Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLIV.
Und der Regen, der regnet jeglichen Tag

Der nordische Frühling ist so langsam, daß er gar kein Frühling ist, sondern nur verlängertes Regenwetter. Er ist wie ein unzuverlässiger Angestellter: zuerst verspätet er sich, und dann wagt er überhaupt nicht mehr zu kommen und bleibt lieber gleich ganz weg.

Gewiß gibt es Tiere, die den Regen mögen. Molche, Schnecken, Regenwürmer, Kröten, Schirmfabrikanten, Gummischuhhändler, Regenmantellieferanten, Lokalbesitzer und dergleichen. Auch die Bauern müssen ihn zu gewissen Zeiten haben. Wenn sie es auch nicht lieben, daß die Felder verfaulen.

Benson trottete ganz erledigt dahin. Seine Schuhe waren ihm zu groß, er klapperte daher wie ein alter Gaul, der zum Schinder geführt wird und bei dem sich die Eisen gelockert haben, pfiff nicht, sang nicht, sprach nicht, brummte nicht und summte nicht. Bei schlechtem Wetter sind alle Menschen in der gleichen Verfassung; sie möchten sich am liebsten gegenseitig umbringen, nur im Klagen, Schelten und Jammern sind sie sich rasch einig. Ihr Wettern ist schlimmer als das Unwetter. Verdammt, in einem Lande zu leben, in dem der Winter die längste Jahreszeit ist, wird ihre Sehnsucht nach Wärme und Licht zur Melancholie, die Kälte und Feuchtigkeit mit in den April, Mai und Juni hineinschleppt wie ein unausrottbarer Katarrh, und die am ersten warmen Tag schon wieder die nassen Nebelschauer des Herbstes ahnt und herbeiruft. Unser Jahr hat nur eine Jahreszeit, eine Melange von Dezember- und Aprilwetter, einen herbstlichen Frühling, einen rauhen Sommer und einen flauen Winter und dazwischen, wenn man Glück hat, zwei, drei Tage, die unbestimmt ahnen lassen, daß es irgendwo, dreitausend Kilometer südlich von uns, so etwas gibt wie Wärme, Sonne, Heiterkeit, Versöhnlichkeit und Daseinslust.

Benson war aber auch von nichts weniger ein Freund als von Rauheiten und Beschwernissen. Das Leben unter freiem Himmel gefiel ihm manchmal ganz gut, unter der Bedingung selbstverständlich, daß die Sonne nicht zu heiß brennt, was bei uns Gott sei Dank selten vorkommt, und der Wind nicht zu kalt weht, was wieder mehr zu befürchten ist. Ein richtiger Landstreicher läßt sich, bevor der erste Reif fällt, einsperren und den Staat für Heizmaterial sorgen. Benson aber hatte genug davon, er war ein braver Familienvater, der einmal ausgerissen, aber doch zu feig und phlegmatisch war, um es länger als ein halbes Jahr auszuhalten.

Die alles zerweichende Näße nahm ihm die letzte Widerstandskraft.

»Siehst du das ausgetrocknete Strombett,« sagte Yatsuma, »in dem sich die granitenen Felstrümmer miteinander unterhalten!«

Ausgetrocknet auch noch, dachte Benson, zum Wandhinaufkrabbeln!

»Der Horizont ist hinter einem Vorhang ungeheurer Waldungen verborgen,« setzte er die Wiedergabe seiner unverdauten Lektüre fort, »die Hängematten der Lianen und Chrysanthemen schaukeln im brennenden Wind! Aber fängt es denn schon wieder zu schneien an? Bei heiterem Himmel? Wenn wir in Europa wären, würde es mich ja nicht wundern!«

»Schneien?« sagte Benson grimmig. »Das ist doch kein Schnee! Das ist Staubzucker! Ein Vogel hat ihn mit dem Schwanz vom Ast gefegt, und da ist er dir auf die Nase gefallen!«

»Staubzucker? Könnte man den nicht sammeln? Was die Natur hervorbringt, gehört ja allen, das darf man ja nehmen und ein kleiner Vorrat kann nie schaden!«

