleiben nicht gerade erbaut.

»Ich fürchte mich so allein in der Nacht!«

»Ah, bah, sei doch nicht kindisch, Eli! Benütze die Hälfte der Energie, die du manchmal gegen mich aufwendest, und du wirst jeden Räuber in die Flucht schlagen!«

Die Verzweiflung, jede halbe Stunde seines Daseins argwöhnisch kontrolliert zu wissen, hatte ihm diesen etwas sarkastischen Humor entlockt. Aber seine Stimmung war noch nicht gehobener, als er an den Tisch zurückkehrte und sah, daß Gluth den Mantel anzog und im Begriff war, mit Yatsuma abzuschieben.

»Ich habe kostbare Zeit verloren,« wandte sich dieser an Mendone, »mit Ihrer Erlaubnis, Herr Konsistorialrat, verabschiede ich mich. Lassen Sie der Niedergeschlagenheit keinen Raum! Wenn der Wille zum Ziel vorherrscht, kann die Schwäche keinen Boden finden! Leben Sie sehr wohl, Exzellenz, ich wünsche Ihnen alles Gute, und hoffentlich sehen wir uns doch nicht mehr wieder!. Bon jour!«

Gluth drehte sich um, er mußte unwillkürlich lachen. Mendone hatte ihm noch zugeflüstert, er solle Yatsuma bei sich schlafen lassen, für alle Unkosten komme er auf.

Die Kellnerin schaute dem mehr als armseligen Gast geringschätzig nach und kicherte. Zum Glück hatte es Mendone nicht bemerkt. Solche Taktlosigkeiten gegen einen armen Wehrlosen konnten ihn in schrecklichen Zorn versetzen.

Er bestellte sich noch ein Glas Bier. Zum nach Hause gehen fehlte es ihm am rechten Mut. Es tat ihm wohl, mit seinen Gedanken allein in der rauchigen Ecke zu sitzen, in der er schon manches medizinisch-menschliche Rätsel durchgrübelt hatte. Obgleich wahrlich nicht mehr jung, fühlte er durchaus nichts von jenem phlegmatischen Bedürfnis, in ehelicher Geborgenheit wunsch- und tatenlos zu verdämmern. Und er sog an der letzten Zigarre, die er bei sich hatte, als söge er das würzige Aroma der letzten Züge seiner Freiheit ein.

Ach was, blies er die Betrübnis von sich, ein denkender Mensch kann nie Gefangener sein! – Es war ein verfehltes Experiment heute abend. So geht es nicht, die Sache muß anders angepackt werden. Es war ein Versuch. Ich werde sehen, was sich machen läßt, übrigens hat mich die Ermunterung dieses unverwüstlichen Optimisten, so komisch sie war, anscheinend doch etwas aufgeplustert. Es muß mir gelingen, ihm zu helfen, und es wird mir gelingen!

Als Mendone um Mitternacht nach Hause kam, war Eli noch wach und nähte. Er hörte zwar keinen Vorwurf, aber das verschnupfte Schweigen war noch unangenehmer und verletzender. Eine richtiggehende Gardinenpredigt wäre ihm beinahe lieber gewesen. Er verstand es nicht; so hatte er sie noch nie gesehen.

Den anderen Tag um acht Uhr rief Gluth schon an.

»Ich konnte Ihnen gestern nicht alles sagen! Also: der Begleiter von Yatsuma war ein ehemaliger Gefängniswärter. Er heißt Berger, ist verheiratet und wohnt in Berg am Laim. Er ist zu seiner Frau zurückgekehrt und arbeitet jetzt bei der Eisenbahn. Ferner: Yatsuma heißt mit dem vollen Namen Yatsuma von Landen. Sein bürgerlicher Name ist Georg Deschl. Er besitzt ein kleines, halb eingefallenes Haus in der Occamstraße.«

»Wie, ein Haus? Gehört es ihm?«

»Jawohl. Seine Eltern sind gestorben. Das Häusel ist sein Eigentum. Wenden Sie sich an Herrn Josef Götz, Feilitzschstraße elf, zweiten Stock. Ein früherer Freund von ihm. Der hat den Schlüssel und weiß auch alles Nähere.«

Der Doktor notierte die Namen und die Adresse. »Gut, ich werde mich erkundigen. Hat er bei Ihnen übernachtet? Was hat Ihre Frau gesagt?«

»Wir waren nicht in der Wohnung, sondern im Atelier.«

»Ach so, das ist ja viel praktischer!«

»Natürlich, meine Frau würde wohl wenig entzückt sein.«

»Kann ich mir denken. Ein Liebling der Frauen ist er schon nicht. Die gibt es nur im Kino! Haben Sie ihm den Tabak besorgt, und was bedeutet die antike Vase, die Sie mir in die Hand gedrückt haben?«

»Das ist seine Tabakdose. Ich werde Ihnen später sagen, wie ich zu diesem sonderbaren Gegenstand gekommen bin.«

»Schön. Und was sagt er zu dem gestrigen Abend?«

»Ganz merkwürdig –«

»Wie?«

»Der Mann, sagt er, ist der Teufel in Menschengestalt!«

»Wie, ich habe nicht verstanden?«

»Sie wären der Teufel in Menschengestalt!«

»Nicht übel! Möglicherweise hat er auch noch recht. Wie mögen da erst die anderen Menschen beschaffen sein, wenn ich ihm schon einen so hervorragenden Eindruck mache. Und wo sind Sie jetzt, ist er noch bei Ihnen?«

»Jawohl! Wir gehen zusammen spazieren. Ich immer hundert Meter hinterdrein!«

»Gut so. Wie kommen Sie miteinander aus?«

»Man muß eben auf ihn eingehen, dann geht es schon.«

»Natürlich, das muß man ja bei jedem Menschen! Ich werde mir also noch verschiedenes überlegen. Wir haben die Sache gestern verkehrt angepackt. Können Sie heute zu uns kommen, ach so – könnten Sie ihn nicht mitbringen?«

»Ich will sehen, ob es geht –«

»Rufen Sie mich einfach an, dann werden wir sehen, was wir tun können. Brauchen Sie Geld, Sie müssen doch zusammen essen. Ich werde es Ihnen schicken.«

»Ich brauche kein Geld, Herr Doktor. Ich rufe also wieder an; also, grüß Gott!«

»Auf Wiedersehn!« – – –


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