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XXXV.
Ein kleines Kapitel von der Freundschaft

Als Benson am Morgen auf das Poltern an der Tür aufsprang und den durch die Luke hereingeschobenen Kaffee in Empfang nahm, wurde Yatsuma auch allmählich wach.

»Ich habe eine knappe Viertelstunde geschlafen,« entschuldigte er sich, müde blinzelnd, »für jemand, der nur ausnahmsweise schläft, ist das ja nicht viel. In den letzten fünf Jahren habe ich kein Auge zugetan!«

»Ich war gestern auch nicht ganz wohl«, sagte Benson. »Ich bin noch nicht recht kompetent heut! Meine Mutter war zwar eine Rheinländerin, aber ich trinke erst, seit ich davon bin. Aus Gram. Heute nacht habe ich wieder einen schlechten Traum gehabt: an der Decke liefen lauter Ratten und gerade über meinem Gesicht haben sie sich auf mich herunterfallen lassen. Das bedeutet nichts Gutes! Ich hab's jetzt satt, ich werde Antialkoholiker. Es gibt doch so Vereine zum Abgewöhnen, was? Oder soll ich nach Amerika auswandern?«

Während sie den Kaffee löffelten, wurde Yatsuma etwas munterer und betrachtete sich nun sein Gegenüber genauer. Benson bestand in der Hauptsache aus einem großen, runden Babykopf mit blauen Augen und einem riesigen blonden Schnurrbart. Man wußte nicht, wuchsen die paar Härchen auf diesem mächtigen Schädel erst, oder waren sie schon im Ausfallen. Wenn man dieses Gesicht einmal gesehen, mußte man es fortwährend anblicken. Alles andere, was sonst noch an ihm war, trat dagegen in den Hintergrund. Nur paßte die etwas weinerliche Miene, die sich augenblicklich auf ihm ausdrückte, schlecht zu seinen pastellfrischen Farben.

Yatsuma fand, daß der Kaffee wie Scherbett schmecke und das Brot nach türkischem Honig.

»Aus Kummer sich betäuben«, sagte er, »ist ganz in Ordnung. Eine höhere Stufe nimmt zwar ein, wer einer Leidenschaft aus Freude unterliegt. Verworfen aber ist, wer genießt, ohne zu empfinden. Gestatten übrigens: Yatsuma von Landen!«

Er reichte Benson die Hand.

»Yatsuma«, sagte er auf dessen etwas verblüffte Augen, »heißt im Sanskrit der Glückliche. Landen ist mein Familienname.«

Benson besann sich.

»Glückliche?« sagte er. »Würde da nicht, ich meine nur –« und er blickte Yatsuma mit einem gewinnenden Ausdruck an, »würde da nicht vielleicht der Unglückliche besser passen?«

Yatsuma trat dieser Auffassung entgegen, und sie verwickelten sich in eine längere Debatte. Später stellte sich auch Benson vor.

»Gerichtsdiener und Gefängniswärter nennen mich zwar Jakob Berger,« sagte er, »aber was diese Affen sagen, das ist mir doch schnuppe. Ich habe mit diesem Gesindel nichts mehr gemein, seit ich unter die Gefangenen gegangen bin. Ich habe Schluß gemacht, mit meiner Frau und in jeder Beziehung! Man muß die Leute ignorieren! Seinen Namen ablegen, wenn es sein muß! Da bin ich nämlich radikal! Entweder – oder, schmiede das Eisen, bis es bricht! Gelegenheit macht Liebe, das stimmt ja, aber alles was recht ist! Was ich sagen wollte: der Adel ist doch abgeschafft?«

»Möglich,« meinte Yatsuma, »ich bin über die hiesigen Sitten und Gesetze nicht orientiert. Wenn es irgendwo einen Adel gegeben hat, der sich abschaffen ließ, so kann er nicht weit hergewesen sein. Der echte Adel kann so wenig abgeschafft werden wie irgendeine andere Denkart. Es gibt adelige Menschen, plebejische, große und kleine, dumme, gescheite, gute, schlechte und solche mit Sommersprossen. Unterschiede der Natur lassen sich nicht beseitigen. Äußerlichkeiten dagegen, Dekorationen kann man ändern. Man kann sich einen Titel zulegen oder ihn für ungültig erklären. Dadurch ist nichts gewonnen und nichts verloren.«

» Well! Also sind Sie echt? Baron oder so was? Oder haben Sie sich das »von« auch nur so zugelegt, zum Hausgebrauch für die Feiertage?«

»Ich bin Tahitianer«, erklärte Yatsuma. »Meine Landsleute waren glückliche, schöne Menschen, friedlich und freundlich, von natürlicher Vornehmheit. Wenn man irgendwo von menschlichem Adel sprechen kann, so haben sie ihn auf die vollkommenste Weise dargestellt. Sie hatten keinen Feind und auch kein Wort für diese Einrichtung, keinen Ehrgeiz und kein Geld. Ehre, Ansehen und Gelderwerb waren ihnen gleichgültig, sie empfanden einen natürlichen Abscheu vor der Arbeit –«

»Den empfinde ich auch immer!« meinte Benson.

