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XX.
Unter kaukasischen Straßenräubern

Yatsuma hatte die Stadt wieder verlassen. Doch mußte er, gleichsam zur Erprobung seines Charakters und zur Festigung seiner Grundsätze, noch manches Erlebnis bestehen, bevor es ihm vergönnt war, sich in der ersehnten Abgeschiedenheit ungestört inneren Betrachtungen und Versenkungen hinzugeben.

Es war einer der schönen Tage, welche den erwachenden Frühling, der nicht kommt, verheißungsvoll und mit der Wehmut sehnsüchtiger Übertreibung ankündigen, als er, es muß wohl in Milbertshofen oder da herum gewesen sein, an einer Straßenkreuzung etliche junge Burschen stehen sah. Anfangs nahm er an, daß es gewöhnliche Tagediebe und Vagabunden seien, und er hätte sich mit dieser Ansicht dieses Mal ausnahmsweise nicht so sehr geirrt, wenn er nur dabeigeblieben wäre. Sie sahen nicht aus wie Mitglieder des katholischen Jünglingsvereins.

»Sieh mal,« sagte er, »die Vagabunden sind doch auf dem ganzen Erdenrund zu Hause! Nur wundert mich, daß sie im Spätherbst noch auf der Straße sind. Für diese Leute wäre es Zeit, ans Überwintern zu denken und sich einsperren zu lassen.«

Er war näher gekommen und sah sie deutlicher. Jetzt kam es ihm so vor, als hätten die jungen Burschen Hundeköpfe. Der eine einen Windhundschädel, der andere den eines Bulldoggen, der dritte den eines Seidenpinschers, obwohl sie genau so und um kein Haar anders aussahen, als wie eben solche Leute aussehen. Sie umringten und begrüßten ihn mit: »Wo aus? Woher? Wohin? Was machst du?« – es war ein seltsames, tolles Gebell, er wußte nicht, was er zuerst antworten sollte. Er beschloß, eine abwartende Haltung einzunehmen, da er sich nicht ganz im klaren war, ob er es mit Armeniern, Kurden oder Persern oder mit einem vielleicht ganz unbekannten Volksstamm zu tun habe, wenngleich einer von ihnen, anscheinend der Intelligenteste, aussah wie ein Njam-Njam.

»Liebe Freunde,« antwortete er, und die Anrede schon rief ein verständnisinniges Lächeln hervor, »ich begrüße es, daß es auch in dieser weltentlegenen Gegend Wanderer gibt, welche, wenn sich die Sonne einmal blicken läßt, als würde sie nie wieder verschwinden, dieser berauschenden Lüge nicht widerstehen können und sogleich zum Vorschein kommen wie die Zugvögel oder wie die Eidechsen, die aus den Felsenspalten und Ritzen der Weinbergmauern schlüpfen. Ich komme, nebenbei gesagt, aus Syrien und Mesopotamien und möchte entweder über Persien und Turkestan, oder, was ungefähr derselbe Weg ist, über den Kaukasus und das kaspische Meer nach Zentralasien vordringen.«

Die drei Burschen sahen sich an, als wollten sie sagen: den haben sie in Eglfing ein wenig zu früh laufen lassen. Der älteste zwinkerte den anderen zu – er hatte seinen Plan bereits gefaßt. Er war ein finsterer, schweigender Mensch, von untersetzter Figur. Von seiner Unterlippe zog sich über das Kinn weg eine Narbe, wohl von einem Messerstich oder Schnitt herrührend, die ihn unangenehm entstellte: er konnte die Lippen anscheinend nicht schließen, so daß sie stets parallel offen standen und seine langen Nagezähne sehen ließen, wie bei einem Hund, der einen Schnauzenfehler hat.

»Der Kaukasus«, sagte er, »liegt gleich dahinten!« Er zeigte auf einige Müllhaufen auf einem Schuttabladeplatz. »Wir führen dich hin, aber du mußt auch was tun. Du gehst jetzt in das Kaff da und nimmst die rechte Seite, wir nehmen die linke. Was zusammengebracht wird, wird verteilt. Jeder bekommt das gleiche.«

»Wenn ich recht verstehe,« sagte Yatsuma, »so wünscht ihr, ich soll betteln.« Er schien nicht sehr davon erbaut zu sein, aber die Haltung des Mannes mit den Nagezähnen hatte etwas, das ihn nicht lange sich besinnen hieß: »Wenn es denn sein muß, will ich mich dieser Sitte nicht widersetzen, unter der Bedingung, daß ich es nicht für mich tue, sondern für Sie. So wird mein Grundsatz nicht verletzt.«

Yatsuma hätte zwar keine so großen Umstände zu machen brauchen. Es verging ja kein Tag, an dem er sich nicht zusammenbettelte, was der Magen braucht, wenn er nicht einschrumpfen soll wie ein Kanzleirat. Aber freilich, beneidenswerter Zustand! er wußte ja nichts davon.

»Das ist uns gleich,« sagte der mit der Narbe, »bring aber nicht lauter Brot daher, lieber ein bißchen Kleingeld, verstanden!«

Yatsuma ging in die Ortschaft.

»Den sehen wir nicht mehr!« sagten sie und schlenderten in einiger Entfernung langsam hinter ihm drein. Tatsächlich aber sahen sie ihn in jeden Laden, in jedes Haus eifrig hineingehen und waren noch erstaunter, als der Sonderling am Ortsausgang auf sie wartete und ihnen, was er eingeheimst, getreulich, in ein Stückchen Zeitungspapier eingewickelt, ablieferte. Er hatte nichts Eßbares bekommen, nur Geld. Das Brot war zu jener Zeit sehr knapp und ohne Lebensmittelmarken für teures Geld nichts zu bekommen.

