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VII.
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Die folgenden Tage versäumte Mendone nicht, auf seinem Morgenspaziergang durch den Englischen Garten aufmerksam nach Yatsuma auszuspähen. Daß er nicht weit kommen werde, war klar. Aber er sah ihn nicht. Ihn beunruhigte nur der Gedanke, der sonderbare Wanderer könnte seine Weltanschauung aus der Theorie in die Praxis umsetzen. Wenn das nur zur Hälfte geschah, dann war er wahrscheinlich schon erfroren.

Yatsuma befand sich zwar noch im Englischen Garten, wenn auch in dessen unterem, im Winter ganz verlassenen Teil, in der Gegend des Aumeister. Es gab ja damals noch mehr Menschen, die hungerten und froren, nur hatten sie es sich nicht extra vorgenommen. Aber die Befürchtung des Dr. Mendone, er könnte alles, was er sagte, wahr machen, war schon deshalb unbegründet, weil der menschliche Magen nichts leichter auf den Kopf stellt, als Philosophien, wie unser magerer Held sie übt. Der Apfel und das Brot, das er mitgenommen, waren denn doch etwas wenig, und im Winter nachts herumspazieren oder auf einer Bank zu schlafen, ist leichter gesagt als getan. Wenn es darum irgendeine Scheune oder nur einen einzigen verfallenen Bretterverschlag in jener Gegend gibt, so hat er ihn zu finden gewußt und sich ebenso auch auf irgendeine Weise etwas zu essen verschafft. Findet doch auch das Wild, von der Kälte verfolgt, den geschützteren Wald, die wärmere Gegend und den Acker, auf dem noch ein Kraut aus dem Schnee zu scharren ist.

Yatsuma lebte noch und zwar zufriedener als die meisten seiner Zeitgenossen, wenn auch sein Aussehen auf einen Zustand schließen ließ, der dem Tode näher lag als dem Leben. Er stand mitten auf der Straße, auf ungemein dünnen Beinen zwar, die waren nun einmal nicht anders, aber so vergnügt, wie man um diese Jahreszeit nur sein kann. Erstaunt versunken starrte er, als wäre sie der merkwürdigste Landstrich der ganzen Erdoberfläche, in die etwas trostlose Winterlandschaft, hörte ein Geräusch und wandte den Kopf.

Ein zusammengeschrumpftes altes Weib, in zerlumpte Tücher eingewickelt, kam daher und zog mühselig einen Karren Reisigholz hinter sich drein. An einem Fuß hatte die Alte einen schmutzigen Verband und statt des Schuhs einen riesengroßen Pantoffel an. Sie hatte wohl die Schneeschmelze, die der letzte Föhn hervorgerufen, benutzt, um dürres Holz zu sammeln, was zwar in dieser Gegend, wie ich glaube, verboten ist. Aufatmend blieb sie stehen, fuhr sich mit der Schürze über ihr Runzelgesicht und war vielleicht auch ein wenig ängstlich. Ganz ohne Grund. Yatsuma sah merkwürdig aus, aber doch nicht wie ein Kriminalbeamter. Nur ungern ging er zwar in jener Zeit an einem Menschen vorüber, ohne ihm die Gedanken, die ihn beschäftigten, ungefragt ins Gesicht zu sagen. Aber es schien, als wäre ihm über dem Anblick des Weibleins das Wort im Halse stecken geblieben. Unverwandt, mit großen Augen schaute er das arme Geschöpf an.

Die Armut, dachte er, ist also über die ganze Erde verbreitet! Wer hätte das gedacht, daß auch die südamerikanischen Indianerinnen, wenn sie alt geworden sind, zum Holzsammeln gehen müssen, genau so wie die alten Mütterchen bei uns –