»Wozu denn! Was die Natur hervorbringt, bringt sie immer hervor, wozu also Vorräte anlegen?«

»Ich danke dir, Benson! Das hast du gut gemacht!« sagte Yatsuma gerührt. »Ich wollte dir nämlich ein wenig auf den Zahn fühlen – mit Unrecht: dein Charakter wird jeden Tag gediegener und anständiger. Übrigens fühle ich mich morgen etwas niedergeschlagen –«

»Da bist du fein heraus, ich spür's heut' schon! Wenn du damals in die Partei eingetreten wärst, dann ginge es uns heute und morgen besser! Da hast du einen großen Fehler gemacht, mein Lieber!«

Yatsuma widerlegte den Vorwurf nicht. Er schwieg, er fühlte irgend etwas in sich wanken, ihm schwindelte, er mußte stehenbleiben.

»Erst latscht er durch alle Pfützen, und jetzt bleibt er auch noch stehen!« brummte Benson. »Du willst wohl ein Vollbad nehmen? Ich hab' heute einen großartigen Humor, mein lieber Freund! Ich könnte auf einen Baum überm Wasser steigen, mir einen Strick um den Hals legen und eine Kugel in den Schädel jagen, nachdem ich mir zuvor mit dem Rasiermesser den Bauch aufgeschnitten und zwei Liter Lysol getrunken habe. Ich möchte am liebsten einen umbringen, wenn's nicht so weh täte, es muß ja nicht ausgerechnet ich sein. Mir wird die Sache zu langweilig, ich hab's satt. Ich muß mich um einen Verdienst umsehen, ich geh' zur Besengarde, ich werde Totengräber, Friedhofsgärtner oder Leichenwäscher, Hebamme oder Säuglingsschwester! Ich pfeif' auf alles. Weißt du, was ich möchte? Nur einmal noch Hering in Remouladensoße essen, dann will ich gerne sterben!«

Yatsuma hatte, seit er mit Benson ging, schon längst das Gefühl, daß etwas in ihm nicht in Ordnung war. Er wollte es sich nie recht eingestehen und spürte doch unklar aber deutlich einen unangenehmen, herabziehenden Einfluß. Was war denn eigentlich und überhaupt mit ihm los?

Woher kam er eigentlich, wohin steuerte er? …

Er betastete seinen Kopf. Unruhige Gedanken peinigten ihn. Im Magen spürte er einen unerträglich stechenden Schmerz. Irgendeine der sechsunddreißig Krankheiten, die der Europäer sein unveräußerliches Eigentum nennt (beim ehemaligen Kriegsteilnehmer sind es zweiundsiebzig), schien wieder zum Ausbruch zu kommen.

»Sei nicht kleinmütig, Benson!« sagte er fast flehend, und um sich selbst zu trösten. »Ich kann mich in deine Lage gut hineinversetzen, ich gebe zu, daß es kein angenehmes Gefühl ist, über einem leeren Magen keinen trockenen Faden zu tragen. Aber du hast einen Mantel. Ein Mensch von Willenskraft und Entschluß mißachtet jede Unannehmlichkeit. Wer außergewöhnliche Dinge anstrebt, hat auch außergewöhnliche Martern zu ertragen; es versteht sich von selbst, daß ein solcher Weg mit niederträchtigen Scherereien gepflastert ist, das habe ich dir immer gesagt und dich von Anfang an gewarnt. Du wolltest nicht auf mich hören, aber ich gebe dich jederzeit frei! Auf die Dauer glücklich machen kann nur zweierlei: den Anspruchslosen die Zufriedenheit, den Unzufriedenen die Einsicht. Jeden Verlust wiegt die Freude auf, daß sich dein Denken verbessert hat. Mir ist nur ein Leben der ununterbrochenen Unruhe, Anstrengung und Aufregung erträglich, weil allein ein solches Leben den Geist anspannt, ihn auf Gedanken bringt, die dem Lahmen und Bequemen nicht einfallen, die Fähigkeiten und Kräfte anspornt, läutert und reift und vor dem Verderben bewahrt. Der Mensch ist so veranlagt, daß er durch Unglück erst lebendig wird. In der Befriedigung seiner Wünsche aber verfällt er wie Feuer zu Asche!«

