Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.
Der heilige Martin zu Fuß

Als er, es war der dritte oder vierte Tag nach seinem Abmarsch, dahinschlich wie ein erwachter Scheintoter, der sich vom Leichenhause nach Hause schleppt, schloß sich ihm ein hinkender Soldat an, der aus dem Krankenhaus kam und von Ismaning, wo er aus der Bahn gestiegen war, nach einem eine oder zwei Stunden entfernten Dorf, seinem Heimatorte, ging. Es war am Nachmittag, um die Zeit, da Yatsuma das mangelnde Mittagessen langsam zum Kopfe steigt und ihm da ein heißes und kaltes Gummen und Brausen verursacht, das mit seinen Gedanken schlecht harmonieren will. Nachdem sie ein Stück nebeneinander hergetrottet waren und einer greulicher hinkte als der andere, denn Yatsuma hatte sich wundgelaufen, sprachen sie einige Worte miteinander. Anfänglich hatte Yatsuma den Mann für eine Wegschnecke gehalten. Als der Soldat aber den Mund aufmachte, merkte er, daß er ein Mensch war. Er fragte ihn, ob er ein Hemd habe.

Yatsuma knöpfte seinen Frack auf. »Wenn dir das gut genug ist?« meinte er.

Der Soldat mußte lachen.

»So war's nicht gemeint, Kamerad!« sie blieben stehen. »Ich glaube, du würdest dein letztes Hemd auch noch hergeben?«

Er sah Yatsuma eine Weile lang in die Augen.

»Ich hab' nämlich drei Hemden an, alle drei nagelneu. Vom Lazarett. Da kann ich doch eines leicht hergeben, und zwei auch!«

»Das würde mein Gewissen nicht erlauben!« sagte Yatsuma. Denn er überlegte nicht, daß es die Hemden nicht aus der Luft herunterschneit, und wenn er es auch vorher gewußt hätte, daß er ein Jahr später immer noch dasselbe eine Hemd trug, wenn auch nur teilweise und soweit es eben dann noch vorhanden war, so hätte es ihn doch wenig interessiert.

Der Soldat, auf seinen Stock gestützt, nahm die Mütze ab und fuhr sich mit einem großen blauen Taschentuch über die Stirne, von der ihm der Schweiß perlte.

»Ein Elend mit dieser Hinkerei!« seufzte er. »Man friert und schwitzt zu gleicher Zeit.«

Er war blaß und abgemagert, was seinem Gesicht etwas Feines, Leidendes gab, schlank und breitschultrig. Vielleicht vierundzwanzig Jahre alt, ein hübscher Mensch. Sein rechtes Bein war steif und verkürzt.

Yatsuma betrachtete ihn und eigentümliche Empfindungen malten sich auf seinem Gesicht und veränderten seinen Ausdruck fortwährend, wie die Farben und Formen einer Landschaft an einem wolkigen Tag, wenn das Licht jeden Augenblick wechselt.

»War denn bei euch auch Krieg?« fragte er, da er sich nicht ganz im klaren war, in welchem Land er sich augenblicklich befand. Er schätzte die Gegend dem ganzen Aussehen nach so zwischen Samarkand und Chiwa liegend.

»Wo ist denn der Krieg nicht gewesen! Gibt es ein Land, das nicht dabei war?«

»Ja ja, ich war auch dabei –«

Yatsuma fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als wollte er da etwas wegwischen, das aus dunkler Erinnerung aufdämmerte. Dann zog er seinen Frack aus: »Da, schlüpf' hinein, dich friert!«

»Mich? Mach' keine Sachen. Was willst denn mit dem Frack, der ist mir ja viel zu klein!«

»Du kannst ihn ja umhängen! Ich brauche ihn jetzt im Sommer nicht. Mir ist es sowieso zu heiß!«

Der Soldat lachte. Sommer? So weit war man denn doch noch nicht im Februar. »Mit dem Sommer, mein' ich, hat's noch Zeit! Da, nimm nur deinen Flaus wieder, komm! Sonst werf ich ihn weg!« drohte er.

»Nur zu!«

Sie stritten und scherzten hin und her, und schließlich legte der Verwundete den Frack tatsächlich an einem trockenen Fleck auf die Straße hin. Yatsuma ließ ihn liegen, ohne sich umzusehen. Der Soldat mußte ihn wieder holen. Um der Sache ein Ende zu machen, hing er ihn sich auf die Schultern.

»Du bist ja der reinste heilige Martin!« meinte er.

»Der war ein famoser Kerl!« sagte Yatsuma. »Nur das eine gefällt mir nicht an dem Mann: daß er reitet!«

»Wie meinst du das?«

Yatsuma setzte ihm auseinander, was er vom Reiten, Fahren, Fliegen und Gehen hielt.

»Schon,« meinte der Soldat, »wenn einer gesunde Knochen hat, dann stimmt es schon!«

Er wußte manchmal nicht, sollte er lachen oder weinen, wenn er den tollen Menschen mit seinen merkwürdigen Redensarten anschaute, der in Hemdärmeln, blaugefroren wie eine Pflaume mit dem ernstesten Gesicht von der Welt neben ihm hertrottete. Es war schon ziemlich kalt, die Sonne stand tief und warf ihre dünnen Strahlen wagrecht über die bereiften Felder.

