Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLV.
Geh nur voran, ich komme gleich nach

Es gibt Tage bei uns, ausgangs Winter, wo alles meint, er ist jetzt zu Ende, wenn der Föhn kommt, der den Frühling viel zu früh und allzuschön vortäuscht. Fremde, die unser Klima nicht kennen, und die Kinder meinen dann, es sei Frühling geworden. Vielleicht sind solche Tage ja auch wirklich schöner als wie der eigentliche Frühling, den wir nicht kennen. Das Tropfen des Schneewassers von allen Ecken und Enden, die frischfarbige Helligkeit der Luft, das arglose Spiel der Sonne auf den befreiten Wiesen, wo sie das kurze Gras unschuldig frech hervorlockt, als dürfe es nun schon immer dableiben, das alles erzeugt ein Gemisch von sonniger Lust und fröstelnder Gewißheit der kommenden Stürme und Schauer, in denen die ganze Herrlichkeit untergeht wie eine Fata Morgana.

»So ein Herbstabend im Frühling ist wunderbar!« sagte Yatsuma. »Ich werde von hier aus zu den Gurkas in Nepal gehen!«

»Von mir aus zu die Plattfußindianer!« sagte Benson, dem seine Magengegend interessanter war als sämtliche Landschaften der Erdkugel. Yatsuma hatte seinen Frack ausgezogen, Benson schob ihm noch seinen Mantel unter den Sitz auf der feuchten Wiesenböschung.

»Bleib du da sitzen, ich will noch einen Gang machen.«

»Gut. Aber bleibe nicht zu lange fort, Benson. Wir sollen nicht soviel Zeit versäumen. Ich bin unbefriedigt, ich habe ein dummes Gefühl in mir. Ich weiß nicht, ich möchte heute nicht allein sein –«

»Ich bin gleich wieder da. Meinst vielleicht, ich komm' nicht mehr? Da brauchst du keine Angst zu haben!«

Während er wegging beteuerte sich Benson, daß er wirklich nicht die Absicht habe, seinen Freund zu verlassen. Wenigstens nicht jetzt. Warum denn auch. Ob er allein herumstiefelte oder zu zweit, das lief auf eins hinaus. Er hatte sich nun schon an ihn gewöhnt. Und wahrscheinlich war es zu zweit immer noch besser als allein.

Er ging in einen Spezereiladen. Es war niemand da, die Tür zur Wohnstube stand auf, er sah auf dem Herd einen dampfenden Topf, auf dem der Deckel tanzte. Der Geruch der siedenden Kartoffel war berauschend. Nun ging er durch Laden und Flur und schaute hinten hinaus. Der Krämer grub im Garten hinter dem Haus. Es war aber nicht mehr der frühere, den er gekannt hatte, und von dem er vielleicht einiges Wissenswerte hätte erfragen können, sondern ein anderer.

»He, Meister«, sagte er. »Die Kartoffeln brennen an!«

»So, so! Ja, da muß ich schon kommen!« Er schlürfte herein. »Was kriegen wir denn, Herr Nachbar?«

»Ja, kriegen, ich krieg' gar nichts. Ich hätt' halt gebittet –«

»Ja, so, no ja freilich! Wissen's, ich bin ein wenig schwerhörig. Da kann einer den ganzen Laden davontragen, wenn er mag!«

»So viel kann ich nicht brauchen! Ich bin schon zufrieden mit ein paar Kartoffeln!«

»No ja, da werden's auch nicht fett davon. Legen wir halt ein Stückel Wurst dazu. In dem zweiten Haus auf der linken Seite ist die Gendarmerie. Ich sag's nur, daß Sie nicht in Gedanken hineingehen!«

»Ich kenn' mich schon so weit aus hier!«

»Wohin geht's denn, aufwärts zu?«

Die Straße an dem Häuschen vorbei führte den Berg hinauf.

»Nein – abwärts!«

»Ja, no, man muß es halt nehmen wie es kommt. Wird schon wieder mal aufwärts gehn!«

»Wollen's hoffen. Also ich sag' schönen Dank!«

Als Benson aus dem Laden war, fiel ihm ein, daß er eigentlich auch einmal die Frau, die ihm den Wintermantel geschenkt hatte, aufsuchen könnte. Augenblicklich war er zwar etwas weit von Schwabing entfernt, gerade am entgegengesetzten Ende der Stadt. Er hatte sich nicht nur zufällig, nicht ganz unabsichtlich nach dem Osten Münchens verirrt, wenngleich er selbst nicht recht wußte, was er da eigentlich wollte. Die Gegend, in der er gewohnt hatte, zog ihn unwiderstehlich an.

Er sah nach der Straße hinüber, die von Berg am Laim nach Trudering geht, unschlüssig, ob er nicht doch näher hingehen sollte.

Eine Frau, einen dreijährigen Jungen an der Hand, ging vorbei.

Benson gab es einen Stich. Sie erinnerte ihn an die seine. Er blickte ihr nach.

Sie sieht schon fast so aus! dachte er. Auch der Bub – Herrschaft noch einmal, sollte es möglich sein – ich glaub, sie ist es! Selbstverständlich! Doch klar!

Das Herz pumperte ihm, seine runden Backen glühten, als er ihr folgte.

»Leni!«

Die Frau drehte sich um, blieb stehen.

Benson bemühte sich, ein finster gleichgültiges Gesicht zu machen. »Wie geht's immer, Frau Berger? – Oder schreiben wir uns vielleicht gar nimmer so?«

Der Junge faßte ihn mit beiden Fäusten an der Hosennaht, drückte seinen struppigen Blondkopf an sein Bein. »Bappa, Bappa!«

Sie hatte sich abgewandt, preßte das Taschentuch an die Augen.