»Sie besaßen alles, was sie brauchten, es wuchs überall, niemand neidete es ihnen, sie lebten ruhig und sicher an einem Ort, wo sie nichts von der großen Welt benötigten. Tanz, Gesang und musizieren war ihr Leben. Gingst du abends an ihrer Hütte vorüber, so riefen sie dir zu: Haere mai taoto! Das heißt: komme und schlafe!«

Weiß der Kuckuck, wo Yatsuma das wieder gelesen hatte.

»Mensch, das war noch ein Leben, was!« rief Benson. »Du, da geh'n wir hin!«

»Wir sind auf dem Wege dahin«, sagte Yatsuma, »wenn auch nur im bildlichen Sinne. Sie müssen bedenken, Herr Benson, daß das Land zerstört ist –«

»Machen wir nicht so viele Mäuse, sagen wir ruhig du!« schlug Benson vor. »Wir haben uns ja gegenseitig nichts vorzuwerfen. Was, alles kaputt? Wer hat es hingemacht? Den Kerl hau' ich zusammen wie ein garniertes Beefsteak!«

»Die Urheimat des Menschen war verlorengegangen. Ursprünglich waren meine armen Landsleute Menschen gewesen, Männer, Frauen und Kinder. Dann wurden sie Händler, Oberkellner, Pflasterzolleinnehmer und Postpaketpackerswitwen –«

»Na ja,« meinte Benson, »wenn sie nur wenigstens ihr Auskommen haben. Hoch werden die dortigen Löhne sowieso nicht sein!«

»– bis meine Mission, welche mein ganzes Dasein ausfüllt, sie wieder zu Menschen gemacht hatte!«

Da Yatsuma einen Monat mit einer Minute verwechselte und Augenblicke mit Jahren, das Brot für Honigkuchen aß und die Kartoffelsuppe für Reis mit Curry und Bananen, da er beim Erwachen Lebewohl sagte und beim Einschlafen guten Morgen, oder grüßen Sie ihre Frau Gemahlin; oder wenn er sagte: wir sind jetzt auf der Insel Ceylon und zwei Minuten später waren sie in Neufundland; so hielt Benson das alles für sehr komische Witze und lachte sich kaputt oder korrigierte ihn auch: »Was? Valparaiso? Menschenskind, wir sind doch in Spitzbergen!« (Denn so viel hatte er auch schon aus der Zeitung aufgeschnappt.) Sehr bald aber merkte er, daß sein Kollege ein ganz klein bißchen meschugge war. Sein Benehmen dagegen, wie manierlich er speiste, was zu seinem Aussehen in seltsamen Widerspruch stand, und wie nie ein unrechtes oder ungefüges Wort über seine Lippen kam, das imponierte ihm, und seine Schwabinger Literatursprüche, auf die zwar schon mehr hereingefallen sind, nicht weniger. Aus dem allen war zu sehen, daß der Mann einmal sogenannte bessere Tage gesehen hatte. Besonders gut gefiel ihm, daß Yatsuma nur in den ersten Tagen, wo er anscheinend mächtig ausgehungert war, beim Essen dreinhieb wie ein Verzweifelter, dann aber seine Ration nie zu Ende aß, sondern die Hälfte ihm überließ und ebenso regelmäßig sein Brot mit ihm teilte.

So kommen die feinsten Leute herunter! dachte er. Kein Stammbaum ohne Dornen! Viele Hasen sind des Hundes Tod! – und fühlte sich zu dem sonderbaren Mann merkwürdig hingezogen. Außerdem war es lustig und unterhaltend. Einmal etwas anderes als das ewige Alleinsein.

»Was bist du eigentlich von Beruf?« fragte er.

»Der echte Mensch hat keinen Beruf. Ich war allerdings in einem früheren unreifen Stadium Erfinder.«

»Nachdem du von der Kokosinsel weg bist? Und warum hast du das Geschäft wieder aufgesteckt? Na ja, mit Erfindungen ist es heutzutage auch so eine Sache.«

»Ich bin dann mit der Zeit zu Erfindungen gekommen, für die niemand Verständnis hatte.«

»Und das waren vielleicht deine besten!«

Yatsuma schaute seinen neuen Freund innig dankbar an.

