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LIII.
Drei Wunder

Nicht alle Besorgungen, die Mendone außer seiner Praxis zu schaffen machten, galten der Yatsuma-Angelegenheit, aber weitaus die meisten. Trotzdem war er mittlerweile, seine bittere Abneigung gegen Behörden heroisch überwindend, sogar auf dem Standesamt gewesen, eine Leistung, deren ungeheure Bedeutung er nicht genug betonen konnte. Der Tag der Verehelichung war nun also festgesetzt, die Trauzeugen, Gluth und ein junger dem Doktor befreundeter Arzt, von dem »Termin«, wie er sich ausdrückte, verständigt. Und es war ihm ein angenehmes Gefühl, daß er wenigstens nicht ganz allein zu dieser hinrichtungähnlichen Zeremonie gehen mußte. Fräulein Trondal aber hatten diese Aussichten versöhnlicher gestimmt und wirksamer aufgeheitert, als alle noch so hübschen kleinen Geschenke, Hüte, Handschuhe und Handtaschen, die der Doktor von seinen zuweilen geheimnisvollen Gängen mitbrachte. Die Stimmung in seinem Häuschen war seitdem eine sichtbar und hörbar gehobene, durchzittert und erschüttert von Erregungen, Erwartungen und lustigem Geplapper, wenn auch deswegen noch nicht von allem und jedem Explosionsstoff vollkommen gereinigt. Wenn auch Elis Mundmechanismus störungslos munter vom Hundertsten ins Tausendste funktionierte, alles stimmte doch noch nicht ganz. Die schattenhafte Wolke hatte sich entfernt, hing aber noch irgendwo ständig am Horizont. Mendone wurde ein Gefühl nicht los, als hocke ein unangenehmes Biest irgendwo hinter Schränken in der Ecke, eine recht große Spinne oder ähnliches, und Eli empfand deutlich das Verlangen, rücksichtslos lüftend alle Türen und Fenster aufzureißen und nicht nur der Ordnung halber ein gründliches Großreinemachen zu veranstalten.

Der Doktor war also viel aus dem Haus und Elis eifersüchtige Überzeugung, daß nicht alle Wege zu Patienten führen, war nicht ganz unbegründet. Augenblicklich stand er zum Beispiel in Unterhandlungen wegen des Ankaufes einer kleinen aber doch ganz geräumigen, fast vollständig möblierten Villa in Bogenhausen, ohne natürlich ein Wörtchen davon zu verraten. Im Gegenteil, wenn Eli oft genug seufzend durchblicken ließ, daß ihr Maikäferhäuschen zwar sehr hübsch, gemütlich, romantisch und einfach reizend sei, aber doch eben ein bißchen arg klein und eng, dann hatte er nicht viel davon hören wollen.

»Mein Gott, für uns beide ist es schließlich groß genug. Wenn die Häuser nicht so unverschämt teuer wären! Das ist ja unmöglich! Vielleicht bietet sich einmal eine günstige, billige Gelegenheit. Wäre ja möglich, kann man ja nicht wissen. Wir wollen mal abwarten.«

Dann nahm er, als wollte er sich dem gefährlichen Thema lieber durch die Flucht entziehen, seinen Hut und hatte rasch einen kleinen Weg zu besorgen. Es war ja auch genug zu tun. Die Kaufverhandlung durfte weder schriftlich noch telephonisch geführt werden, er mußte alles mündlich machen; dann war noch der bevorstehende teilweise Umzug zu ordnen, einige Anschaffungen zu machen, eine tüchtige Köchin und Stütze zu engagieren und ähnliche gefahrvolle Abenteuer mehr zu bestehen. Daß aber bald noch mehr dazukommen sollte, fast mehr, als dem Doktor lieb war, das ließ er sich vorläufig freilich noch nicht träumen.

Fast jeden Abend kam Gluth, so auch heute.

»Was gibt es Neues, Herr Gluth, Sie schrecklicher Mensch? Haben Sie etwas gehört?« kam er ihm mit fast ängstlicher Spannung entgegen.

Gluth wußte über den Verbleib Yatsumas nicht das geringste. »Doch,« sagte er, »ich habe einiges gehört.«

»Nun?«

»Einige Yatsuma-Anekdoten!«

»Sehr interessant! Heraus damit! Legen Sie los!« Mendone trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch.