Er beschwichtigte eigentlich sich selbst. Die Worte flossen ihm wie geschmiert von den Lippen, aber, war es die fortwährende Gegenwart Bensons, die so auf ihn wirkte, oder was sonst, noch nie hatte ihm seine Philosophie einen so schalen Nachgeschmack hinterlassen, noch nie hatte er so wenig an das geglaubt, was er sagte. Immer mehr fiel es wie ein Schleier von ihm herab; Vergangenheit und Gegenwart tauchten deutlich auf, Leiden und Entsagungen, sein ganzes, nichtiges, nichtswürdiges, verlorenes Dasein von der Kinderzeit bis zur Mannbarkeit, die ewigen Kämpfe und aussichtslosen Widerstände, alles lag in grellstem Licht der Erinnerung vor ihm, einer Erinnerung, von der jeder einzelne Gedanke eine Verzweiflung wert war. Er sah sich immer allein, immer allein gewesen, immer allein bleibend; von jedem menschlichen Beistand, jeder Hoffnung, jeder Aussicht verlassen, von jedem angegriffen, von niemand geschont; nur er war da, er allein, der einzige, an den er sich wenden konnte.

Wozu das alles? dachte er –

War nicht sein Denken und Handeln und seine so, genannte Aufgabe, war nicht alles purer Unsinn, war nicht sein ganzes Leben vom ersten bis zum letzten Tag ein einziger, riesengroßer Irrtum? Wäre es nicht hundertmal richtiger, vernünftiger, lohnender gewesen, zu leben, wie jeder lebt, zu arbeiten und zu verdienen, oder zu stehlen und zu rauben und sich nichts dabei zu denken, wie es jeder macht? Auf seinen Vorteil bedacht sein, statt auf seinen Nachteil, sich auf sich selbst zu besinnen, und den anderen, wenn sie frech wurden, eine aufs Dach zu geben, statt sich verprügeln und mißhandeln zu lassen? Hat nicht jener indische Fürst mit seinen vielen Frauen ganz recht gehabt, dachte er, der so zufrieden und zuversichtlich in die Welt blickt und Bücher anfertigt, die von hunderttausenden von Menschen verschlungen werden wie Kuchen?

Von diesen peinlichen und beschämenden Anfechtungen und irren Zweifeln herumgeworfen und gestochen, glaubte Yatsuma, er habe seinen Verstand verloren – eben in dem Augenblick, da er ihn wiedergefunden hatte.

Ich bin ein Narr gewesen! sagte er. Alles war falsch, alles verkehrt, alles umsonst! Aber es ist ja schließlich alles ganz gleichgültig. Ob man geht oder steht, ob man so denkt oder so, dies tut oder das, ob man lebt oder nicht lebt, das ist doch alles ganz gleichgültig. Wer fragt darnach, ob ich lebe? Wen interessiert es, ob ich tot bin? Nicht einmal mich. Jeden Tag sterben Hunderttausende in Elend und Verzweiflung, keine Seele kümmert sich darum. Der Beamte, der den Sterbeschein ausfertigt, denkt daran, daß die Zigarren teurer geworden sind, und der Geistliche am Grab ist schlechtgelaunt, weil es regnet und weil mit der vierten Begräbnisklasse nichts verdient ist – – –

Die beiden irrenden Pilger waren in die Nähe der Stadt gekommen.

