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XII.
Der Poet

Von solchen nebensächlichen Abenteuern abgesehen, hatte Yatsuma aber wieder manches Interessante erlebt und geleistet. So fragte er am Starnberger See einige vorbeigehende Bauernburschen, was das für eine Pfütze sei. Die Antwort, die er darauf empfing, war sehr merkwürdig. Es fiel fast kein Wort dabei, aber am Ende der Unterhaltung lag er am Boden und versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was geschehen war. Als es ihm endlich gelungen war, sich den Gegenstand der Debatte wieder ins Gedächtnis zu rufen, waren die beteiligten Personen inzwischen mit dem Dampfer fortgefahren und bereits auf dem anderen Ufer. Yatsuma aber ließ sich nicht beirren, sich zu rechtfertigen, wie er es für richtig und angemessen hielt.

»Ich sage nichts gegen die Zurechtweisung,« sagte er, »die ihr mir mit Fug und Recht erteilt habt, denn die Schuld liegt bei mir. Mich interessiert es nicht im mindesten, wie der Ententeich da heißt. Wer den Salzsee Dariatscha in Westpersien kennt, den Kuku Nor in Tibet oder die öde Nordküste des Toten Meeres, den Baikalsee und den Titicaca in Peru, um nur einige zu nennen, der fragt nicht danach, ob das der Golf von Iskanderon ist oder irgendein namenloser Lago im Dschungel. Von den hundert Buchten, Mündungen, Häfen und Meeren, die ich bereist habe, schweige ich. Sondern der Fehler war der, daß ich nach Namen fragte, die doch nur für die oberflächliche allgemeine Menschheit, sensationslüsterne Kanzlisten, Mechaniker, Aftermieter und Romanleser von Interesse sind –«

Bei diesen seinen letzten Worten war ein Herr in Begleitung mehrerer Damen vor ihm stehengeblieben. Er war groß und schlank, dezent elegant gekleidet, sein blasses schmales Gesicht hatte gute Linien, nur störten die hervorquellenden Augen ein wenig. Aus dem breitkrempigen Hut quoll sein dunkelglänzendes Haar in weiblich hübsch geschwungenen Wellen, seine Brust zierte eine um den Hals geschlungene goldene Kette. Die Damen, fünf oder sechs an der Zahl, waren alle sehr jung und hübsch und vornehm wirkend.

Der Herr reichte Yatsuma die Hand, half ihm mit freundlichen Worten auf die Beine und richtete einige liebenswürdige Fragen an ihn, die Yatsuma bereitwilligst beantwortete. Er vermutete in dem Herrn einen orientalischen oder indischen Fürsten in europäischer Kleidung, der mit einem Teil seines Harems an den Ufern des Sees lustwandelte. Das war der Herr zwar nicht, dafür aber war er ein sehr berühmter deutscher Schriftsteller, dessen Werke in 61 Sprachen übersetzt waren, also immerhin eine Fürstlichkeit, wenn auch nur im Reiche der Poesie.

»Einen förmlichen Plan meiner Reise«, antwortete Yatsuma auf eine der Fragen, »habe ich als Feind aller bureaukratischen Programme nicht entworfen. Mein Weg führt mich zu allen lebenden und toten Kreaturen. Ich frage nicht nach Namen, Ländern und Orten, weil ich nicht der Gegend wegen, sondern um meiner Aufgabe willen reise.«

Die Schiffsglocke bimmelte und der Herr blickte nach dem Dampfer, der am Landungssteg anlegte.