»Es wird alles mögliche erzählt. So zum Beispiel, wie er mit Benson in den Bierkeller einer Brauerei gesperrt wurde und natürlich überzeugt war, daß er sich in einer tertiären unterirdischen Rieseneishöhle, im ewigen Gletschereis und so weiter befinde.«

»Das muß aber schon früher gewesen sein!«

»Möglich. Von dem Benson habe ich eine ulkige Geschichte gehört. Da ist irgendwo eine Wirtschaft, in der man ihn kennt. Die Wirtin heißt Wabi, so sagt jeder zu ihr. So alle acht Tage einmal mindestens ging er da hin, immer vormittags, zu einer Stunde, in der außer der Wirtin niemand da ist, und die ist um diese Zeit gewöhnlich in der Küche. Er geht also in die leere Wirtsstube, schreit ein paarmal hintereinander: Wabi! – Wabi! – und wartet, ob jemand kommt. Es kommt aber niemand, weil die Wirtin in der Küche hinter dem Türspalt steht und ihn beobachtet. Wenn er dann sicher zu sein glaubte, daß niemand da war, ging er her und ließ von den frischen Semmeln, die in den Brotkörbchen auf den Tischen stehen, ein Dutzend in seinen tiefen Manteltaschen verschwinden und kam sich dabei natürlich furchtbar schlau vor. Die Wirtin lachte, sie kennt ihn ja, es wußten's alle Gäste, und wenn einmal einer gerade dasaß, wenn der Semmelfänger von Hameln ankam, dann drehte er ihm den Rücken zu oder ging so lange hinaus. Wenn es ihm also noch so schlecht ging, die Semmeln von der Wabi waren ihm immer sicher. Eine Zuflucht, habe ich immer gefunden, hat auch der Ärmste, wenn sie auch noch so dürftig ist. Anders wäre es gar nicht vorstellbar, wie mancher Mensch das Leben aushält.«

»Eine köstliche Geschichte«, sagte Mendone. »Warum nennt sich dieser Berger eigentlich Benson? Da hat er natürlich einen Roman in irgendeinem Revolverblatt gelesen, und schon hat sich der gute Mann, vierzig Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei Kindern und sonst ein guter, braver und nicht einmal dummer Mensch, den Namen eines Bauchaufschlitzers und Einbrecherkönigs von Peking zugelegt.«

Gluth stellte sich die Sache anders vor. »Der Berger war doch Gefängnisaufseher. Er kann sich da auch von einem, den er gekannt hat und der da eingesperrt war, den Namen zugelegt haben.«

»Auch das. Wozu aber?«

»Er behauptet doch, daß er lieber zu denen gehören wolle, die eingesperrt werden, als zu denen, die andere einsperren und bewachen. Da ist nichts natürlicher, als daß er, romantisch wie diese Leute sind, und um seine Sympathie mit den Sträflingen zu dokumentieren, indem er seinen Gefängniswärtertitel ablegt, dafür einen Verbrechernamen annimmt. – Nun also zu Yatsuma. Bei dem, was da alles erzählt wird, kann man bald das Wahre vom Falschen nicht mehr unterscheiden, es kommt schon fast der Legendenbildung nahe!«

»Das geht uns allen so! Von mir sagt man ja auch, ich sei ein Grobian und Menschenfeind! Die das wenigste wissen, haben immer das meiste zu sagen. Also weiter!«