»Ich glaube,« sagte der Soldat, »mich friert jetzt mehr als vorher! Dem Stoff nach muß das einmal ein ganz feiner Frack gewesen sein! Der war für einen, der zu viel Hitze gehabt hat, weil so viele Luftlöcher drin sind!«

Sie lachten.

Nach einer Zeit sagte der Soldat, er habe Hunger, sie müßten jetzt Brotzeit machen. Er zog ein Stück geräuchertes Fleisch, ein Laibchen Butter und einen Wecken Weißbrot aus dem Rucksack, lauter Dinge, die zu damaliger Zeit kostbarer waren als Edelsteine. Teilte alles in zwei Teile und hielt die größere Hälfte Yatsuma hin. »Deinen Rock kannst jetzt auch wieder nehmen,« sagte er, »die Sonne ist schon weg!«

Yatsuma war einige Schritte zurückgewichen. Vormittags, sagte er, esse er überhaupt nie, was nicht gelogen, wenn auch unvollständig ausgedrückt war, weil er, wenn er nachmittags nichts hatte, auch nachmittags nichts aß. Und er verschmähe es außerdem, Geschenke anzunehmen, welche der Annehmlichkeit und dem Wohlbehagen dienen. Er habe seiner Aufgabe zuliebe, welche schon so große Erfolge gezeitigt, alle derartigen Dinge von sich weggetan und fortgegeben.

Einmal ins Reden hineingeraten, führte er seinen Gedanken mit großer Kunstfertigkeit aus und vermied dabei, die Eßsachen eines Blickes zu würdigen. Es war, als rede er nur so viel, um die Stimme seines Magens zu übertäuben, der dazu grollte, als wolle er ihn Lügen strafen. Das Wasser tropfte ihm aus den Augen. Entweder kam es von der Kälte, die ihm durch alle Adern kroch, als wollten sie einfrieren, oder die Augen wollten über seinen furchtbaren Entschluß ganz selbständig zu weinen anfangen.

Der Soldat, nicht wissend, welche seltsamen Ideen im Kopf seines Begleiters rumorten, nahm diese Worte für die Umstände, die jeder macht.

»Mach' nur nicht soviel Geschichten!« sagte er.

Yatsuma aber, hingerissen von Redewut und Prinzipienverteidigung, erzählte so viel von freiwilligem Verzicht, Verachtung der materiellen Genüsse und anderer Fakirtugenden, sein Lieblingsthema nach allen verkehrten Himmelsrichtungen abwandelnd, daß er seiner durchgebrannten Zunge nicht mehr Einhalt tun konnte, wie ein Reiter, der das Pferd so lange spornt, bis es mit ihm Hals über Kopf auf Leben und Tod durchgeht. Eine so schöne Gelegenheit, die Festigkeit seiner Grundsätze zu erproben, bot sich auch schließlich nicht jeden Tag.

Der Soldat fand es unterhaltend, einen Menschen zu sehen, dem das Wort nicht ausgeht. Er mußte nur immer lachen, erreichte aber doch, daß man sich zuletzt zu einem Kompromiß einigte, wonach er, weil Yatsumas Hosentaschen zerrissen waren, die Sachen einstweilen zu sich steckte.

Die Sonne war hinunter, es wurde noch kälter, und dem Soldaten war es nun schon unheimlich, daß er immer noch den alten Frack umhängen hatte.

An einer Straßenkreuzung blieben sie stehen. Yatsuma behauptete eine andere Richtung einschlagen zu müssen, weil er vorgestern (er meinte übermorgen) nach Venezuela müsse und über Honduras und Costarica, Ecuador und so weiter noch einen ziemlichen Weg habe.

»Meinetwegen nach Buxtehude,« sagte der junge Invalide, »aber jetzt wollen wir mal ein vernünftiges Wort reden: ich habe dich bis daher begleitet, jetzt begleitest du mich! In einer guten Viertelstunde sind wir daheim in der warmen Stube!«

Damit hängte er ihm den Frack um, hakte sich in seinen Arm und zog ihn, so gut es bei dem Gehumpel ging, mit sich. Yatsuma wandte noch ein, daß er nicht soviel Zeit versäumen dürfe, aber es half nichts, der Soldat ließ nicht mehr locker.

Die Besserung der Menschheit schreitet Tag für Tag vorwärts! dachte Yatsuma. Und da er diesen Vorgang seiner Einwirkung zuschrieb, war er sehr gerührt und ergriffen.

Wenn man genau hingeschaut hätte, würde man bemerkt haben, daß er sich Mühe gab, seine Augen trocken zu halten.

Von der Gastfreundschaft des Soldaten hat er hernach, als sie zu Hause angelangt waren, um nicht länger zu widerstreben, den ausgiebigsten Gebrauch gemacht. Man kann dann auch nicht so sein.


 << zurück weiter >>