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VI.
Ein Ehezwist ohne Ehe

Eine Ehe ohne Zwistigkeit, hörte ich einmal sagen, sei etwas überaus Seltenes. Ein Ehezwist ohne Ehe ist aber gewiß auch nichts Alltägliches.

Fünfzig Schritte nördlich der Brücke über den Schwabinger Bach liegt eine Gruppe altmodisch niedlich aneinandergeschmiegter Häuschen, grün bewachsen (im Sommer, versteht sich) und hinter Vorgärtchen, von denen keines mehr als drei Quadratmeter mißt. Ein vom Zufall verschontes Überbleibsel aus den idyllischen Tagen unserer Großväter, ein lebendes Aquarell, das denn auch zu allen Jahres- und Tageszeiten die Maler und Malerinnen anlockt.

An dem Gartenpfeiler der ersten dieser Liliputvillen steht auf einem kleinen Porzellanschild neben dem Griff der Bimmelglocke: Dr. G. Mendone, prakt. Arzt, Sprechstunde 2-3 Uhr.

Fräulein Eli Trondal aber, eine schlanke, blonde Schwedin, stand an diesem unfreundlichen Tag schon beträchtlich lange, fröstelnd und unruhig spähend auf dem kleinen eisernen Balkon dieses Häuschens, verschwand manchmal im Hausinnern, kam sogleich wieder zum Vorschein, zog den Wollschal enger um die Schultern und wich und wankte nicht von ihrem Posten, obwohl man im Winter, wegen der versteckten Lage des Häuschens und im Nebel, auch nicht viel weiter sehen kann als wie im Sommer, wenn die ganze Gegend verwachsen ist. Das Warten aber ist eine Folter, die Frauen womöglich noch grausamer empfinden als Männer; von denen es wenigstens solche, die Frauenkenner sind, mit gelassener Geduld üben, wobei freilich wiederum gesunde Nerven immerhin eine angenehme Erleichterung bedeuten.

Dr. Mendone betrat sein Heim in einem der Augenblicke, da seine Haushälterin, als müsse sie etwas nachsehen, im Innern verschwunden war. Sie kam ihm auf dem Vorplatz entgegen.

»Jetzt ist es drei Uhr!«

»Schon? Dann habe ich von der Brücke bis zur Haustür genau eine Stunde gebraucht. Denn eben, in diesem Augenblick, hat es zwei geschlagen. Sei nicht ungehalten, Eli, entschuldige, es ging nicht anders!«

»Und wie du aussiehst!«

»Wie denn?« Er sah an sich hinunter.

»Ganz erfroren! Du wolltest doch gleich wiederkommen, hast es hoch und teuer geschworen!«

Sie nahm ihm den Mantel ab.

»Stimmt. Ich wollte.«

»Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du bis jetzt im Krankenhaus warst!«

»Nein. Dagegen hatte ich heute einen sehr interessanten Fall, den ich dir erzählen werde. Sehr interessant, Spatz!«

»Jetzt komm nur zum Essen! Es ist alles eingekocht! Wie soll ich es anders machen, wenn ich nichts weiß! Ich muß es doch warm halten!«

»Mich! Mich mußt du auch warm halten!«

»Du mußt es essen wie es ist!«

»Zu Befehl!« Er wollte sie festhalten, um den Begrüßungskuß vielleicht doch noch nachträglich anzubringen, aber sie entwischte. »Laß mich nur, ich muß doch in die Küche! Ich will doch auch einmal fertig werden! – Ein Glück nur,« schmetterte sie von drinnen, »daß noch kein Patient gekommen ist!«

»Glück? Das ist doch ein Unglück!«

Es kam keine Antwort. Der Augenblick war nicht günstig zum Scherzen, er brach die Diskussion ab und ging ins Speisezimmer. Es war behaglich warm, der Tisch gedeckt, neben seinem Besteck lag die angekommene Post. Er rieb sich die Hände, sowohl in Erwartung des Essens, wenn es gleich eingekocht war, denn er hatte einen mächtigen Hunger mitgebracht, als ebenso oder noch mehr aus Vorfreude über die Erzählung seines Erlebnisses, welches die Stunde nach Tisch angenehm ausfüllen würde. Er blieb vor dem Fenster stehen.