Yatsuma schlich ausgepumpt daher, wie ein Bergarbeiter, der doppelte Schicht macht, um für seine acht Kinder Essen herbeizuschaffen. Er war lebloser als tot. Denn der Tote weiß doch wenigstens von seinem Zustand nichts mehr. Aber auch Benson war von allen guten Geistern verlassen. Ein zerbrochenes Dach, ein Heustadel, durch den der Regen schüttet, erschien ihm als der Inbegriff aller Herrlichkeit, ein wollener Lappen, den man um den Hals wickeln kann, wunderbarer als alle erträumten Erdgegenden. Er wollte nicht mehr gehen, nie mehr. Nur ruhen, schlafen, nichts denken, immer nur schlafen, tagelang. Aber als er Yatsuma wieder anblickte –

»Geh weiter«, sagte er, denn nun tat er ihm wieder leid, er fürchtete, er könnte umfallen und liegenbleiben. »Geh zu, alter Schwede! Da hinten ist ein Haus. Stellen wir uns hin, da regnet es wenigstens nicht so her!«

Er nahm ihn am Arm, langsam trottelten sie hin und lehnten sich an die Mauer. Es war ein Vorstadtwirtshaus, das vereinzelt dalag. An einer der Fensterscheiben stand angemalt: Gut bürgerlicher Mittagtisch, Schoppenweine, Kaffee, Tee. Drinnen wurde ein Grammophon angedreht. Eine speckige Stimme sang aus der knatternden Platte:

Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern!
Das muß ein schlechter Müller sein,
Dem niemals fiel das Wandern ein,
Das Wandern – das Wandern –

Wenn Yatsuma Musik hört, vergißt er alles. Begierig, verdurstet lauschte er:

Vom Wasser haben wir's gelernt, vom Wasser!
Das hat nicht Ruh' bei Tag und Nacht,
Ist stets auf Wanderschaft bedacht –

Yatsumas Niedergeschlagenheit wurde aufgesogen, verflog wie der Dunst über feuchten Wiesen in der Morgensonne. Die Musik befreite und beschenkte ihn mit Ruhe, Gelassenheit, beglückender Andacht. Und nun löste es sich auch körperlich: der ungeheure Schmerz des Gewissenskonfliktes mündete in haltlose Freude –

O wandern, wandern, meine Lust, o wandern!
Herr Meister –

Er preßte sich an die Mauer, gerade unter dem Fenster, wo angeschrieben stand: Bürgerlicher Mittagtisch, und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Verlegen ging Benson beiseite und betrachtete die zerwaschene Straße, auf der die sprühenden Regentropfen hüpften und kleine Bäche nach allen Seiten rannten.

Yatsuma stand noch eine Weile und kam dann allmählich zur Besinnung, wenn man bei ihm so sagen kann. Er war leicht und froh geworden und gewann auch die Fassung wieder. Fuhr mit der Hand über den Rock, der von der Mauer weiß geworden war, und ging langsam und aufrecht in seiner trotz aller Hinfälligkeit leise schwebenden Gangart davon.

Benson, in seine eigenen Betrachtungen und Zukunftspläne versunken, hatte nicht achtgegeben. Als er sich umdrehte, sah er sich allein, Yatsuma war schon ziemlich weit weg. Er holte ihn ein und humpelte schweigsam neben ihm her. Erst nach einiger Zeit fiel es Yatsuma auf, daß jemand neben ihm ging.

»Ach so –« sagte er. »Entschuldige, Benson, ich hatte dich im Augenblick in der Zerstreutheit ganz vergessen –«

Benson sagte nichts. Über seine munteren, struppigen Backen rollten zwei Wassertropfen. Wohl vom Regen.

Yatsuma, als erinnere er sich dunkel, daß ihm selbst etwas Ähnliches passiert war, verdroß diese Weichlichkeit.

»Was ist denn los? Mir scheint, du heulst? Hast wohl Hunger?«

Das war es eigentlich weniger. Benson hatte mit seinem Mitleid gekämpft, als er den Kameraden am Haus lehnen und geschüttelt sah wie einen Epileptiker. Als er aber bemerkte, daß Yatsuma davonlaufen wollte, war es erst zum Ausbruch gekommen.

»Hunger? Nee, es war was anderes, die Musik hat mich an meine Frau erinnert. Sie hat so wunderschön Grammophon gespielt!«

Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Ja, ja,« sagte Yatsuma, »es ist ja auch ein wunderbares Instrument!«


 << zurück weiter >>