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XXII.
Javanische Sitten und Gebräuche

Es war um die Zeit nach dem ersten Mähen. Yatsuma schlief in Torfschuppen und Heustadeln, oder wenn gar nichts dergleichen in der Nähe war, auf Heuhaufen und Blättern, die manchmal vom Wind zusammengekehrt in Gruben und Halden liegen. Unter Tags war es heiß und schwül bis neun, zehn Uhr abends, sofern es nicht regnete, um drei Uhr wurde es recht kalt, aber um vier Uhr, fünf Uhr, wenn es nicht regnete, langsam wieder warm. Ohne Sinn und Gefühl für Ort und Zeit flogen ihm Länder und Jahreszeiten vorbei, die Jahre schwanden, wie Schnee in der Sonne schwinden würde, wenn sie schiene, und manchmal ergriff ihn eine zehrende Ungeduld. Er meinte, er sei schon zu lange unterwegs und habe zur Erlösung und Beglückung der Menschheit noch allzuwenig getan. Ein andermal fand er wieder, daß ein großer Teil der Menschheit durch seinen Einfluß schon besser und zufriedener geworden sei. Mit vermehrter Energie und Entschlossenheit segelte er dann dahin, um nicht zu rasten und zu ruhen, bis er seine Aufgabe der Vollendung zugeführt habe.

In der Gegend hinter Dachau blieb er vor einem Tümpel der Amper stehen. Wie in seinen Augen sich alles widersinnig und verkehrt spiegelt, erschien ihm das Wasser als Insel und das Land als Wasser.

»Die Insel Java sagte er gedankenverloren.

Ich will nicht leugnen, daß die Landschaft in diesem Augenblick für jemand, der an überschüssiger dichterischer Phantasie leidet, einen gewissen fremdartigen Reiz gehabt haben kann. Das sumpfige Ufer der Gumpe war von mannshohem Schilf verwachsen, aus dem blitzende Vögel flirrten; der sattblaue Himmel (auch so etwas soll schon vorgekommen sein) spiegelte sich in der ruhigen Wasserfläche, blendendes Licht verhüllte die Ferne. Wenn man die Hand vor die Augen hob, leuchtete ein grüner Hügel her, bekrönt von einem alten, schloßartigen Gebäude. Weltferne Stille, behütet vom monotonen Zirpen der Wieseninsekten, schläferte das Land ein. Behutsam ging Yatsuma auf dem weichen Wiesenweg davon, und obwohl ihm die Gegenden, die er durchreiste, angeblich gleichgültig waren, betrachtete er jeden Zweig mit liebevollem Interesse, nur weil er überall javanische Bambussträucher und Gummibäume sah, tropisch verflochtene Palmen, Korkeichen, Kanaris, Luftwurzeln, Aloe- und Agavenblüten, und was sonst noch in botanischen Werken und Unterhaltungsbeilagen abgebildet ist.

Ein sonderbares Geräusch ließ ihn aufhorchen. Es war ein leises Seufzen, fast so, als ob ein großer Vogel einen kleinen tötete, wie er es schon manchmal beobachtet hatte, ein heiseres Ächzen und Jammern, das immer leiser wird. Wenn es verstummt, dann ist der Raubvogel beim Mahl. Zuletzt war es wieder totenstill. Besorgt beschleunigte er seine Schritte. Vielleicht war ein Unglück geschehen, vielleicht konnte er jemand zu Hilfe eilen?

Er trat aus dem Gebüsch heraus und sah einen elegant gekleideten Mann, der eiligst zwischen den Bäumen verschwand. Vor ihm aber, keine hundert Schritte entfernt, sah er eine Bauersmagd zwischen den Düngerhaufen lang ausgestreckt auf dem Rücken liegen, nicht anders, als ob sie vom Hitzschlag getroffen oder ermordet worden wäre. Er schritt auf die Magd zu, und da sie sich nicht rührte, kniete er neben ihr nieder, um zu sehen, ob sie verwundet oder überhaupt noch am Leben war, legte sein Ohr horchend an ihre Brust und vernahm allerdings den zufriedensten Herzschlag, den ein junges Weib haben kann. Sie sah auch nicht im mindesten wie eine Tote aus. Ihr brennender Kopf schien von Gesundheit fast zu platzen, ihr breiter Brustkorb hob und senkte sich in ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen. Die Augen hielt sie geschlossen. Im übrigen aber war sie steif und reglos wie ein Brotwecken.

Yatsuma stand auf und betrachtete die Schlafende.