»Den Seeweg habe ich immer vermieden,« fuhr Yatsuma fort, während der Fürst mit seinen Damen die Personen beobachtete, welche dem Dampfer entstiegen, »weil ich jedes Vorwärtskommen ohne eigene Anstrengung und das träge Nichtstun auf dem Schiffe verwerfe. Mein Ziel, die Erlösung der Menschheit, führt mich aber gerade in die übervölkerten Großstädte der Erde, die, mögen sie noch so antipodisch zu einander liegen, einander gleichen wie eine Telegraphenstange der anderen.«

»Lieber Mann,« unterbrach ihn der Herr, der bisher nur halb zugehört hatte, während er sich jetzt halb zu seinen Lieblingsfrauen wendete, »die Seltsamkeiten der herrlichen Erde in ihren verschiedenen Gegenden, der bezaubernde Reichtum ihrer heimlichen Erscheinungen, die furchtbaren und reizvollen Unterschiede der Temperaturen und Klimas von der Polarkälte bis zur Tropenfieberglut, der Sitten, Religionen, Künste und Rassen, die allgewaltige unverdorbene Natur, erhabene Wildnis und göttliche Schönheit der Blumen, Tiere und Frauen, alle diese Eigentümlichkeiten und das heimliche Glücksgefühl des Reisens in fremden Zonen bleiben unversiegliche Quellen der Erneuerung und Erhebung und der ewige Urgrund aller Dichtung –«

Der Satz dieser unerwarteten Rede, die Yatsuma erschreckte wie ein Pistolenschuß, war noch nicht zu Ende, aber er faßte sich gleich wieder und wollte auch noch ein Wort anbringen.

»Ein schöner Glaube, edler Maharadscha!« warf er ein, aber niemand beachtete ihn. Er schwieg, etwas überrascht, daß er da einem Redner begegnet war, mit dem er sich beinahe nicht messen konnte. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, wie dies Geisteskranke manchmal tun, als wollte er den ungeheuren Druck, der auf ihm lastete, verscheuchen. Er wollte gerne noch etwas sagen, aber es dauerte sehr lange, bis er dazu kam. Soviel er auch in Schwabing mit Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und Lyrikern verkehrt hatte, mit einem, der andere grundsätzlich nicht zu Worte kommen läßt, war er doch noch nie zusammengetroffen, und das ging ihm, obwohl er keine Kopfbedeckung hatte, denn doch über die Hutschnur. Endlich aber gelang es ihm, auch ein Wort einzuflechten:

»Von hundert Reisenden, denen ich begegnet bin,« sagte er, »reisten –«, er lächelte verlegen, »ich bitte um Entschuldigung, Durchlaucht – reisten achtundneunzig aus geschäftlichen Gründen und drei zur Erholung von Geschäften.«

»Drei?« sagte eine der Damen, die eine gute Rechnerin war. »Dann waren die anderen doch siebenundneunzig!«

Yatsuma starrte sie fassungslos an. Dann besann er sich auf diejenige Höflichkeit, die sich vor allem Damen gegenüber geziemt, denen man gerne ein Recht läßt, das niemand hat, und verbesserte sich: »Siebenundneunzig, siebenundneunzig, Durchlaucht! Ich hatte mich geirrt!«

»Ich hörte noch kürzlich,« wandte er sich an den Dichterfürsten, »vor kaum einem halben Jahrhundert, die samoanischen Tänzer ihre schwermütigen Weisen singen –«, (wahrscheinlich waren diese Lieder in schlechter Übersetzung in irgendeinem deutschen Verlag erschienen) »aber seit sie,« fuhr Yatsuma fort, »seit sie den Handel mit Fahrrädern und Benzinfeuerzeugen eingeführt haben, gefällt mir das ganze Gejodel nicht mehr –«