Der Narbige, da ihm eine solche Ehrlichkeit noch nicht vorgekommen war, ärgerte sich über soviel Dummheit und ließ seinen Übermut nun erst recht an ihm aus. Was er denn eigentlich wolle, sagte er, mit den paar Kröten da, ob er sich über seine Kollegen lustig machen möchte? Ob er glaube, weil er so dünn sei wie ein Zahnstocher und mit einem Pfund Brot vierzehn Tage lang auskomme, daß andere Leute auch nichts zu essen brauchen?

Dabei rückte er ihm so nahe auf den Leib, daß sich ihre Nasenspitzen fast berührten, so daß es für Yatsuma gefährlich wurde, husten oder nießen zu müssen. Auch die anderen gruppierten sich drohend herum. Wäre Yatsuma ein normaler, vernünftiger Mensch gewesen, so wäre ihm vielleicht die Geduld ausgegangen. So aber, da er sich von ganz besonderen und allerdings sehr sonderbaren Grundsätzen leiten ließ, antwortete er:

»Hören Sie mich nur eine Sekunde lang an, meine lieben Freunde: meine Taschen sind nicht einmal darauf eingerichtet, etwas zu behalten, das mir gehört, geschweige fremdes Gut, wie man sich leicht überzeugen kann,« er kehrte sie um und zeigte ihnen die durchlöcherten Lappen, in denen nicht einmal Brotkrumen oder Tabakstaub war, »und wie diese mangelhaften Behälter, genau so bin ich selbst beschaffen! Schenken Sie mir einen Augenblick Geduld und die Meinungsverschiedenheit, welche unter uns herrscht, wird ausgeglichen, das Mißtrauen, welches sich eingeschlichen, im Nu zerstreut sein! Jeder Streit ist häßlich und traurig und mir aus tiefster Seele zuwider. Jedem Menschen ohne Unterschied, selbst dem Bösewicht freundlich und liebevoll zu begegnen, zähle ich –«

»Ich geb' dir gleich einen Bösewicht!« unterbrach ihn der Narbige und schnitt ihm die stilistisch sehr schön angelegte Erklärung mit einem so kräftigen und gutgezielten Faustschlag auf den Mund ab, daß Yatsuma glaubte, die wenigen Zähne, die er noch besaß, schon im Magen zu spüren. Er taumelte und hielt sich an dem Baum, vor dem er gestanden hatte, fest.

»Und jetzt schenkt ihm jeder noch eine richtige, dann laßt ihn laufen!«

Dieser Aufforderung hätte es gar nicht bedurft. Als die beiden anderen sahen, daß Yatsuma für Ohrfeigen so empfänglich war und es nicht einmal der Mühe wert fand, sie wieder zurückzugeben, stürzten sie sich wie ein Sturmwind auf ihn und bearbeiteten seinen Kopf so energisch, daß es ihm schwarz vor den Augen wurde. Der Anführer sah sich schon um, ob niemand komme. »Macht doch endlich Schluß!« rief er seinen Trabanten zu. Denen gefiel aber der Spaß so gut, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, auch einmal wieder aufzuhören. Bis Yatsuma den Baum losließ und zu Boden taumelte, mitten in eine kotige Pfütze hinein, wo sie ihn liegenließen.

Wenn auch im Augenblick etwas unangenehm, war es doch ganz gut für ihn, daß die Unterhaltung auf diese Weise ein rasches Ende fand. Denn wenn er sich am Ende noch hätte hinreißen lassen, den drei Männern seine Grundsätze noch ausführlicher zu entwickeln oder ihnen seine Philosophie womöglich vollständig vorzutragen, so wäre er wahrscheinlich nicht mit dem Leben davongekommen und hätte es auch nicht anders verdient.

Als er, ich weiß nicht nach wie vielen Stunden, wieder so weit war, ans Aufstehen zu denken, befühlte er sich vorsichtig, fand sein Haupt verschwollen, zerbeult und feucht von Blut und betastete an manchen Stellen Geschwulste von der Größe eines Hühnereis.

Lange noch dachte er über den Hergang und Verlauf dieses eigentümlichen Unfalls nach. Und er fühlte sich, der körperlichen Schmerzen ungeachtet, recht zufrieden dabei. Er fand, daß sein Verhalten richtig gewesen war und daß er es ein zweites Mal nicht besser einrichten könnte.

»Der einzige Vorwurf,« murmelte er, »den ich mir machen muß, ist der, daß ich im geheimen mit dem Gedanken gespielt habe, mir von einem Teil des Geldes, wenn sie es erlaubt hätten, vielleicht ein Päckchen Schnupftabak kaufen zu können. Eine unverzeihliche Untreue gegen meinen obersten Grundsatz! Die Zurechtweisung, die ich von den kaukasischen Räubern empfing, war darum nur der logische Gang des Schicksals, das sich der eisernen Fäuste dieser hundeköpfigen Menschenrasse bedient hat, um mich zur Besinnung aus mich selbst zu bringen!«

Er entwickelte noch mehrere ähnliche Folgerungen aus diesem Gedankengang und fühlte sich in dieser ihm zur zweiten Natur gewordenen, angenehmen und befriedigenden Beschäftigung so glücklich, wie er ohne die Schläge, die er eingeheimst, vielleicht nie gewesen wäre.


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