»Du gute Javanerin,« sagte er leise, »ich weiß nicht, was der Mann, den ich verscheucht habe, im Sinne gehabt hat, dir zuzufügen. Auf diesem von Halunken trächtigen Erdball, dessen Menschheit mehr aus Dieben, Räubern, Mördern, Staatsanwälten und geheimen Kommerzienräten besteht als aus Menschen, ist es nicht schlecht geraten, wenn man jemand, bevor man ihn genau kennt, vorsichtshalber für mindestens eine von diesen Gattungen hält. Ich zweifle nicht, daß es in diesem Punkte auf der Insel Java um kein Haar anders bestellt ist als irgendwo in der Welt. Wo der Mensch lebt, ist das Lügen, Betrügen und Übervorteilen, Rauben, Totschlagen und Buchführen ebenso an der Tagesordnung wie das Mittagessen. Ist denn nirgendwo ein Krug, wie ihn die Bauersleute auf die Reisfelder mitnehmen, damit ich sie besprengen und aus der Ohnmacht erwecken kann?«

Er sah sich hilflos um. Nun fiel ihm erst auf, daß die Daliegende eine recht hübsche, noch blutjunge Dirne war. Die übermäßige Hitze wich langsam aus ihrem gebräunten Gesicht, nur die Wangen behielten eine leise, frische Röte; ihr Kopftuch war nach hinten gerutscht und zeigte ein dichtes hellblondes Haar, das in gefälliger Unordnung wirr über Stirne und Schläfen lag. Der halbgeöffnete Mund ließ zwischen vollen, geschwungenen Lippen etwas breite, aber reizend schneeweiße Zähne hervorblitzen. Erst jetzt kam ihm die ungewollte natürliche Schönheit des Bauernkindes zu Bewußtsein. Unwillkürlich entschlüpften ihm Worte der Bewunderung.

»Doppelt beklagenswert wäre es,« sagte er, »wenn diesem unverdorbenen Kind der Wildnis ein Unglück widerfahren wäre. Seine ungekünstelte Schönheit wiegt einen ganzen Ballsaal voll europäischer Beamtengattinnen auf. Was sind übrigens gesellschaftlicher Stand und erblicher Adel im Vergleich zu Anmut, Reiz der Erscheinung, Verstand, Gemüt und hoher Denkart, durch die Geburt einem Geschöpf verliehen, das nur an allem, was käuflich ist, arm ist? Was nützen dir Reichtum und Vornehmheit, Weib, wenn dich die Natur vernachlässigt hat? Du mußt deine Fehler mit Putz und Kunst verstecken, mit Toiletten, Frisuren, Mixturen, Kämmen und Schwämmen Schönheit und Geist vortäuschen!«

Eine Mücke stach ihn in die Nase. Er jagte sie weg.

»Was wollte ich sagen? Ja, wie mit der gepuderten und bemalten und der natürlichen Haut, so verhält es sich mit der Reinheit und Frische des Charakters und Denkens und mit der aufgeschminkten Empfindung und Sitte. Ein bevorzugtes Geschöpf aus dem Volk übertrifft auch da hundertmal die Mitglieder der verfeinerten, entnervten und kranken Gesellschaftsklasse. In ihr treiben Luxus und Überfluß die Ansprüche ins Schrankenlose, Reichtum und unbegrenzte Gelegenheit begünstigen die Genußsucht, keine Not ernüchtert die Sinne, keine Entbehrung beschämt die Begierde, Langeweile stumpft die Empfindung und überreizt sie, und der gute Ton gibt der schlechten Gesinnung einen vornehmen Anstrich. Benehmen und Sitte gelten als Sittlichkeit, Oberfläche und Seichtsein als angenehmer Vorzug, Verstellung als Wahrheit, Einfalt und Aufrichtigkeit in Tun und Denken als Dummheit und Schlechtigkeit. Alle aber halten ihre Mängel für Vorzüge, weil ein Fehltritt, der die gute Form wahrt, als ungeschehen gilt –«

Yatsuma war im Eifer etwas laut geworden, das Mädchen seufzte, schlug die Augen auf, sah, während es allmählich zu sich kam, einen heruntergekommenen Kerl vor sich, der vor Bartstoppeln nicht aus den Augen sah und über und über beschmutzt und bestaubt war, und stieß einen Schrei aus, als ob sie am Spieß stäke. Yatsumas alter, verschossener Frack war in der Tat nicht mehr sehr schön, noch dazu, da er ihn nach seinem Unfall in Milbertshofen, wo er in der Pfütze gestrandet war, nicht gereinigt hatte und noch die halbe Landstraße auf dem Rücken trug. Das Mädchen hatte sich aufgerafft, um davonzulaufen, Yatsuma faßte seine Hand, aber sie entriß sich ungestüm.

»Beruhigen Sie sich, junge javanische oder malaiische Dame,« sagte er, »es ist kein Grund, sich vor mir zu fürchten!«

Und er faselte noch einiges mehr daher in seiner eigenen, blütenreichen und bonseligen Sprache, die der Bauernmagd vorkam wie die chinesische. Sie überflutete ihn dafür mit den ungefügen, schwer übersetzbaren Ausdrücken ihres ländlichen Dialektes, der dem normalen Deutschen, vom Ausländer nicht zu reden, schon Kopfzerbrechen genug macht.