Der Herr fiel ihm ins Wort. Er war in der Tat ein ausgezeichneter Dialektiker von scharfer Argumentation und einer Beredsamkeit, so unheimlich, als wäre er, seit er den Vertrieb von Ansichtskarten aufgesteckt hat, sein eigener Reisender geworden. Yatsuma staunte stumm und starr. Er hatte es bis zu diesem Tag nicht für möglich gehalten, daß es außer ihm noch jemand gab, der einen halbstündigen Relativsatz ohne Erstickungsanfall in einem Atem aussprechen konnte. Am Schlusse der Ausführungen des vermeintlichen Fürsten, während welcher vier Dampfer angekommen und, als sie des Redners gewahr geworden, schleunigst wieder abgefahren waren, wurde es Yatsuma ein wenig schlecht. Er spürte Schmerzen im Hinterkopf, im Rücken und in allen Gelenken. Er hörte noch, wie der zungenakrobatische Fürst sagte: »Lesen Sie erst mein Buch ›Indienfahrt‹, in dem ich meine Philosophie ausführlich dargelegt habe, ausführlich, damit die erwünschte Bogenzahl herauskam, und so unklar, daß jeder etwas dahinter suchen muß, dann können wir weiter reden. Das Buch hat heute die zweihundertachtundsiebzigtausendste Auflage, mein Lieber!«

Die Damen nickten bestätigend.

Der Rat, der da erteilt wurde, war ja nicht gerade sehr vernünftig. Yatsuma hatte bereits so viel über Indien gelesen, daß er sein Leben lang an den Folgen zu tragen hatte. Unter Indiens Sonne, Der Letzte von Lahore, Indien und ich, Ich und Indien, Die Wunder Indiens, Indiens Wunder, Der Maharadscha von Schikarpur, Das indische Traumbuch, Im Banne der Brahmanen, Die Hindubraut, Der Hinduismus, Im Herzen Asiens, Der indische Baustil, Der Baustil Indiens – hundert und aberhundert solcher Werke und Bücher hatte er sich einverleibt, und wer von den ungezählten Autoren, die über Indien schrieben und schreiben, kümmerte sich jetzt um ihn? Nicht einer. Sie streichen ihre ungeheuren Tantiemen ein und fragen den Teufel was danach, wenn die europäische Menschheit über der Lektüre ihrer Reisebeschreibungen dem Untergange zuschreitet.

»Jawohl«, sagte Yatsuma. Er war ganz stumm geworden, es flimmerte ihm vor den Augen. Auch spürte er eine brennende Kälte im linken Fuß. Sein linker Schuh hatte keine Sohle.

»Auch in Abraham Kadabras ›Affenpinscher, Dichter und Götter‹ ist Ähnliches gesagt, wenn auch nicht so erschöpfend. Außerdem«, der Herr strich einer der Damen mit seiner schmalen, feinbehandschuhten Hand liebkosend über den präraffaelitischen Madonnenscheitel, »hat der Mann keinen Stil!«

»Er kann überhaupt nichts!« sagte die Dame und errötete sanft.

»Stimmt«, sagte Yatsuma, um nicht ganz wortlos zu erscheinen.

Der sechste Dampfer war eben angekommen, hielt sich aber nicht lange auf. Der Fürst sprach über die gegenwärtige Dichtung. Es hatte vierzehn Grad unter Null, aber er schien nicht im geringsten zu frieren. Yatsumas Befinden dagegen verschlimmerte sich zusehends. Die Kopfschmerzen, ein furchtbarer Druck von den Schläfen bis in den Hinterkopf, waren kaum mehr zu ertragen.

»Gewiß Durchlaucht«, sagte er manchmal, um auch etwas zu sagen und damit niemand merken sollte, wie schlimm ihm zumute war. Er war dem Umsinken nahe und hielt sich nur mit aller Kraft noch aufrecht.

Wenn meine Reden auch solche schlimme Wirkungen auf die Zuhörer ausüben, dachte er, dann ist es humaner, wenn ich sie gleich totschlage, dann brauchen sie nicht lange zu leiden. Und er nahm sich vor, von gestern an nur mehr das Allernotwendigste zu sprechen. Was ihn aber noch mehr entmutigt und verzagt stimmte, war, daß der morgenländische Fürst seiner Denkart nach ein ausgesprochener Europäer war, im wörtlichsten Sinne des Wortes. Selbstverständlich hütete sich Yatsuma, diese seine Beobachtung, selbst wenn ihm Zeit und Gelegenheit dazu geblieben wäre, auszusprechen. Es wäre die schwerste Beleidigung gewesen, die einem vornehmen Asiaten zugefügt werden kann.