Seit dem Tode seiner Frau hatte Mendone ein sehr junggesellenhaftes Leben geführt insofern, als er seinem Leben eine Einteilung verliehen hatte, wie sie ihm gefiel. Es war, wenigstens gesehen vom Standpunkt der Hausfrau, schon eine recht auf den Kopf gestellte Lebensweise gewesen. Nachmittags war er gewöhnlich aufgestanden, hatte dann um drei oder vier Uhr gefrühstückt, im Café Noris die Zeitungen gelesen und abends zu Mittag gegessen. Dann ging es nach Hause zum Arbeiten. Allnächtlich bis zum frühen Morgen, oft noch in die Tagesdämmerung, glomm, als das Haus noch kein elektrisches Licht besaß, der rötliche Schimmer seiner Petroleumlampe aus dem kleinen Fenster, den Nachtbummlern und den Arbeitern, die in der ersten Tagesstunde vorbeigingen, wohlbekannt. Interessante Unterhaltungen mit Berufskollegen pflegten sich oft über zwei und mehr Nächte auszudehnen, und solcher Besucher fügte sich, der Besonderheit der geistigen Anregung zuliebe, gern der eigenmächtigen Zeiteinteilung, in die jeder Gast des gelehrten Arztes hineingewirbelt wurde. Außer jungen und alten Berufsfreunden und seiner alten Aufwärterin betrat keine Menschenseele sein verschlossenes, bücherüberfülltes, bestaubtes Heiligtum von einem Arbeitszimmer, seine faustische Studierstube, wie die Freunde es nannten. So hatte er sich damals in sonderlinghafter Abgeschiedenheit und bohemeartiger Widerborstigkeit völlig seinen wissenschaftlichen Arbeiten und der Herausgabe medizinischer Schriften ergeben, in denen er der Erforschung besonderer Geisteskrankheiten neue Resultate abzugewinnnen versuchte. Und nur manchmal riß ihn irgendeine der wohltätigen Angelegenheiten, mit denen er sich gerne zu schaffen machte, und wobei ihm angenehm günstige Vermögensverhältnisse keinerlei Beschränkung auferlegten, vorübergehend und unerheblich aus der Unordnung dieser seiner Ordnung. Seit er sich aber, vor zwei Jahren, eine Haushälterin angestellt, hatte er sich langsam aber sicher vom Kettenraucher, Tagschläfer und Nachtarbeiter zum Normalbürger, wenigstens in der Lebensweise, entwickelt, und nicht zum Schaden seiner Gesundheit. Er hatte nun einundsechzig auf dem Rücken, war frisch und gesund wie ein Fisch, lebensfroh und elastisch, ein Frühaufsteher und unverwüstlicher Arbeiter.

In dieser rückschauenden Betrachtung befangen und dann wieder an seine heutige Begegnung denkend, übersah Mendone beinahe, daß aufgetragen war. Rasch wie ein folgsamer Junge, den die gestrengen Eltern schon erwarten, verfügte er sich an seinen Platz, um sich nicht noch ein Mahnwort der in ihrer Ordnung gestörten Hausdame zuzuziehen.

Das beste, um das gespannte Schweigen zu brechen, dachte er, ist eine kleine, versöhnende Einleitung, bevor ich mit meinen Erlebnissen loslege.

»Daß Ehemänner,« begann er, »wenn sie glücklich sein wollen, nicht unpünktlich zu Tisch kommen dürfen, ist eine der obersten Regeln, die ich gewiß –«

»Seit wann bist du Ehemann?« unterbrach Fräulein Eli die allzuwohl vorbereitete Einleitung.