»Wo warst denn immer?« kam es dann heraus.

»Wo? Weit und nah, wie man's nimmt. Überall und nirgends. Aber auf der Straße da können wir auch nicht übernachten. Wie wär's, ich möchte ganz gern eine Halbe Bier trinken auf den Schrecken und in der Hitze. Geld hab ich momentan keines bei mir. Zahlen mußt schon du.«

Er faßte ihre Hand und sie überließ sie ihm.

»Wir können doch jetzt nicht ins Wirtshaus gehen! Wie du aussiehst! Wo die Leute über alles reden!«

»Laß nur reden, das geht die Leut einen Käs an. Ich werde mich wohl noch mit meiner Frau unterhalten dürfen! All right! Komm Burscherl!«

Sie gingen in den Gasthof Neu-Berg am Laim und setzten sich in die hinterste Ecke. Der Junge kletterte ihm auf die Knie und legte seine Ärmchen um seinen Hals. Die Frau sah noch immer nicht aus den Augen. Das Taschentuch war zu einem nassen Klümpchen zusammengeballt.

»Kennst du den Papa?« fragte sie den Kleinen. Der lachte und fuhr ihm mit seinen kleinen Patschen vorsichtig über die stachligen Bartstoppeln.

»Wo warst denn dann du immer, Hansi?« fragte Benson den Jungen.

»Daheim! Die Großmutter ist auch da!«

»So, die Großmutter ist auch da! Da schau her! Das ist ja fein! – Ja, Leni, jetzt hör' nur auch einmal wieder auf. Jetzt ist es schon so, wie es ist. Ich muß dir doch wenigstens erzählen, was ich alles erlebt habe. Ich bin mit einem Vortragskünstler gereist, einem Baron, ein feiner Mann soweit, nur ziemlich arm, das ist sein einziger Fehler. Zuletzt ist mir die Sache zu dumm geworden. Ich muß doch einmal nachschauen, wie es der Leni geht, denk' ich mir, und bumsdich, da hast du's schon!«

»Hast denn was verdient dabei?«

»Zum Verhungern war's Sach genug. Der Mann hat ja was los, aber es fehlt die nötige Enerschie und es bringt auch nichts ein. Auf dem Oktoberfest wäre er ein ausgezeichneter Ausrufer, aber er hat keine Ausdauer!«

»Ein wenig mehr könntest du aber schon verdienen, wenn man zwei Kinder hat. Mit Waschen und Bügeln und Nähen komm' ich nicht vorwärts. Du bist noch nicht so alt, daß du deine Knochen schon pensionieren kannst –«

»Will ja auch nicht!«

»Du kannst schon eine andere Arbeit machen!«

»Freilich, darum bin ich ja da!«

Sie strich ihm mit der Hand über den runden dünnbehaarten Kopf.

»Wo warst denn dann damals,« fragte Benson, »wie du davon bist?«

»Bei der Mutter! Wo soll ich denn sonst gewesen sein!«

Wieder trat eine Pause ein. Benson rückte unruhig und unentschlossen hin und her. »Die Schachtel laß ich da liegen,« sagte er, »ich komm' gleich wieder. Zwei Minuten!«

*

Yatsuma saß noch auf dem alten Fleck und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen.

»Ich weiß nicht,« sagte er, »ich hatte vorhin ein sonderbares Gefühl. Ich bildete mir ein, du würdest mich verlassen.«

»Was!« rief Benson. »Mensch, wie kommst du auf solche haarsträubende Ideen! Da hört sich alles auf. Da schau her, alter Freund, wie ich für dich sorge, ein Frühstück zum Abendbrot!«

Er gab ihm die Wurst und die Kartoffeln.

»Ich will gegenwärtig nichts essen«, sagte Yatsuma. »Nicht als ob mir die Einsamkeit nicht lieber und gemäßer wäre! Ich überlegte eben, daß ich mich mehr als je mit gesteigerter Energie meiner Aufgabe widmen und meine Kräfte verzehnfachen muß! Ich habe geträumt und versäumt. Wer nicht stärker ist als ein Mammut, ausdauernder als ein Dromedar, rascher als der Blitz, eiserner als Eisen, kaltblütiger als der mörderischeste Feldherr, und doch weich wie Wasser und gegen den Tod so gleichgültig wie ein Verstorbener, über den geht alles hinweg wie ein Erdbeben, das ihn verschüttet. Und doch habe ich den Gedanken, mich von dir zu trennen und jede derartige Schwäche von mir gewiesen! Ich würde es verstehen, wenn du einen anderen Weg gehen müßtest. Die Entwicklung des Menschen mag jeden Tag ins Gegenteil umschlagen, wenn er es nur fertigbringt, immer derselbe zu bleiben. Dazu gehört aber der größte Mut, den der Mensch beweisen kann: Farbe zu bekennen! Vor jedem ohne Ausnahme, ohne Furcht und ohne Mitleid der zu sein, der man ist. So sind die Menschen der Zukunft beschaffen! Die Menschen der hinabgeschwundenen Zeit aber waren aus Furcht vor den Folgen zu feige, zu sein was sie waren. Es würde mich aufrichtig betrüben, dich zu verlieren –«

»Mach' doch keine Sachen! Da kennst du mich schlecht, mein Lieber! Ich habe den Großmogul von Dachau eben getroffen, mit dem möchte ich noch ein Wörtchen reden. Geh nur voran, ich komme gleich nach! Nimm den Mantel mit, er ist mir jetzt zu warm!«

Yatsuma erhob sich, seine Glieder waren steif geworden wie erkalteter Leim. Er hinkte wie ein Lahmer.


 << zurück weiter >>