»Ich weiß nicht, ist es schon länger her – Yatsuma soll in ein Geschäft gegangen sein, um zu betteln. Als er im Laden stand, bemerkte er, daß er noch ein Stück Brot in der Tasche hatte. Er wollte wieder gehen, ohne etwas zu sagen, er besaß ja noch etwas zu essen. Der betreffende Geschäftsinhaber, ich kenne ihn selbst, ist bekannt als fürchterlicher Geizhals. Es kauft fast niemand bei ihm, er wiegt schlecht, beschummelt, ist noch unfreundlich dabei und so weiter. ›Was wollten Sie denn?‹ fragt er. ›Ich –‹ sagte Yatsuma, ›ich – hatte Sie fragen wollen, ob Sie etwas zu essen haben, aber ich sehe eben, daß ich noch etwas habe!‹ – ›So, so!‹ sagte der Mann. ›Seien Sie nur froh, daß Sie noch etwas haben! Ich habe nichts mehr! Von mir hätten Sie nichts bekommen!‹ – ›Sie haben nichts?‹ Yatsuma war ganz bestürzt. – ›Nein! Was glauben Sie denn, bei diesen Zeiten! Ich bin ärmer wie Sie, das können Sie mir glauben!‹ – ›Dann würden Sie also‹, meint Yatsuma gerührt, ›etwas annehmen? Ich habe zwar nicht viel, nur ein Stück Brot. Wenn Ihnen damit gedient ist?‹ – ›Warum denn nicht! Das kann man immer brauchen! Ein sparsamer Mensch kann alles brauchen!‹ – Daraufhin gibt er ihm sein Brot und geht!«

»Und der Kerl hat es angenommen?«

»Natürlich!«

»Na, das ist ja zum Totlachen! Hahahaha! Ja, das sieht ihm gleich – aber warum, möchte ich Sie fragen, wird so ein Schuft nicht zum Tode verurteilt? Es wäre vieles besser in der Welt, wenn es weniger Geschäfte und mehr Gerechtigkeit gäbe!«

»Es ist noch nicht aus, es kommt noch so eine Geschichte! Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie es war. Jedenfalls, es handelte sich um einen Streit. Es hatten sich zwei auf der Straße gestritten, fürchterlich gestritten, sogenannte bessere Herren sollen es gewesen sein. Sie warfen sich gegenseitig die lieblichsten Schimpfnamen an den Schädel und waren nahe daran, sich zu verhauen. Yatsuma beobachtet die Geschichte. Am Ende brüllte der eine von den beiden ganz fürchterlich: ›Sie sind ein Narr! Ein elender Narr sind Sie! Sie sind ein kompletter Narr! Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als daß Sie ein vollständig irrsinniger Narr sind! Mit einem Wort, Sie sind ein Narr!‹ Das ging also eine halbe Stunde lang so fort. Yatsuma hört sich die Sache eine Zeitlang an, schüttelt den Kopf und geht schließlich zu dem Herrn hin. Verbeugt sich: ›Entschuldigen Sie bitte, Sie irren sich! Es liegt eine Verwechselung vor: der Narr bin ich! –‹«

Mendone starrte Gluth einen Augenblick an –

»Ach, so – das ist ja zu nett!«

»Wieso?« fragte Fräulein Trondal. »Das verstehe ich nicht! Wie meint er das?«

»Wie er das meint, nja, eine Pointe kann man nicht erklären! Dann hat die Sache keinen Witz mehr!«

»Aber Buzz! Das mußt du doch erklären können?«

»Wenn ich dir sage, wie soll ich das erklären? Können Sie's, Gluth?«

»Schwierige Sache.«

Eli guckte vor sich hin. »Der Narr bin ich? Was meint er damit? Wie ist das gemeint? Was will er damit sagen?«

»Er will damit sagen, daß der Herr sich geirrt hat, wenn er den anderen für einen Narren hält. Sonst nichts, weiter gar nichts.«

»Geirrt, na, ja, und was ist dann? – Das verstehe ich nicht!«

»Du mußt dir die Sache nicht so schwierig vorstellen, dann ist sie leicht zu verstehen!«

»Und jetzt kommt die dritte Geschichte«, fuhr Gluth fort. »Yatsuma begegnete einem Mann, der sehr melancholisch aussah, und unterhielt sich mit ihm. Der Mann war aus irgendeinem Grund oder vielleicht aus gar keinem Grund sehr niedergeschlagen, apathisch, mutlos, verzweifelt. Obwohl sich Yatsuma Mühe gab, ihn durch fröhliche Einfälle aufzuheitern, war alles umsonst, der Mann verzog keine Miene, und wenn er sich auf den Kopf gestellt hätte. Und schließlich fing er auch noch zu schluchzen an. Das wurde Yatsuma zu dumm. ›Geben Sie acht, was ich Ihnen sage!‹ sagt er zu dem Traurigen. Ich weiß es nicht, aber es scheint, Yatsuma ist früher mal Turner gewesen, reisender Artist oder so was: er springt auf die Hände und geht im Handstand um den Traurigen herum und mit dem ernstesten Gesicht von der Welt auf dem Trottoir hin und her. Was bei seinem Zustand allein schon eine Leistung war. Auf der Rückseite seiner Hosen soll er einen Riß gehabt haben, wenn nicht mehrere. Das Publikum, dem so etwas mächtig gefällt, namentlich wenn die Hosen einen Riß haben, lachte natürlich. Aber auch der traurige Mensch, der die Sache von einem anderen Standpunkt sah, mußte lachen. Er soll einen wahren Lachkrampf bekommen haben. Man sagt, er habe sich dann bei Yatsuma sehr bedankt und von selbst erklärt, was er sich vorher nicht hatte sagen lassen: daß seine Melancholie ein Unsinn war. Er war geheilt!«