Kraft seiner Einbildung brachte es Yatsuma fertig, sich schneller aus einem Land in ein anderes zu befördern, als mit dem modernsten Luftschiff. Was einem gesunden und normalen Menschen allerdings nicht einfallen würde. Daß er aber dabei etwas weiter entfernte Orte wählte und nicht gerade die nächstgelegenen wie Paris oder Berlin, kann man ihm nicht verdenken. Nach Leipzig kann schließlich jeder Dummkopf fahren. Daß er den chinesischen Turm im Englischen Garten für einen japanischen Schintotempel hielt, war nichts Besonderes. Er hätte ihn auch für eine der Pyramiden von Gizeh halten können, oder meinetwegen für die Moschee von Agades. Den Unterschied zwischen einem echten Bauwerk und einer schlechten Nachahmung sieht kaum ein gesunder Mensch, geschweige ein Geisteskranker. Ebenso war es bei ihm sehr naheliegend, daß er die Quellengasse in der Au für eine abgelegene Eingeborenenstraße von Bangkok oder Bombay ansah, oder den Schwabinger Bach für den Orinoco, nur weil er im Sommer ziemlich wohlgefüllt zwischen buschigen Grasufern gemächlich dahintreibt.

Augenblicklich befand er sich also anscheinend in Peru. Fünf Minuten vorher war er noch in Nordarabien gewesen. In der Wüste Nefud, wenn ich nicht irre.

Wie alles in der Welt vergeht! setzte er seinen Gedankengang fort, während er die Alte betrachtete. Wenn ich mir vorstelle, und ich kann es mir gut vorstellen, sagte er, daß diese gebückte, lederhäutige Chilenin einmal ein junges, von Schönheit und Lebensfülle strahlendes Geschöpf gewesen ist! Ihr eingetretener Brustkorb, an dem man die Rippen zählen kann, war einmal voll und rund, ihr schnurrbärtiges Warzengesicht glatt, die Haut pfirsichweich, samten und bronzefarben schimmernd, und der wüste graue Schopf, der ihr heraushängt wie ein Büschel Seegras aus einer alten Matratze, war eine seidene, tiefschwarz schillernde Lockenpracht! Ihrem erloschenen Auge ist einmal einer mit Herzklopfen begegnet, diese rußige, dürre Hand hat einer wortlos in der seinen gehalten! Einer, der die Linien dieser eingetrockneten Wange noch so rund sieht, wie sie war, als er sie geküßt hat, und der den Geschmack davon auf seinen Lippen mit ins Grab nimmt –

Wie kam Yatsuma auf einmal auf solche Gedanken? Dachte er vielleicht an eine geliebte Person, die er verloren hatte?

Der Alten war es befremdlich, daß der Mensch sie in einem fort ansah. Sie wurde schon fast unwillig und wollte schon sagen: was schaust denn so dumm?

»Wart' ein wenig, Yumbomutter«, sagte Yatsuma. Er griff in die Hosentasche. »Da schau her!«

Die arme Frau schüttelte den Kopf und betrachtete das Geld, es waren eine Mark und vierzig oder fünfzig Pfennige, als ob sie oder er oder alle beide nicht recht bei Verstand wären. Womit sie, was Yatsuma betrifft, ja so weit nicht fehlriet.

Als sie fort war, setzte er sich an den Straßenrand. Er war recht müde und abgespannt. Es war schon spät am Nachmittag, er hatte den ganzen Tag noch keine Krume Brot gesehen. Die frische Luft machte hungrig, kein Wunder, daß ihm der Magen kalt wurde. In Gedanken griff er in die Tasche, als wollte er einen kleinen Imbiß einnehmen, als ihm gerade noch zur rechten Zeit einfiel, daß man dazu auch etwas zu essen haben muß. Er zog also seine Schnupftabakdose hervor. Eine Prise Tabak ist für den, der sich daran gewöhnt hat, so viel wert wie ein Mittagessen mit nachfolgendem Ruhestündchen. Da sah er, daß die Dose leer war. Er hatte sich zwar vorgenommen gehabt, Tabak zu kaufen, aber es dann vergessen.

Er wäre ganz gerne noch ein wenig sitzengeblieben, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. Er fror erbärmlich. Also blieb ihm diesmal nichts anderes übrig, als ausnahmsweise und getreu seinen Grundsätzen ungegessen und ungeschnupft ein Stückchen weiter zu pilgern. Er durfte ja auch nicht zu viel Zeit versäumen.

Aber das Vergelt's Gott der alten Frau klang ihm noch in den Ohren und stimmte ihn andächtig heiter.


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