Der Herr hatte ein anderes Thema angeschlagen. Schweigend, mit angestrengter Aufmerksamkeit hörte Yatsuma zu. Er war einer Ohnmacht nahe. Und richtig, kaum war der neunte Dampfer angekommen, da sank er um, lautlos und totenblaß, wie vom Schlag gerührt. Eine der Damen reichte sofort ihr Kölnisches Wasser-Fläschchen. Sie betupften ein Taschentuch, mit dem sie ihm die Stirne bestrichen. Nach geraumer Zeit kam er endlich zu sich und schlug die Augen auf. Etwas später stellte ihn der Dichterfürst, der das begonnene Thema inzwischen noch weiter ausgeführt hatte und noch nicht ganz damit zu Ende war, mit vieler Mühe wieder auf die Beine. Schweigend, mit angestrengter Aufmerksamkeit hörte Yatsuma zu. Er empfand es freilich peinlich, daß ihn die Damen, je länger er schwieg, um so ausfälliger und mit unverhohlenem Triumph über seine offensichtliche Niederlage betrachteten. Aber, so unerträglich diese Blicke auch waren, er wagte kein Wort mehr zu sagen. Plötzlich, nach einer knappen Stunde, machte der Fürst unverhofft eine kleine Pause und blickte Yatsuma erwartungsvoll an, als wünsche er nun auch seine Meinung zu hören.

»Hochedler Fürst –«, stammelte Yatsuma, »was wollte ich eigentlich sagen? Eben war es mir eingefallen! Ach so – na ja, um die Sache kurz zu machen: man muß eben, wenn das Gespräch darauf kommt, sagen können: Thursday-Island? Torresstraße! oder Kaschgar, Ostturkestan? Ganz hübsche Gegend, bin vor acht Tagen dagewesen. Sehr billig da, nur etwas heiß im Winter. – Der Mensch ist von seinem Gott mit dem D-Zug davongereist, aber ich bin ganz heiter und vergnügt, denn meine Aufgabe ist es ja eben –«

Der Herr schnitt ihm das Wort ab. Er setzte auseinander, daß sich seit fünftausend Jahren nichts in der Welt geändert habe und vor allem, daß es im Sommer immer heiß und im Winter immer kalt bleiben werde. Welch letztere Bemerkung ein kleines Lächeln bei den Damen hervorrief.

Yatsuma merkte, daß, je länger er zuhörte, sich sein Befinden wieder verschlimmerte.

»Natürlich«, sagte er verwirrt. »Gewiß, Durchlaucht! Ich habe die Herrschaften nun schon zu lange aufgehalten. Bitte zu erlauben, daß ich mich entferne! Guten Morgen, Mittag und Abend! Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin!«

Er verbeugte sich nach allen Seiten und zog sich zurück.

Später fiel ihm ein, daß sein Gruß vielleicht nicht ganz angebracht gewesen war, denn entweder hatte der Fürst gar keine Gemahlin oder er besaß deren mehrere.

Die Damen kicherten.

»Kurios!« sagte der Dichter. »Der Kerl ist nicht ganz bei Trost! Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! Schade, daß ich keine Zigarre bei mir hatte!«

Er unterhielt sich noch lange ausführlich mit den Frauen über den tollen, immerhin seltsamen Vorfall und die davon aufgerührten Probleme. Später zog er sich in sein Arbeitszimmer im echten Renaissancestil zurück und schrieb einen philosophischen Essay für die Glogauer Neuesten Nachrichten, in dem ganz neue, aufsehenerregende Gesichtspunkte zum Ausdruck gebracht waren.


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