»Das glaube ich! Man muß ja schon lachen, wenn man ihn auf den Beinen stehen sieht! Aber das hast du doch verstanden, Pony?« fragte der Doktor.

»Doch, das verstehe ich schon! Er hat den Traurigen aufgeheitert!«

»Er hat einen Geizigen beschenkt, einen Wütenden besänftigt und einen Traurigen zum Lachen gebracht. Wo haben Sie denn diese Geschichten her?«

»Was man halt so hört!« meinte Gluth.

»Ich würde es allerdings noch viel wunderbarer finden, wenn der Geizige ihn beschenkt hätte! Aber solche Wunder geschehen in unserer Welt leider nicht. – Jetzt sagen Sie mir nur eines, Gluth,« fuhr der Doktor fort, da Fräulein Trondal hinausgegangen war, um Teewasser aufzustellen, »warum haben Sie mir damals das Bild nicht gegeben? Zweimal habe ich den Dienstmann zu Ihnen geschickt, und zweimal haben Sie es ihm verweigert!«

»Habe ich es nicht ganz recht gemacht? Es war noch einiges daran zu machen – hätte ich es gleich mitgegeben, dann wären Sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß das Bild ein Hochzeitsgeschenk sein soll!«

»Gut. Aber darum handelt es sich nicht. Wir beide kennen uns, ich weiß, daß Sie in solchen Dingen ein Sonderling sind. Aber nehmen wir an, ein Käufer, der Sie nicht näher kennt, hätte das Bild bestellt, und Sie hätten es ihm andauernd verweigert. Dann verzichtet so ein Mann eben darauf!«

»Dann kann ich ihm auch nicht helfen. Kunstwerke sind schließlich keine Leberwürste.«

Eli kam herein.

»Wenn Sie mich nur an dem bewußten Tag nicht auch noch im Stich lassen, lieber Gluth, das wäre wirklich unverzeihlich! Vergessen Sie beim Skizzieren, Komponieren und Porträtieren niemals, daß wir heiraten und daß Sie verpflichtet sind, in einem abgetragenen Anzug als Trauzeuge zu erscheinen! Wenn es nicht anders geht, müssen Sie halt einmal einige Wochen keinen Pinsel anrühren. Solche Pausen schaden nie!«

Gluth versicherte mit heiligen Schwüren seine Zuverlässigkeit.

»Ja,« meinte Mendone, »ich bin sehr ungeduldig und unzufrieden, daß ich nichts von unserem Wundermann weiß.«

Gluth beruhigte ihn. »Ich bin eigentlich unbesorgt. Weit kann er ja nicht sein. Wo soll er denn viel hingekommen sein. Ich bin überzeugt, daß ich ihm jeden Tag begegnen werde!«

»Schon. Das glaube ich auch. Aber mir tut schon jede Minute weh, die ich den armen Burschen draußen weiß. Wer weiß, wie es ihm geht, gut schon sicher nicht. Wir sitzen hier hinter dem Ofen und unterhalten uns prächtig. Ich habe kein sehr behagliches Gefühl dabei. Wir müssen zusammenstehen, Kinder, auch du, Pony, daß wir ihm sein Los etwas erleichtern!«

Er nahm Elis Hand.

»Aber gewiß! Ich freue mich doch, daß du ihm hilfst!«

»Sehr schön!« Mendone war erleichtert und dankbar. »Aber –« fügte er listig mißtrauisch hinzu, »du hast doch erst gestern einen neuen Hut bekommen!«


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