Sie hatten viel Zeit und nützten sie in des Wortes doppelter Bedeutung redlich aus.

»Ich kann sagen,« sagte Yatsuma, »daß ich mein Ziel erreicht habe, von den überirdischen Gegenden, die ich noch absolvieren muß, abgesehen. Im übrigen ist die Menschheit schon einen Schritt weiter als vor wenigen tausend Jahren. Sie ist eine spürbare Idee glücklicher geworden, und auch ich werde um so froher und heiterer, je näher ich mich dem letzten Ziele weiß. Doch wäre es das Allerverfehlteste, jetzt an Rast und Ruhe zu denken! Es gibt nur eins: den begonnenen Weg unermüdlich und unbeirrbar fortzusetzen!«

»Und wo willst du nach der Entlassung hin?«

»Ich frage nicht nach Ort und Namen. Wo der innere Weg vorgezeichnet ist, kann der äußere nicht irren.«

Das könnte man ja eine Zeitlang mitmachen, dachte Benson. Vielleicht geht er doch noch nach Tahiti. Und wenn wir bloß bis Rosenheim kommen. Besser als gar nichts.

»Du, ich geh' mit!« sagte er.

»Ich habe nichts dagegen,« sagte Yatsuma freundlich, »obwohl es für mich kein geringes Opfer bedeutet, meine Einsamkeit aufzugeben. Aber es sind noch andere Schwierigkeiten dabei. Wenn sich ein Mann eine große Lebensaufgabe gestellt hat, so kann nur er allein sie bewältigen. Nur für ihn lohnen sich die Opfer, die er seinem Ehrgeiz bringt. Jede Hilfe, die nicht aus ihm selbst kommt, wird zum Hindernis, jeder Anhang zur Last. Die Liebe zu einem großen Werk frißt alle unebenbürtigen Neigungen auf wie ein Kannibale seine eigenen Brüder. Auch ich mußte Menschen verlassen – sprechen wir nicht davon. Würdest du, gewöhnt in den Schranken des europäischen Alltags zufrieden zu sein, wohl in der grenzenlosen arktischen Wüste meines Daseins froh werden können? Ist nicht dein Leben ein Ort und deine Bestimmung ein Fleck, nicht größer als ein Vogelnest?«

»Was das betrifft,« versicherte Benson, »mein Lieber, ich bin schon mächtig heruntergekommen, kann ich dir sagen!«

»Würde dir nicht die geringste Last, die mir willkommen ist, von den großen Gefahren nicht zu reden, als unerträgliches Unglück erscheinen? Würdest du nicht niedergeschmettert sein, wo ich froh bin, und zusammenschnappen wie ein Taschenmesser, wo ich mich aufrichte? Gewiß, es ist schon oft dagewesen, daß sich einem bedeutenden Manne Jünger und Schüler angeschlossen, ihm durch grönländische und alpine Abgründe Gefolgschaft geleistet, seinen Taten eifernd nachgestrebt, seine Leiden geteilt und seine Weisungen befolgt haben, ungeachtet sie gegen irdische Sitten und Anschauungen – laß doch die Spinne gehen, lieber Freund! Das Tier hat uns doch nichts getan!«

»Wenn das Luder gerad immer auf meinem Brot rumkrabbeln muß! Spinne am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen!«

»– Anschauungen und Gesetze verstießen! Das waren jedoch Männer, die sich prüften, bevor sie alles hinter sich ließen, um dem Einzigen zu folgen. Die Aufgabe des Jüngers aber ist vielleicht noch schwieriger, weil selbstloser als die des Lehrers, dem er sich in Liebe beugt und opfert wie ein Asra. Den, der das Ziel in sich hat, befeuert es ohne Unterlaß. Der Anhänger hat nichts als den Glauben und das Vorbild! Das mußt du wohl bedenken, mein lieber Johannes!«

»Das ist ja alles recht und schön,« sagte Benson, »gebe ich ja alles zu, aber es wäre doch ganz nett! Zu zweit ist es immer unterhaltender. Ich versteh' dich schon! Ich versteh' alles ganz genau, ich bin nicht so dumm wie ich aussehe, mein Großvater war Bürgermeister, ein feiner Mann, kann ich dir sagen, der war nicht aus Wellblech! Und wenn es uns nicht mehr paßt, dann gehn wir einfach wieder auseinander, fertig die Laube!«

Yatsuma und Benson wurden am gleichen Tage abgeurteilt. Die verhängte Haftstrafe war durch die Untersuchungshaft abgebüßt.


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