»Sie verstehen meine Worte nicht,« erwiderte Yatsuma, »die deutsche Sprache ist leider noch lange nicht so auf dem ganzen Erdenrund verbreitet, wie es ihrem Wert und ihrer Bedeutung nach wünschenswert wäre. Indessen zähle ich nicht zu jenen Europäern, die ihr Wesen und ihr Volk in der ganzen Welt in Verruf bringen dadurch, daß sie ihre Sprache auf seelen- und geistlose Weise mißbrauchen –«

Das letzte Wort blieb ihm im Halse stecken, und zugleich spürte er einen Schlag von einem harten, schweren Gegenstand auf dem Kopf, so furchtbar, daß er glaubte, er müsse im Augenblick den Verstand verlieren, soweit er einen besaß. Dabei blieb es nicht bei diesem einen Schlag, der ihn zu Boden riß wie einen gefällten Baumstamm, sondern es folgten ihm in kurzen Abständen noch heftigere und immer mehr und dichter, nicht anders, als ob eine Fuhre Scheitholz auf ihn abgeladen würde. Yatsuma hat aber bei allem, was er erlebt, immer wieder Glück: die Magd erbarmte sich seiner und trat dazwischen. Hätte sie dem Bauern und seinem Knecht nicht Einhalt geboten, so wäre er wohl kaum lebendig davongekommen. Wenn ein bayerischer Bauer einmal ins Zuschlagen kommt, so gehört schon viel dazu, ihn wieder darauszubringen. Ich persönlich würde kurzerhand einige Geschütze ausfahren lassen. Yatsuma hätte zwar kein Mitleid verdient, wenn sie ihn umgebracht hätten. Wer einer oberbayerischen Bauernmagd philosophische Vorlesungen hält, dem geschieht es ganz recht, wenn sie ihm das Dach eindecken.

»Ich habe dich nicht gleich schreien hören,« sagte der Bauer und betrachtete grimmig seinen Peitschenstiel, den er auf Yatsumas Kopf entzweigeschlagen hatte, »wir waren hinter dem Buckel da, und neben dem Fuhrwerk hört man nichts. Bis wir aufs Feld gekommen sind, da habe ich dich wieder gehört, und da sind wir schleunigst 'rübergelaufen und haben's dem Lumpenkerl richtig übergemessen!«

»Ihr habt ihn ja halbtot geschlagen,« sagte die Magd, »das hätt' es nicht gebraucht. Mir war nur angst, weil ich so allein war, und sein dummes Geschwätz ist mir zuwider gewesen.«

»Hätt'st ihm doch die Mistgabel 'neing'rennt, dem Sauhammel, dem verreckten!«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen entfernte sich der Bauer mit der Magd und dem Knecht. Sie verschwanden hinter dem Hügel, über den sie gekommen waren.

Irgendwann muß auch Yatsuma, da er von zäher Natur war, halbwegs wieder zu sich gekommen sein. Denn vielleicht hatte er dabei, weil sein Bewußtsein nur ein halbes war, auch nur den halben Weg zurückzulegen. Er stützte sich auf und versuchte über seine eigentümliche Situation einige Klarheit zu gewinnen. Ohne den brennenden Schmerzen auf dem Kopf, im Rücken und in allen Gliedern viel Beachtung zu schenken, was sie auch kaum gelindert haben würde, interessierte ihn vor allem der Hergang und Verlauf des Auftritts.

»Wenn auch nicht zu leugnen ist,« sagte er, »daß das Vorgehen dieser Menschen der Unüberlegtheit und Wildheit nicht entbehrt, so muß ich zu ihrer Rechtfertigung sagen, daß sie eben Wilde sind. Übrigens weiß ich nicht, ob ein Europäer an ihrer Stelle sehr viel überlegter gehandelt hätte. Dazu ist das heiße Klima dieses Erdteils wie die besonderen Lebensgewohnheiten seiner Bewohner noch besonders zu berücksichtigen. Was aber Grund genug ist, sie fast vollkommen zu entschuldigen, das ist, daß sie aus einem sittlichen Beweggrund gehandelt haben, zum Schutz der Tugend und in der Meinung, daß es galt, einer gefährdeten Unschuld zu Hilfe zu eilen. Sie irrten sich dabei zwar in meiner Person, ihr Impuls aber war berechtigt und anerkennenswert. Es gibt eben doch noch eine Gerechtigkeit, und vielleicht nicht zuletzt durch meinen Einfluß und mein Beispiel!«

Er erhob sich mit diesen Worten langsam und vorsichtig, ohne daß der leiseste Seufzer von seinen Lippen kam. Er hätte nichts dagegen gehabt, sich außer seinem geistigen Trost noch ein nasses Tuch kühlend um den Kopf und auf einige besonders stark verletzte Stellen des Leibes zu legen, wenn einer zur Hand gewesen wäre. So aber verschmähte er solche wehleidige Hilfe und machte sich auf seine müden rhythmischen Beine, um, so gut es ging, noch ein kleines Stück Weg hinter sich zu bringen.


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