»Die Unpünktlichkeit, Liebling, ist kein weibliches Privilegium –«

»Sondern ein männliches!«

»Sondern eine weibliche Charaktereigenschaft, die als solche zu respektieren ist. Die Seele eines pedantischen Weibes trägt einen Vollbart. Eine pünktliche Frau ist eine Blume, die den Blütenkelch von acht bis zwölf und drei bis sechs Uhr öffnet, wie eine Zigarrenhandlung den Laden. Beim Mann dagegen ist Unpünktlichkeit ein Zeichen starker Individualität.«

Sehr viel Verständnis schien Eli dieser, was die Pedanterie betrifft, sehr männlichen Darlegung, nicht entgegen zu bringen. Sie schwieg noch immer.

»Ich war heute nicht im Krankenhaus,« fuhr der Doktor fort, »sondern wo? In welcher Erdgegend meinst du wohl, daß ich heute gewesen bin? Das wirst du nie erraten: ich war auf den großen Antillen!«

»Antennen heißt es doch! In deinem Alter solltest du solche gefährlichen Sachen bleibenlassen!«

»Alter? Unerhört! Ein junger Mann wie ich! Ich hoffe solche Lügen von dir nicht mehr hören zu müssen. Im übrigen sind die Antillen eine Inselgruppe, die Westindien heißt und östlich von Mexiko liegt. Das war nämlich so –«

In großen und kleinen Zügen erzählte er den Hergang seiner Begegnung. Das Fräulein hörte zwar zu, wenn auch mit einiger Skepsis und ohne gebührendes Interesse. Sie warf zwar manchmal eine Frage ein, aber es war nicht die Anteilnahme an den Angelegenheiten des Doktors wie sonst. Ihr Verständnis für diesen einigermaßen nichtswürdigen Gegenstand war kein überwältigendes. Übrigens besorgte sie auch, bei der Vorliebe Mendones für seltsame Menschengestalten, denen er seine hilfreiche Mildherzigkeit zuteil werden ließ, er könnte dabei alles mögliche unwürdige Gesindel unterstützen, und fühlte sich verpflichtet, dieses Gebiet seiner Tätigkeit kritisch prüfend zu überwachen.

»Jazuma nennt sich der Mensch!« schloß der Doktor seine Erzählung. »Ich möchte gern wissen, was dieser Name bedeutet oder was er mit ihm sagen will. Es gibt einen Yapura, mit Ypsilon geschrieben, ein Nebenfluß des Amazonas. Wenn ich nicht irre, heißt der Amazonas in der Eingeborenensprache Yasumi. Aber der Mann sieht nicht aus wie ein Indianer. Ein merkwürdiger, fakirartiger Mensch, der potenzierte Europäer, der aber woanders hinaus will. In Asien gibt es solche Pilger massenhaft. Bei uns wirkt so etwas deplaziert und verrückt und außerdem sehr unerwünscht. Man fürchtet, so einer könnte das Geschäft stören. Das Frappante an ihm ist, daß seine Gedanken nicht aus Büchern stammen; sie sind durchaus selbständig. Und dann dieser groteske Aufzug, du hättest bloß diese dünnen Beine sehen sollen! Dieses Elend! Man kann es nicht schildern. Dabei ist der Mensch seelenvergnügt. Mein Mitleid nimmt bei so etwas entsetzliche Dimensionen an!«

»Du hast überhaupt für alle Menschen mehr übrig als wie für mich!«

Er streichelte ihre Hand.

»Das weißt du wohl am besten, daß das nicht stimmt! Mich interessiert der Fall, sowohl menschlich als medizinisch –«

»Viel geraucht hast du auch wieder! Ich habe es gleich gerochen, wie du kamst!«

Befürchtete sie, daß der Doktor im Begriffe sein könnte, alte törichte Gewohnheiten wieder aufzunehmen, Unpünktlichkeit, übermäßiges Zigarettenrauchen, Nachtarbeit? Sie erhob sich.

»Bleib doch noch ein bißchen, Lump!« bat er.

»Ich habe keine Zeit, ich muß noch das ganze Geschirr waschen!«

Sie entschwand. Er blieb sitzen.

Es ist nicht das Zuspätkommen allein, dachte er. Habe ich mir irgendeine Vernachlässigung zuschulden kommen lassen? Ich wüßte nicht.

Er ging ins Studierzimmer und setzte sich, ein wenig resigniert, an seine Bücher.


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